Das Leben will sich verbrauchen. Helena Vogel hatte es verbraucht. Während sie auf ihrem Bett lag und ihren Blick ins Vergangene richtete, war sie sich sicher. Sie hatte alles erledigt. Nun war es bald so weit. Sie atmete tief ein und drückte ihren Rücken ins Laken. Die bunten Blumen auf ihrer Bettwäsche konnte sie fast riechen – Veilchen, Hyazinthen und Krokusse. Duft war das Leben der Blumen. Wonach hatte ihr Leben gerochen? 

Luftleerer Raum, der langsam Kontur gewinnt. Helena schwebt zurück. Nach und nach fühlt sie ihre Zehen ins warme Gras eintauchen. Die Wiese, auf der sie steht, ist der Epilog ihres Hauses. Wenn sie will, kann sie das Rauschen der Stille hören. Sie ist an ihrem Zufluchtsort – einem Ort, der die Rettung ins Gute verspricht: die Summe aller Welterfahrung, Helles und Dunkles. Hier hatte sie Sternenstunden verbracht. Hier war sie Teil eines Ganzen gewesen: Familie, Freunde, Natur und das eigene Selbst. Aber neben den Sternenstunden standen auch Begrenzung, Verzweiflung und Abschied auf ihrem Türschild.  

Helena hatte in ihrem Leben gekämpft – mal verloren, aber auch oft genug gewonnen. Zwischen Sieg und Niederlage hatte sie ihre Aufgaben und Prüfungen absolviert. Bis Mitte dreißig hatte sie nahezu unbeschwert gelebt. Sie schwebte freudig, erwartungsvoll und zuversichtlich durchs Leben. Ihre Seele tunkte sie in die unterschiedlichsten Pastelltöne. Sie könne wie ein Chamäleon die Farbe wechseln, behauptete ihr Mann. Hellblau stand für ihre Klarheit und ihren Wissensdurst, Lila für den Sinn für alles Schöne und Besondere auf der Erde, Rosa für die Verbundenheit mit Menschen und Tieren, Hellgrün für die Liebe zum Wald und zu den Pflanzen. Doch in ihrem Leben war es auf einmal schwarz geworden. Und dieses Schwarz hatte sich viele Jahre wie ein Schatten auf ihre bunte Welt gelegt. Schwarz waren die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, und der Schmerz. Das Schwierigste im Leben war, sich selbst zu verzeihen, das wusste Helena nun. Mit ihren 76 Jahren hatte sie sich und das Leben gut studiert; sie war eine Lebenswissenschaftlerin geworden, eine Anthropologin ihrer selbst.

Schuld ist eine schwarze Katze, glaubte Helena. Sie schaut uns mit großen vorwurfsvollen Augen an. Schaute Helena nach links, konnte sie die Schuld für kurze Zeit vergessen. Doch auch wenn sie nach vorn blickte, sah sie sie noch im Augenwinkel dort sitzen. Dann brach die Nacht über sie herein, und Helenas Kopf neigte sich nach rechts. Große grüne Augen fixierten sie. Die Schuld hatte sie im Visier und war angriffslustig. Sie blieb über vierzig Jahre die dunkle Begleiterin ihres Lebens. 

Helena war noch sehr jung, Mitte dreißig, als die schwarze Katze in ihr Leben trat. Es war ein sonniger Tag gewesen damals. Die Luft war rau gewesen, und mit jedem Ausatmen stieß sie eine Wolke ihrer inneren Wärme in die kalte Welt. Veilchen, Hyazinthen und Krokusse schliefen noch unterm Schnee. Mirko hatte sich Robin, ihren vierjährigen Sohn, auf den Rücken geschnallt, sie wollten wandern gehen. Helena war nach wie vor verliebt in ihren Mann und Robin war ihr Rohdiamant. Sie liebte ihn von ganzem Herzen und wollte ihren kleinen Schatz mit stetigem Polieren zum Glänzen bringen. Dankbar war sie für diese Aufgabe, die über ihre eigene Existenz hinausweisen sollte. Robin hatte ihrem Leben noch einmal eine neue Perspektive eröffnet. Doch diese neue Perspektive sollte an jenem Tag zum tiefen Schlund in ihrem Leben werden. Sie sprach eine falsche Empfehlung aus. Sie passte nicht auf. Sie handelte fahrlässig. Die schwarze Katze holte an jenem Tag ihren Sohn. 

Wie ein Film zog das Geschehen immer noch an ihrem inneren Auge vorbei. Robin hatte eine Flasche Apfelschorle auf der Hütte getrunken, und nach nur zehn Minuten quengelte er, er müsse Pipi machen. Helena war genervt. Sie schnallte Robin vom Rücken seines Vaters ab und sagte ungeduldig: „Geh dort hinter dem Busch Pipi machen.“ Robin zögerte, doch er gehorchte. Mit seinen Kinderfüßen stapfte er durch den Schnee und hinterließ kleine Spuren. Mirko sagte noch zu Helena, dass er lieber mit Robin zurück zur Hütte gelaufen wäre, als ihn bei Minusgraden in den Schnee zu schicken. Aber Helena hatte nur mit der Zunge geschnalzt und mit einem amüsierten Schmunzeln die Augen verdreht. Und dann geschah es. Es geschah so leise, so gemein schleichend und unvorhersehbar, dass es Helena noch heute am ganzen Leib zittert lässt. Ein kurzes Knicken eines Astes, ein Geräusch wie eine Schlittenfahrt. Helena folgte Mirkos verzweifelten Blick und sah, wie Robin mit nacktem Hintern den steilen Abhang hinunterrutschte, die bunte Schneehose hatte sich um die Beine gewickelt, den Ast hielt er in seiner Hand. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Mirko rannte los. Doch Helena hörte Sekunden später den dumpfen Aufprall. Ihr Mann begann zu schreien. Wie ein Tier. Sein Schreien durchdrang den gesamten Wald. Spaziergänger kamen herbeigeeilt. Ein Hubschrauber kreiste Minuten später über ihnen. Viele Menschen um sie. Kein Robin. Nie mehr. 

Schwarz. Monatelang. Sehnsucht nach Dunkelheit. Monatelang. Kein Lichtspiel. Nichts. Sie war eine Patientin ohne Krankheit. Das Loch in ihrem Herzen, aus dem das Blut strömte, war für kein Untersuchungsgerät sichtbar. Dieses Schwarz war nichts Fassbares. Monatelang. Ein Sog ins schwarze Nichts. Mirko gab in seinem Schmerz zunächst Helena die Schuld. Er konnte sie in den ersten Tagen kaum anschauen, geschweige denn berühren. Es ist nicht richtig, wenn Eltern ihre Kinder zu Grabe tragen müssen. Es macht keinen Sinn. Es ist wider die Natur. Auch Mirko fiel nach jenem Tag in einen Zustand von Lebensabstinenz. Doch er war zuvor ein pragmatischer Optimist gewesen. Er schwebte auch in guten Zeiten nie durchs Leben so wie Helena, sondern behielt lieber die Füße fest am Boden. Nun war er ein gebrochener Optimist: ein Realist. Er schaffte es zuerst hinaus aus dem schwarzen Loch. Und er bot Helena die Hand an. Er versicherte ihr immer wieder, es sei ein schrecklicher Unfall gewesen, an dem sie keine Schuld trage. Helena wollte davon lange nichts hören. Die schwarze Katze war ständig und überall. Ihr Sohn erschien ihr nachts wie am helllichten Tage. 

Doch dann, nach und nach, wurde sie Grautöne gewahr. Später mischten sich für Sekunden gewohnte Pastelltöne hinzu. Es dauerte Jahre, bis sie sich mit Mirko wieder dem Leben, den Lebenden, der Schönheit, dem Wissen, der Natur widmen konnte. Eines Tages begann sie wieder durchs Leben zu schweben, nur tiefer als zuvor, nur ohne Geländer. Robin sah sie weiter an allen Lebensrändern. Er war ihr Sternenkind geworden. 

Damals wie heute weiß Helena: Egal was passiert, sie möchte keine Leerstelle sein. Sie möchte Selbstwirksamkeit erfahren. Sie möchte sich verwenden, um Gutes in Bewegung zu setzen. Sie möchte ihr Licht ins Dunkle werfen. Sie möchte durch Analyse Dinge sichtbar machen. Sie möchte Existenzen erhellen und sie zum Leuchten bringen. Auch wenn diese Existenzen nicht ihr Sohn sind. Sich mit anderen außer ihrer Familie gemein zu machen, das war die Aufgabe, an der sie wachsen musste. Schließlich bekam sie noch eine Tochter, etwa fünf Jahre nach Robins Tod. Doreen kam an einem warmen Frühlingstag zur Welt. Im Garten blühten die Hyazinthen, Veilchen und Krokusse. Das Haus und der Garten füllten sich wieder mit Familienleben, an dem aber auch die Freunde und Bekannten ihren festen Platz behielten. 

Die schwarze Katze ist bis heute Helenas Begleiterin. Das schwierigste im Leben ist für Helena, sich selbst zu vergeben. Doch die schwarze Katze verlor mit den Jahren ihre Angriffslust und wurde zutraulicher. Helena lernte, sie zu füttern. Sie akzeptierte ihre Mitschuld, wenn man das so nennen kann. Wie kann man das nennen? Es war ein Unfall gewesen. 

Das war damals. Es ist nun schon 40 Jahre her. Helena schöpfte ihr Leben dennoch aus: Sie forschte, sie liebte, sie kümmerte sich, verlor sich, trieb an, verausgabte sich. Sie verabschiedete weitere Menschen aus ihrem Leben, sie gewann neue hinzu. Und das alles machte sie in der ihr ganz eigenen Bewusstheit. Helena analysierte gerne, sezierte die Dinge um sie herum und setze neu zusammen – ein ganzes Leben lang. Sie erkannte sich selbst. Helena wusste, sie war eine Existentialistin. 

Jetzt fiel es ihr wieder ein, was sie noch unbedingt machen musste. Sie musste noch schreiben, ihr Buch beenden. Ihre Geschichte. Helena konnte jetzt nicht gehen, auch wenn die Blumen in ihrer Bettdecke so gut rochen. Sie wusste zwar, sie war nicht der Mittelpunkt der Welt, aber sie konnte nichts anderes in diesem Augenblick verlangen, als erst mit dem Universum unterzugehen. Weg mit der Decke! Sie raffte sich auf und stellte die Füße auf die kalten Fließen. Nein, heute war kein Tag zum Sterben und ein Hospiz ist kein Gefängnis. Sie begann zu schreiben.