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21. Dezember 2019  |  Von Jutta In Wiederentdeckungen

Weihnachtworte (4)

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Die 10er Jahre

Und da war Weihnachten wieder, und es war der Geist der gegenwärtigen Weihnacht. Dem Kindergottesdienst war die Familie lang entwachsen, wahrscheinlich führten sie immer noch Krippenspiele auf, und man hoffte, dass der heilige Text vielleicht doch noch eine Rolle dabei spielte; aber wahrscheinlich wurde er nun gerappt, oder das Christkind bekam einen Facebook-Account zur Geburt von den Hirten, die heldenhaft für freies Internet auf ihrem Acker gekämpft hatten, und der Engel war ein multikultureller Bote aus dem Jenseits, aber keinesfalls mehr ein christliches Symbol einer höheren Himmelshierarchie, und er twitterte: #Heilandgeborencooldude! Und wieder saßen wir, zwischen immer noch erstaunlich großen, aber wahrscheinlich inzwischen durch Patchwork zusammengehaltenen Familien in modischen Wintermänteln auf immer noch harten, aber inzwischen geheizten Holzbänken; die Lieder bekam man nun auf kopierten Zetteln, aber die meisten kannten sowieso außer „O du fröhliche“ gar kein Weihnachtslied mehr. Es war das Jahr gewesen, in dem das Elend der Welt nach Europa kam; von Flüchtlingen und von nichts anderem hatten die Medien gesprochen in den letzten Wochen und Monaten. Das war zweifellos der Geist der gegenwärtigen Weihnacht, und wir alle fürchteten uns ein wenig vor der Predigt. Die Hirtenvariante würde uns zwar hoffentlich erspart bleiben, weil die Hirten keine Flüchtlinge waren, sondern höchstens Nomaden, aber sicher konnte man sich nicht sein, wer achtete schon auf solche Feinheiten der Überlieferung? Hingegen war eine Predigt über die drei Weisen aus dem Morgenlande ganz sicher nicht zu erwarten – ein allzu kolonial wirkender Gestus, zweifellos, mit dem hier kostbare und völlig unnütze Geschenke von herablassenden Überprivilegierten überreicht wurden, und selbst wenn der eine von ihnen wirklich ein Farbiger war, würde das diesen Teil der Geschichte nicht mehr retten. Es war also, aus gegebenem Anlass, ganz sicher eine Flüchtlingspredigt zu erwarten.

Dass es dann anders kam, war ein kleines Weihnachtswunder. Denn der Pastor, mittleren Alters wie wir, erzählte uns eine ganz andere Geschichte. Sie handelte von einem Ehepaar im Nachkriegsdeutschland – einen Moment zuckte man zusammen, sollte es jetzt gar eine Predigt zum Dritten Reich geben? –, aber die Geschichte nahm gleich zu Beginn eine unerwartete Wendung: Beide Eheleute waren bettelarm, das Land lag in Trümmern darnieder. Doch beide hatten, durchaus verständlich, Wünsche für Weihnachten: keine moralischen, keine sentimentalen, sondern durchaus handgreifliche Herzenswünsche – denn so ist der Mensch, die Welt liegt in Scherben um ihn herum, aber gerade deshalb hilft ein kleines funkelndes Etwas, auf das man seine Gedanken richten kann, ohne dass sie wehtun, und an dessen Schönheit man sich einen Moment, und dann immer wieder, erfreuen kann! Was die beiden sich genau wünschten, und wie sie sich dabei gegenseitig missverstanden und am Ende doch wieder verstanden, ist unwichtig und längst vergessen. Was aber den Geist dieser gegenwärtigen Weihnacht unvergesslich und unerwartet prägte, das war der Pastor, der, ganz ohne Lämmleins Beistand, eine Predigt über die Wohltaten des Schenkens hielt – des durchaus materialistischen Sich-Beschenkens mit Dingen! Denn das verteidigte er nun, gar nicht pastoral-pathetisch, sondern mit echtem Ernst in der Stimme, gegen die wohlfeilen Formeln der Konsumkritik – Wir haben doch schon alles! Wir können uns doch selbst kaufen, was wir uns wünschen! Ist es nicht der Geist der Weihnacht, der zählt? Weil es nämlich wichtig sei, darüber nachzudenken, was ein Anderer sich wünschen könnte. Weil Geschenke, egal ob sie gelingen oder nicht, nicht ein leerer Tauschvorgang, sondern eine Besinnung aufeinander seien: Nicht, „weil ich es mir wert bin“ (dem Mantra des egoistischen alltäglichen Konsumrausches), sondern weil ein Anderer es mir wert ist. Menschen brauchen Dinge, könnte er gesagt haben, Symbole, selbst wenn sie schon alles haben; sie brauchen etwas, was man mit sich tragen kann und immer wieder einmal anschauen, wie das freundliche Lämmchen rechts unten, und dabei denken: Das habe ich geschenkt bekommen. Jemand hat an mich gedacht und dann auch gehandelt, nicht nur salbungsvoll von Beziehungen oder gar von Liebe geredet, dem am meisten missbrauchten Wort der Welt. Das ist ein schönes Gefühl, und man wünscht es jedem, Engeln und Hirten, Königen und Flüchtlingen gleichermaßen. Bei „O du fröhliche“ wurden dann die Lichter gelöscht, die inzwischen elektrischen Kerzen flackerten tapfer und gleichmäßig. Wir drückten dem Pastor besonders herzlich die Hand beim Hinausgehen; er sah etwas müde aus und nicht ganz gesund.

Der Geist der zukünftigen Weihnacht

Und Weihnachten wird wieder kommen, und dass der Geist der zukünftigen Weihnacht Frieden auf Erden sein sollte, wer wollte es nicht wünschen! Dass dieser Wunsch so bald nicht erfüllt werden wird, wissen nicht nur die Hirten auf dem Felde, sondern vor allem die Könige der Welt. Und es steht auch zu befürchten, dass bald gar niemand mehr mitsingt bei „O du Fröhliche“ – weil die „himmlischen Heere“ als zu militaristisch enttarnt wurden; oder weil keiner mehr weiß, was das komplizierte und viel zu lange Wort „gnadenbringend“ bedeuten soll; oder ganz einfach, weil noch nicht einmal mehr dieser einfache Text im Gedächtnis geblieben ist, und wenn das Licht gelöscht ist, kann man nichts mehr sehen auf den kopierten Zetteln, außer der fettgedruckten Aufforderung, sie ordnungsgemäß zu recyclen. (Handys sind auszuschalten!) Und deshalb gehe jede und jeder einher, alle Weihnacht wieder, nehme sein Herzenslämmchen zur Brust und besorge all seinen Liebsten die Geschenke, die sie verdient haben, selbst wenn sie sie im Einzelfall nicht verdient haben mögen; und dann lese man die Schrift.  

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