Klassiker und Schullektüre

Lessing als Dramatiker. Eine neue Sicht

Er war kein Dichter. Er konnte es nicht oft genug sagen, aber wie immer hörte keiner ordentlich zu. Er, der Erfinder des deutschen bürgerlichen Trauerspiels, einer der wenigen Heroen der Aufklärung in Deutschland, der Verfasser des Nathan, dieser Bibel der religiösen Toleranz – er sollte kein Dichter sein? Na gut, er war vielleicht keines dieser neuen jungen Genies, wie sie seit neuestem überall aus dem eher kargen deutschen Dichterboden sprossen, frühreif wie zu schnell in die Höhe geschossener Spargel oder gefährlich für die Verdauung, wie der früh und reichlich wachsende Rhabarber. Aber wenn Lessing, der große Lessing nun schreibt, er müsse alles in sich „durch Druckwerk und Röhren“ (Quellenangabe) aus sich selbst heraufpressen, seine Gefühle an fremden Feuern wärmen und sein Dichterauge durch Brillen schärfen – war das alles nicht ein wenig seltsam, nun ja, technisch gedacht? Ganz genau, hätte Lessing gesagt, genau so! Er war ein Techniker des Dramas, ein Mechaniker der Seelenregungen, ein Klempner, der verstopfte Triebleitungen öffnete, damit die Mitleidstränen endlich ungestört fließen konnte, und oh, wie flossen sie im Theater (sogar bei Männern), vor der Bühne, aber auch bei der häuslichen Lektüre!

Denn mit dem Theater, seinen Tücken und seinen Triumphen kannte Lessing sich aus, besser als die meisten Dramatiker seiner und auch späterer Zeiten (Bertolt Brecht vielleicht ausgenommen). In Hamburg hatten sich damals ein paar ambitionierte und kulturbegeisterte Privatleute zusammengetan: Sollte es hier, in der reichen Bürgerstadt Hamburg, nicht möglich sein, ein stehendes Theater zu schaffen, ein Haus mit Niveau, das sich abhob von den fahrenden Wandertheatern mit ihrem allzu bunten Programm für die Massen? Konnte man nicht einen der Besten anheuern, damit er ein Theater einrichtete, das mit den fürstlichen Bühnen konkurrieren konnte, aber nicht die Haupt- und Staatsaktionen zeigte, das große Märtyrerdrama, die Opera seria, das Ballett? Wäre es nicht genau das, was man brauchte, um Deutschland als Kulturnation endlich auf der europäischen Bühne zu verankern: ein deutsches Nationaltheater, mit eigenen Stücken und einem eigenen – Dramaturgen? Und so wurde Lessing Dramaturg in Hamburg, eine Stellung mit im Übrigen relativ unklarer Stellenbeschreibung, schon ihrer Neuheit wegen; er hatte aber auch keine hohen Erwartungen. Das Unternehmen scheitert natürlich, relativ schnell sogar; aber Lessing bringt immerhin über ein Jahr hinweg seine Gedanken zum Drama im Allgemeinen, zur Aufführungspraxis, zur Schauspielerei, zu konkreten Stücken und Inszenierungen, zunehmend aber vor allem: zur Aristotelischen Poetik zu Papier, dem Grund- und Hauptbuch der abendländischen Theatergeschichte.

Lessing wäre aber nicht Lessing, wenn er aus Aristoteles nicht – Lessing machen würde. Dabei verwischt er mit eleganter Hand die durchaus existierenden psychologischen, historischen, mentalitätsgeschichtlichen, geistigen Unterschiede zwischen der Blütezeit der griechischen Antike und der Aufklärung der Neuzeit und macht aus der medizinisch inspirierten Psychohygiene der griechischen polis (einer Kleinstadt, letztlich, wenn auch mit einer hochgebildeten Bildungselite, in kriegerischen Zeiten) eine Art weichgespülte Gefühlsreinigung für den deutschen Mittelstand in der kulturellen Provinz Deutschland: Natürlich müsse, da sei man sich ganz einig mit Aristoteles, das Drama Leidenschaften erregen, das ist sein einziger Seinsgrund, und vielleicht kann man sogar noch sagen (da streitet er aber schon mit seinen Freunden ein wenig): je mehr Leidenschaften, desto besser! Damit aber, und das unterstellt Lessing mehr als dass er es klar formuliert, handelt man sich ein aufklärerisches Kardinalproblem ein: Denn sind nicht gerade die ungezügelten Leidenschaften, die nicht zivilisierten Antriebe und Begehrungen des Menschen, das, was in ihm Will und Muss, dasjenige, was man mit den Mitteln der Vernunft und der Kritik – nun ja, vielleicht nicht besiegen, aber doch: zügeln, zugänglich machen, entwaffnen wollte? Denn der Leidenschaftliche ist immer verblendet, seine Triebe übertönen die Vernunft, sowieso ein eher schwaches Stimmchen; sie reißen dem Menschen die Zügel aus der Hand, sie machen ihn zum passiven Opfer seiner Bedürfnisse, sie führen ihn immer dorthin, wo er nicht hinsoll und wo die Gefahr und der Fall auf ihn warten. Erregt also ein Trauerspiel, virtuos, mechanisch klug, gemeingefährlich gut diese Leidenschaften – wird es zum Aufklärungsrisiko.

Aber Lessing hat schon den Schutzschild parat. Entwickelt hat er ihn im Briefwechsel mit den Freunden Nicolai und Mendelssohn, im Gespräch, wie es sich für einen Aufklärer gehört (und doch, ist es ein Gespräch, wenn man ganz ehrlich schaut? Man klärt sich selbst auf, ganz sicherlich, aber keiner der drei weicht im Endergebnis auch nur einen Deut von seiner Position; und vielleicht ist das auch schon das Beste, was man von Aufklärung erwarten kann: Selbstaufklärung?). Es ist eigentlich eher ein Antivirus, er wird injiziert bei jeder Aufführung eines bürgerlichen Trauerspiels nach Lessings neuem dramaturgischen Programm, und er heißt: Mitleid. Denn, so wird Lessing nicht müde zu wiederholen: Der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch! Mitleid, das ist die einzige Leidenschaft, die sich nicht erschöpft, die uns von uns selbst weg- statt auf uns selbst hinzieht; Mitleid, die einzige Passion, die Menschen aller Arten, Rassen, Geschlechter verbindet; Mitleid, das uns automatisch ergreift, wenn wir einen Bettler sehen und nach unserer Brieftasche tasten, noch stärker aber, wenn wir die traurige Geschichte des Bettlers hören, wie er unverschuldet ins Elend kam, ein Opfer dunkler Schicksalsmächte, die über uns alle walten, und vielleicht besonders über dem besonders Verdienstvollen. Mitleid, das uns weinen lässt, aber eigentlich ein gemischtes Gefühl ist: Wir fühlen Trauer mit dem Schicksal, aber gleichzeitig eine gewisse Erhebung darüber – können wir es nicht besiegen, gemeinsam, das dunkle Schicksal? Ist nicht im mitfühlenden Menschen der mitleidende Gott mitgedacht?

So hat es sich Lessing jedenfalls vorgestellt, und er lag damit ganz im empfindsamen Zeittrend, obwohl er doch angeblich nur dachte und mechanische Kunstwerke schuf. Aber seien wir ein wenig aufklärerisch, fragen wir nach (und nicht hinter; das ist bei Lessing nicht nötig, er versteckt sich niemals), üben wir Kritik, und sei es nur zur Selbstaufklärung: Funktioniert das denn wirklich so automatisch und universell mit dem Mitleid? Werden wir wirklich zu besseren Menschen dadurch, dass wir ein wenig weinen im Theater, dem etwas unangenehm riechenden Bettler vor der Oper einen Obolus gönnerhaft in die Hand drücken und dann in unsere Wohlstandsburgen zurückfahren? Ist Mitleid, ein wenig polemisch formuliert im Sinne Lessings, nicht nur ein – Entlastungsventil zur Erleichterung des Gewissens, mit schwachen realen Folgekosten? Ach, Mitleid, wenn es doch so einfach wäre. Aber vielleicht war Lessing ja doch klüger? Denn hatte er nicht eigentlich gefordert, vor allem die – heute würden wir zweifellos sagen: Mitleidskompetenz zu stärken, er sagte: die Fähigkeit und Fertigkeit, Mitleid zu empfinden? War es vielleicht gar nicht die noble Spende, auf die es ihm ankam, sondern eine –momentane Selbstdistanzierung, eine Besinnung auf unsere gemeinsamen Wurzeln und Schicksale als Mensch? Ist der mitleidigste Mensch vielleicht nur derjenige, der – gar nicht gefühlig, gar nicht „empfindsam“ potenziert – realisiert, dass die Menschheit eine Familie ist, inklusive der buckligen Verwandtschaft, der schwarzen Schafe, der Glücksspieler und entlaufenen Theologiestudenten, und dass man seiner Familie doch nie entkommt? Ist Mitleid vielleicht gar kein Gefühl, sondern eine große Vernunft?

Außerdem war es sowieso alles nur Theorie. Als Lessing dann endlich sein ultimatives bürgerliches Trauerspiel, einen Renner seit seiner Erstaufführung bis heute, fertiggestellt hat, die Emilia Galotti, da sieht die Sache schon ein wenig anders aus. Abgesehen davon, dass bemerkenswert wenig Bürger vorkommen in diesem Trauerspiel; auch abgesehen davon, dass der Prinz selbst ein ziemlich entschiedener Vertreter bürgerlicher Werte ist, in der Theorie jedenfalls und solange man nicht von schönen Frauen in Versuchung geführt wird; abgesehen davon, dass die böse Rachefurie Orsina gleichzeitig eine denkende Frau ist, während die tugendhafte Emilia als ziemlich tumbe Naive vom Lande daherkommt; abgesehen davon, dass der zukünftige Ehegatten Appiani am Tag seiner Hochzeit eher depressiv als feierlich überkommt; noch weiter abgesehen davon, dass der Tugendhafteste von allen, der Vater Odoardo, am Ende sich in den Mord an seiner Tochter geradezu hineinreden lässt – ach, man könnte noch ewig weitermachen, aber eines ist klar: In diesem angeblich „doch nur gedachten“ Stück geht nichts auf, rein gar nichts. Mitleid, man weiß gar nicht, mit wem man zuerst und zuletzt Mitleid haben soll! Oder haben sie es nicht doch alle verdient, alle miteinander, vor allem aber die Tugendrigoristen und Nichts-oder-Alles-Denker? Einzig die Mutter, Claudia, die unauffälligste Gestalt im ganzen Stück, bewahrt einigermaßen die Nerven: Aber Kinder, so sagt sie mehr oder weniger, das Eine tun und das Andere nicht lassen! Aber natürlich, sie möchte ihre Tochter gern gut verheiraten und bei Hofe reüssieren; das jedoch ist im Reigen der selbstverschuldeten Fehler noch so ziemlich der mildeste. Oder Marinelli, der Intrigant, wie er im Buche der großen Tragödie steht, skrupellos, geschickt, manipulativ – aber am Ende doch nur eine Spielfigur in den Händen der Mächtigen, der sich für sie die Finger schmutzig machen muss; am Ende, nein, kann es denn sein?, verspürt man nicht nur ein wenig Mitleid mit der Rachefurie und denkenden Frau Orsina, sondern auch mit der Schlange Marinelli! Mitleid, es hat in diesem Stück so viele Abstufungen und Varianten, dass man kaum noch sieht, wie sie in ein einziges, und ganz sicherlich ziemlich gemischtes, Gefühl passen sollten! Und war das, der Verdacht schleicht sich immerhin nach der wiederholten und noch einmal wiederholten Lektüre des Klassikers ein, vielleicht gerade der Trick des Bühnenmechanikers Lessing? Es ist schließlich kein besonderes Kunststück, Mitleid mit einem Vater zu haben, der seine Tochter aus einer (gefühlten) moralischen Extremsituation heraus umbringt; oder Mitleid mit einer jungen Frau, die ihr Lebensglück von einem Augenblick zum anderen verliert und sich einer ungewissen Zukunft gegenüber sieht, in der nichts weniger als ihr zutiefst religiös begründetes Seelenheil auf dem Spiel steht? Aber Mitleid mit einem Intriganten, einer Rachefurie, einer allzu ambitionierten Mutter; das erfordert schon ein wenig mehr Gefühlskompetenz (oder doch nur eine große und gleichzeitig demütige Vernunft?)!

Es ist zudem bemerkenswert, wie wenig Lessing auch in diesem Glanzstück selbst zu sehen ist. Ein wenig mag er sich in Conti verstecken, dem Maler, der sein eigentliches Kunstwerk als eine Art Liebeszauber verkannt sieht; ein wenig im alten Rat Rota, der dem Prinz das Todesurteil zur Unterschrift vorenthalten will – übereilt euch nicht, das ist die Botschaft, handelt nicht immer aus dem Impuls heraus, denkt ein wenig mehr, auch wenn es schöner ist, sich in Mitleid zu ergehen oder in moralischer Selbstgefälligkeit. Dann aber, am Ende, kommt Nathan, der Weise; kein bürgerliches Trauerspiel mehr, überhaupt eine ganz neue und ganz eigene Gattung von Drama, vielleicht sogar: ein Lehrstück, im allerbesten aufklärerischen Sinne (nämlich dem, dass die Suche nach der Wahrheit das Entscheidende ist, und nicht ihre politisch korrekte Formulierung oder ihre Zementierung als „Anspruch“ und „Grundrecht“!). Die Ringparabel ist so oft interpretiert worden, dass sie schließlich ganz in Deutungsnebel zu verschwinden droht. Dabei ist ihre Moral relativ einfach und handgreiflich – die Wahrheit wird niemals besessen, sie wird noch nicht einmal deutlich erkannt, und vor allem nicht von den Religionen; aber vielleicht braucht man sogar die Religionen, wenn sie nämlich das tun, was der Ring vor allem tun sollte: zum Handeln motivieren (möglichst: zum guten, natürlich). Der Worte sind genug gewechselt, der Deutungen übergenug. Und man meint nun doch ein wenig vom alternden Lessing in Nathan zu sehen, dem weisen Juden, dem nicht ein Kind gestorben ist: nein, sieben Söhne sind ihm getötet werden, gemordet von Christen; und es kommt gar nicht auf die Übertreibung an, sie ist ein Märchenmotiv, ein Bibelmotiv mehr, sondern auf Nathans Handeln, nämlich: die Adoption eines Christenkindes, zudem: ein Mädchen. Was es ihn gekostet hat, weiß er allein. Und nun gibt er auch noch dieses Mädchen her, und die Schlussszene mit der allgemeinen Wiedererkennung der verloren geglaubten Geschwister und der anstehenden Heirat und all dem großen Vereinigungsjubel – lässt Nathan allein da stehen. Saladin ist klug, seine Schwester einer der vielen überklugen und humorvollen Frauengestalten Lessings; aber Nathan ist weise, und niemand hat behauptet, seit Sokrates, dass Weisheit glücklich macht. Glück ist, wenn überhaupt, für die Klugen. Weisheit macht einsam; sie verleiht den Stolzen Demut, aber nicht Lebensglück. Und so wird sich Lessing verabschieden wie diejenige Figur, die vielleicht noch mehr von ihm hat als der weise Nathan, wie der Derwisch nämlich. Er hat lange genug den Mächtigen gedient, er hat ihre Launen finanziert und hat mit Nathan Schach gespielt, das Spiel der Könige; er ist ihnen sogar ein wenig auf den Leim gegangen, weil auch noch ein gutes Herz hat und ein wenig empfindsam ist. Aber am Ende verabschiedet der Derwisch sich in die Wüste, an den Ganges; nur dort kann er noch ein Mensch unter Menschen sein, in dem er „leicht und barfuß“ mit seinen Lehrern Schach spielt. Ein Aussteiger, das ist oft und zu Recht betont worden; aber einer, der am Ende seines Lebens, nicht als jugendlicher Idealist und Schwärmer, die Welt flieht: weil er sie kennt. Vielleicht wäre Lessing auch am Ganges nicht glücklich geworden; denn Wolfenbüttel war ein wenig wie der Ganges (aber hatte dann doch noch einen Hof). Vielleicht hätte er auch dort nicht aufgehört, mit dem Glück zu spielen und nicht nur mit Schachfiguren. Aber er war bei all seiner Weisheit klug genug einzusehen, dass das die einzig konsequente Alternative war. Der Rest war Druck- und Röhrenwerk: das ewige Provisorium des Menschlichen. 2″/>