(V) Avantgarde und Unverständlichkeit – die Hochliteratur koppelt sich ab
Im gesamten 19. Jahrhundert floriert die Unterhaltungsliteratur, sei es auf der Bühne, sei es im Roman. Da passt es gut, dass die Literaturtheorie der Zeit sich sowieso den „Realismus“ auf die Fahnen geschrieben hatte. Nachdem man die Weimarer Klassik, die Französische Revolution und die Philosophie des deutschen Idealismus von Fichte bis Hegel halbwegs überstanden hatte, hatte man eine gewisse Idealismus-Vergiftung, und die Wirklichkeit, die sich zudem in einem geradezu rasenden Tempo zu verändern begann, hatte einen ganzen neuen Glanz. Beinahe sah es so aus, als könnte die Einheit der Literatur – in einem gewissen Maße gerettet werden; so weit waren die sentimentalen Fortsetzungsgeschichten in den Familienzeitschriften dann doch nicht entfernt von der realistischen „Hochliteratur“ eines Gottfried Keller oder Theodor Storm, Balzacs Comédie Humaine gab ein genaueres Zeitbild, als es irgendein Historiker je geben könnte, und von Autoren wie Charles Dickens oder den neuen Detektivgeschichten Arthur Canon Doyles war die ganze Welt begeistert. Man hat das Gefühl, dass sich hier die Linien von E- und U ein letztes Mal annähern, sich vielleicht sogar ein wenig überschneiden – um dann, um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert hin, umso energischer wieder auseinanderzustreben: Die literarische Avantgarde bringt sich selbst zur Welt (sie hat natürlich keine Väter oder gar Mütter!), und sie setzt sich von Anfang an als Widerspruch – zur Popularität, zur Masse, zum leichten Konsum, zur affirmativen Unterhaltung, zum „Warencharakter der Kunst“, wie man bald sagen wird.
Avantgarde ist: Hochkultur als Kampfspitze! (daher kommt auch tatsächlich das Wort: Avantgarde, die Vorhut) Und sie setzte sich ab, mit komplizierten Manifesten, mit immer unverständlicheren Werken, mit einer prinzipiellen Absage an alle bisherigen ästhetischen Werte und Vorzüge! Schönheit, Wahrheit, Interessantheit – Pustekuchen! Die zurückgelassene U-Literatur, die nun auch endlich das Attribut des „Trivialen“ umgehängt bekam, rächte sich auf ihre subtile Weise: Sie wurde immer erfolgreicher, und daran konnten auch die mächtigsten Kritiker und die Flut an Literaturpreisen nichts ändern. Derweil wurden die sich ständig gegenseitig vorantreibenden Avantgarden von ihrer eigenen Dialektik eingeholt: Das ewig Neue hat keinen anderen Feind als – das noch Neuere von morgen und übermorgen. Der schönste Protest nützt sich in der Wiederholung ab, die ästhetische Provokation wird zum Standardmodell und der Tabubruch evoziert nur noch seinen eigenen Widerspruch (das letzte Tabu ist, keinen Tabubruch zu begehen). Irgendwann im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird man das Gefühl, dass die Avantgarde den Kontakt zur Truppe leider vollständig verloren hat, nicht mehr los: Die eigentlichen Schlachten werden schon lange woanders geschlagen, in den neuen Medien beispielsweise, und wer braucht noch ein Epos, wenn er DVD-Serienklassiker hat?
(VI) Wann ist trivial trivial? – von den Freuden des Kitsches
Aber immerhin ist der Hoch- und Avantgardeliteratur des 20. Jahrhunderts eines gründlich gelungen, nämlich die durchaus generalstabsmäßige Vernichtung ihrer Gegner durch die wirksamste aller Waffen: Propaganda! Trivial, von lat. trivialis, ist eigentlich nur das Gewöhnliche, das leicht Ersichtliche, das nicht-Komplizierte. Als solches hat es seinen eigenen Reiz – jedenfalls wenn man noch nicht mit dem Moderne-Virus identifiziert ist, für den das Leichte, Verständliche, Gewöhnliche immer das Bürgerliche, Schlechte, Philisterhafte (noch so ein Kampfbegriff, erfunden schon von den Romantikern!) und mit allen Mitteln zu Bekämpfende ist. Das Leichte wird jedoch durchaus geliebt vom Publikum; weshalb noch ein wenig mehr propagandistische Anstrengung nötig war und man das „Triviale“ mit dem dazu eigens erfundenen Vorwurf des „Kitsches“ paarte (die Wortherkunft ist völlig unklar, möglicherweise „kitschen“ wie Müll zusammenkehren, oder jiddisch verkitschen, jemand etwas andrehen), also der ultimativen Steigerung des Ästhetisch-Wertlosen. Trivialliteratur war eine Literatur, die nach festen Schemata funktionierte: Die Welt ist schwarz-weiß, die Guten siegen immer, es gibt ein Happy End; es herrschen schamlose Sentimentalität und hohles Pathos; es werden – und das ist der allerschlimmste Vorwurf für einen ordentlichen Avantgardisten! – die Erwartungen der Leser gnadenlos übererfüllt, und jeder weiß ganz genau, was ihn erwartet, wenn er einen Liebesroman oder ein Landserheftchen, einen Krimi oder einen Heimatroman, eine Vampirgeschichte oder einen Historienschmöker kauft. Niemand muss geistige Klimmzüge machen müssen, um solche Texte zu lesen; es schmökert sich halt so auf dem Sofa weg. Und wer gewinnt? Der kapitalistische Markt natürlich. Wir alle sind nur noch Lesevieh, manipulierbar, gefüttert mit wenig wertstoffhaltigem Kunstfutter, süchtig nach immer mehr erfüllten trivialen Leserträumen.
Offensichtlich ist die Welt der Kritiker der Trivialen jedoch mindestens ebenso schwarz-weiß gemalt wie die ihrer Opfer; mit nur leichter Verkehrung ist dann eben alles werthaltig, was kritisch, schwerverständlich, unerhört, enttabuisierend, irgendwie „gegen den Strom“, völlig klischeefern und – nun ja, anstrengend zu konsumieren ist. Ebenso leicht kann man sehen, dass die Diffamierung der Leser von Trivialliteratur ein Schutzreflex sich bedroht fühlender Eliten und Experten ist. Sie folgt dem beliebten „Wir-da-oben-Ihr-da-unten“-Muster und behandelt den anspruchslosen Leser als eine Art schwer erziehbares Lesekind, das partout nicht erwachsen werden will – und immer wieder liest es das Falsche, obwohl man es ihm doch schon so oft erklärt hat!
Zwischen diesen beiden Polen jedoch tummelt sich eine immer vielfältigere reale Lesewelt, die sich zwar häufig die „Unterhaltung“ auf ihre bunten Schutzumschläge geschrieben hat, aber damit durchaus nicht jeden Anspruch auf inneren Gehalt an der Bibliothekstheke abgibt. Intelligente Unterhaltung, so stellt sich heraus, könnte eine mittlere Lösung sein, die weder die Leserinnen unterschätzt noch die Autorinnen auf die Widerständigkeit als Pflichtübung verpflichtet. Eine gute Lektüre sollte einfach – manchmal sind die antiken Ideen halt doch die besten: aptum sein, dem eigenen Interesse, der jeweiligen Situation, den sich ändernden Vorlieben angepasst sein. Und manchmal macht man halt gern geistige Klimmzüge, und manchmal verkriecht man sich lieber auf dem Sofa.
(VII) Gibt es hohe und niedrige Gedichte? Und was ist mit dem Theater?
Im Übrigen ist es interessant, einmal einen Blick auf die anderen literarischen Großgattungen zu werfen, die von der Diskussion um E- und U seltsam unberührt scheinen: Was ist mit der Dramatik? Gibt es auch hohe und triviale Gedichte? Man sieht dann, dass deren Immunität gegen den Trivialitätsvorwurf durchaus unterschiedlich ausgeprägt ist und dass das auch verschiedene Gründe hat. Die Dramatik lebt, trotz aller stolzen Lesedramen der Literaturgeschichte, von der Aufführung: Sie wird sozusagen von Natur aus populär, indem sie in einem öffentlichen Raum inszeniert wird. Und trotz aller avantgardistischen Pirouetten des Regietheaters kann man vielen Stücken ihre Substanz nicht nehmen: Es stehen handelnde Menschen auf einer Bühne und sprechen zu denen, die beinahe auf gleicher Höhe mit ihnen sitzen. Natürlich gibt es Boulevard-Komödien, die „Bestseller“ des Theaterbetriebes; und natürlich war das Musiktheater schon immer große Show, weit vor der Erfindung des Musicals als eine Art Trivialisierung der Oper (die aber schon mit der Operette eingesetzt hatte). Aber die Grenzen neigen sehr dazu zu verschwimmen: Auch ein Klassiker der E-Literatur kann durch eine entsprechende Inszenierung entweder modernisiert oder durchaus auch trivialisiert werden; genauso kann umgekehrt eine entsprechende Inszenierung auch aus einer relativ platten Vorlage ein Theatererlebnis machen. Dramatik ist inszenierte Literatur, ist Sprache in Aktion – und dafür gelten teilweise durchaus andere Kriterien als für das stille Leseerlebnis der Romanlektüre.
Bei der Lyrik ist es eher anders herum: Sie ist ein noch stilleres Leseerlebnis (obwohl Gedichte eigentlich ja vorgelesen werden sollten, aber wer tut das schon?), und wer ein Gedicht zur Hand nimmt, dem geht es meistens nicht in erster Linie um leichte Unterhaltung (na gut, ein wenig Seelenstreicheln, vielleicht). Lyrikliebhaber sind sozusagen schon eine fortgeschrittene Klasse von Literaturliebhabern. Zwar mag es durchaus den einen oder die andere geben, die Gedichte vor allem ihres Ausdrucksgehaltes willen lesen (Liebesgedichte zum Beispiel), aber ohne jedes Ohr für die sprachliche Besonderheit, ohne ein minimal geschultes Sprachempfinden wird das auf die Dauer leerer Gefühlskitzel bleiben. Lyrik ist, auch von ihrer Geschichte her, Dichtung in Reinform, und nicht umsonst heißt das „Poesie“album so: Wenn sich schöne Literatur von anderen Formen des Sprechens und Schreibens unterscheidet, dann am reinsten und deutlichsten in der Art, wie sie mit ihrem Material, mit der Sprache umgeht: bewusst nämlich, gestaltend, ein wenig selbstverliebt und ein wenig verspielt. Natürlich gibt es einfachere und anspruchsvolle Gedichte; natürlich gibt gerade in der Lyrik avantgardistische, verwegene Experimente; und natürlich gibt es auf Popularität angelegte Formen wie das Lied oder die Ballade. Aber das sind, ganz wie in der Dramatik, Übergangsbereiche zu anderen Kunstformen; und wenn ein Schlager ein Ohrwurm wird, dann trägt die Musik mindestens genauso viel, wenn nicht mehr als der Text dazu bei. Lyrik als Dichtung jedoch – wohnt jenseits von E- und U, nämlich da, wo die Sprache noch ganz bei sich ist.
Nächste Woche kommt der letzte Teil!
(VIII) Der Mensch ist ein Wesen, das Geschichten erzählt, oder: der Blog am Ende des Lektüre-Universums
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