Zu Guineveres Glasfurds Roman Worte in meiner Hand
„Maison Descartes“ steht über der schlichten weißen Haustür. Beinahe hätte man es übersehen. Es ist keines der großen Prachthäuser mit ihren schwingenden Giebeln, eher schlicht wirkt es, geradlinig, rational. Und es steht auch nicht an einer der Grachten mit den großen Namen: Kaisergracht, Prinsengracht, Herrengracht – natürlich gibt es keine Damengracht in Amsterdam (und wahrscheinlich auch anderswo nicht; eine google-Recherche bringt hingegen das Ergebnis „Damentracht“, und viel kürzer kann man gender-Probleme nicht auf den Punkt bringen). Die Kanalstraßen spiegeln eine men’s world, die Welt des Handels, der Reisen in die Kolonien, der mächtigen Gilden und Bürgerwehren, wie sie Rembrandt gemalt hat, am bekanntesten in seiner Nachtwache: Die Männer sind unter sich, und nur eine kleine Frau darf zwischen den Beinen hindurchschauen, die Experten sind sich bis heute nicht sicher, ist es eine Marketenderin oder ein Art Truppen-Maskottchen? – was auch immer: Sie existiert weiter unten, auf einer anderen Ebene. Handel, Wasser, Macht, dazu eine Prise Toleranz und ein sanfter Geruch nach Hasch – das war schon immer in der Amsterdams DNA (so behauptet es zumindest die aufpolierte Ausstellung im Stadtmuseum, die auch ein paar mehr Fakten und etwas weniger Propaganda gebrauchen könnte). Der Philosoph René Descartes jedoch gehörte zweifellos dazu, zumindest in der kurzen Zeit, die er hier verweilte, hinter der weißen Tür: Nach einem wechselvollen Leben hatte er Ruhe zum Arbeiten gesucht und, tatsächlich, Toleranz gegenüber seinen katholisch nicht ganz stubenreinen Ideen zur philosophischen Methode. Und er hatte sie gefunden hinter der weißen Tür.
Das aber, was er suchte, war nichts Geringeres als sicheres Wissen: Methodisch gewonnenes und rational gehärtetes Wissen, nicht nur über die Welt und die Dinge in ihr, nein: natürlich auch über Gott, das größte aller Dinge, die Welten der Welten – denn bei allem Rationalismus, bei aller Bemühung, eine prima philosophia als Königin des Wissens zu inthronisieren, blieb Descartes ein gläubiger Mensch. Eigentlich hätte die geplante Hauptschrift, für die er sich ins tolerante Amsterdam zurückgezogen hatte, sogar ein Gottesbeweis werden sollte, der letzte, endgültige Gottesbeweis schlechthin; hinaus aber kam eine „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut und zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen“. Er schrieb den Discours nicht in gelehrtem Latein, sondern in französischer Sprache, und es wurde sein populärstes Buch. Das einzige überlieferte Porträt von Descartes, gemalt von Frans Hals, könnte man sich gut zwischen all den niederländischen alten Meistern im Rijksmuseum vorstellen, mit ihren gedeckten braunen Farben, die aus sich ihrer dunklen Tiefe heraus zu leuchten scheinen. Es zeigt einen nicht mehr jungen Mann, das Gesicht wird dominiert von einer beeindruckenden scharfen Nase zwischen den haarfein geschwungenen Augenbrauen und dem etwas stutzerhaft gepflegten Schnurr- und Spitzbärtlein. Aber aus den Augen blickt ihm ein verborgener Schalk, und der schmale Mund deutet eine leichte Skepsis an. Die einzige Extravaganz in der Kleidung ist der breite weiße Kragen, über dem sich die dunklen, schulterlangen Haare ringeln, ein wenig ungezähmt, ein wenig eigenwillig. Ist er wohl so gestanden, vor der weißen Tür in Amsterdam, eine Mischung aus Schalk und Skeptiker, Bürger und Stutzer, mit seinem Bediensteten und den vielen Büchern im Gepäck und auf der Suche nach Ruhe und Toleranz?
Aber in Amsterdam hat Descartes nicht nur Ruhe zum Arbeiten und eine Stimmung toleranter Bürgerlichkeit gefunden; er hat auch Helena gefunden. Hier mag auch sie gestanden sein, vor der weißen schlichten Tür: Helena Jans von der Strom, eine Magd mit einem etwas zu großen Namen. Nichts wüssten wir von ihr, rein gar nichts, wenn sie nicht Descartes ein Kind geboren hätte; es ist unter seinem Namen registriert, und wir müssen also nicht lange spekulieren über ihr Verhältnis. Sicher wissen wir allerdings von Helena nur, dass sie Descartes bei seinem Vermieter, dem Buchhändler Thomas Sergeant, kennenlernte, wo sie als Magd diente. Am 19. Juli 1635, kaum neun Monate nach Descartes‘ Ankunft, wird Francine geboren; wohl um die Geburt geheimzuhalten, ziehen Descartes und Helena danach nach Deventer aufs Land. Als das Mädchen heranwächst, plant Descartes, sie nach Frankreich zu seiner Familie zur Erziehung zu schicken. Francine stirbt jedoch, kaum fünfjährig, an einem Scharlachfieber (auch das Todesdatum ist überliefert, es ist der 7. September 1640). Auch ihre Mutter bleibt nicht bei Descartes; sie heiratet einen Gastwirt, und Descartes stattet sie mit einer großzügigen Summe für die Aussteuer aus. Danach verlieren sich ihre Spuren wieder; sie ist eine Nebendarstellerin, aber immerhin wissen wir ihren etwas zu großen Namen: Helena Jans von der Strom.
Wie es jedoch gewesen sein könnte, kann man nachlesen bei der englischen Autorin Guinevere Glasfurd: Worte in meiner Hand heißt ihr Roman, der die Geschichte Helenas aufnimmt und eine Art fiktionales Seitenstück zu Descartes‘ allseits bekannter Vita daraus macht. Glasfurd hat recherchiert, was zu recherchieren war – und dann hat sie erfunden, ein wenig Dichtung in die Wahrheit gebracht, wie es bekanntlich auch alle wahren Autobiographen machen, von Goethe an. „Worte in ihrer Hand“ – das Buch heißt so, weil es in ihm um Worte geht, um ihre bestreitbare Macht ebenso wie ihre unbestreitbaren Grenzen. Denn Glasfurd zeichnet Helena nicht als tumbe Dienstmagd; nein, es sind Briefe überliefert von Descartes an sie, Helena konnte also lesen, und das war nun wahrlich nicht die Regel bei holländischen Mägden im 17. Jahrhundert, auch nicht im reichen und weltläufigen Amsterdam. Vielleicht sehen wir Helena am besten, wenn wir die wunderbaren kleinen Bilder, die Jan Vermeer von den niederländischen Frauen seiner Zeit gemalt hat, überlagern. „Genreszenen“ nennt man das, es ist eine kleinformatige Alltagsmalerei, bei der auffällig häufig Frauen im Zentrum stehen. Im Amsterdamer Rijksmuseum hängen Vermeers Frauengenres gar nicht weit entfernt von Rembrandts monumentalen Männerbildern; und während diese ganze Säle mit ihrer massiven Gegenwart füllen, hängen Vermeers Genres in Nischen. Aber sie leuchten genauso wie Rembrandts Brauns aus sich selbst heraus, nein, sei leuchten farbenfroher, natürlicher, stärker! Vermeers Milchmagd ist das Realste, was man sich überhaupt vorstellen kann: Ihr gelbes Kleid, ihre blaue Schürze sind ein Fest für die Augen, die Kammer geradezu durchflutet vom schlichten Licht und Milch und Brot die Essenz von Milch und Brot überhaupt. Besonders häufig hat Vermeer, und das führt uns wieder zu Helena, aber lesende Frauen gemalt. Sie sind meist in einem eher bürgerlichen Ambiente angesiedelt, aber wenn wir für einen Moment einen kleinen Sprung machen, in unserer Phantasie, und dem Milchmädchen die Briefe in die Hand drücken, die die Bürgersfrauen lesen: Dann haben wir Helena, die Magd, mit den „Worten in ihrer Hand“!
Denn Helena hat bei Glasfurd erkannt, dass kein Weg am Lesenlernen vorbeigeht. Sie schreibt die Worte, die sie sich mühsam angeeignet hat, auf ihre eigene Hand, mit Tinte, die sie selbst aus roter Beete gefertigt hat, ein mühsamer, aber methodisch verfolgter Erfindungsprozess: Denn Papier und Tinte sind teuer, nichts für Dienstmädchen, die sich selbst das Lesen beibringen und das Schreiben dazu, die in ihren wenigen Nebenstunden noch die Magd von nebenan unterrichten und die für ihre Tochter nur eines wollen: dass der Vater, dass Descartes ihr das Lesen beibringt! Denn wer die Worte hat, versteht die Welt, er kann sich über sie erheben, er kann die Dinge festhalten, er kann sie weitergeben, er kann Fernes näherbringen, er kann Wissen ausstreuen und mitteilen. Helenas eigentliches Medium aber, und das ist ein genialer Einfall von Glasfurd, ist die Zeichnung: Auch sie kann die Dinge festhalten, sogar besser als Descartes, der reichlich dilettantisch seine methodischen Versuche an Aalen und Maschinen dokumentiert. Das Zeichnen ist Helena natürlich, angeboren sozusagen; und als sie die wahrhaft revolutionäre Idee hat, ein Lesebuch für all die Frauen, die Lesen wollen und es nicht lernen dürfen zu verfassen, da erfindet sie ein ABC-Buch mit Zeichnungen dazu, für jeden Buchstaben einzeln (bis heute lernen die Kinder, dass das A beim Affen ist und das Z beim Zebra). Welch eine geniale Methode! Die erfindsame Helena findet sogar einen Verleger, aber der belehrt sie schnell, dass er das ABC-Buch nicht unter ihrem Namen verkaufen kann. Niemand würde ein Buch kaufen, das von einer Frau geschrieben wurde! Dann gibt er ihr eine lächerliche Summe Geldes und verlegt es selbst.
Doch Helena hat immerhin gelernt, dass frau – etwas schaffen kann, etwas Bleibendes. Frau kann auch Dinge erkennen, mühsam, systematisch: So entwickelt Helena aus einem sehr konkreten Problem heraus (wie schaffe ich es, nicht jedesmal schwanger zu werden, wenn ich mit Descartes schlafe?) durch präzise Beobachtung (wann bekomme ich diese seltsamen Blutungen, von denen ich nicht weiß, wo sie herkommen und was sie bedeuten, aber es gibt da eine gewisse Regelmäßigkeit!) eine Verhütungsmethode. Ach, Frau könnte noch viel mehr: Aber sie muss einkaufen, jeden Tag, das Mahl bereiten, die Böden schrubben, die Hemden waschen und die Gäste abwehren, wenn sie mal wieder zudringlich werden. Bei allem Talent und aller Erfindungsgabe bleibt man – die Dienstmagd des Herrn. Weshalb Helene in Glasfurds Geschichte Descartes nie anders als „der Monsieur“ nennt; Intimität ist das eine, Klassen- und Geschlechtsunterschiede das andere; und es ist unendlich lobenswert, dass Glasfurd Helena nicht zu einer Vorreiterin der Emanzipation macht, sondern nur zu einer starken Frau mit Grenzen!
Die Szene, in der Francine stirbt, in der das einzige wirklich gemeinsame Projekt des Monsieurs und der Dienstmagd stirbt, ist (wie so viele Szenen eines Kindertodes in der Literatur) kaum auszuhalten. Denn Francine stirbt nicht nur am Scharlach, einer damals meist tödlich endenden Infektionskrankheit, die man heute mit Antibiotika relativ zuverlässig heilen kann. Nein, sie stirbt auch an der Dummheit und Inkompetenz des behandelnden Arztes, der nichts Besseres weiß, als den schwachen Körper durch einen massiven Aderlass weiterhin zu schwächen; sie stirbt an einem abwesenden Vater, der das vielleicht hätte verhindern können mit all seinem Wissen und seiner Methode und seiner Klugheit. In einem (überlieferten, nicht erdachten) Brief wird er später schreiben, dass dieser Tod „der größte Schmerz seines Lebens“ war. Aber das sind am Ende auch nur Worte. Und vielleicht hätte er Francine auch nicht helfen können. Denn die Worte sind nicht allmächtig, wie Helena nun erkennt; im Angesicht des Todes hat all das Wissen, das der Monsieur so systematisch und hartnäckig angesammelt hat, nichts genützt. Und als sie das erkennt, geht sie hin und verbrennt die Worte, sie will sie nicht mehr sehen. Einzig das Bildnis von Francine, das sie selbst gezeichnet hat, überlebt. Descartes wird sie bald darauf an den anderen Mann verheiraten und verlassen; neun Jahre später stirbt er im fernen, kalten Schweden allein unter etwas mysteriösen Umständen. Das einzige, was wirklich überlebt hat, ist: seine Methode.
Wie müsste ein Bild aussehen, in dem Descartes und Helena zusammen zu sehen sind, mit der kleinen Francine am besten? Es wäre keines der steifen Ehestandsporträts, wie sie das Rijskmuseum zeigt (aber immerhin sind es Doppelporträts, immerhin!). Es wäre eine Art – monumentales Genrebild, ein intimes Interieur mit einer weiten Perspektive nach draußen, auf die Grachten, auf die Männerwelt des Handels und des Wissens. Es würde beide zeigen in ihrer Verschiedenheit, aber gleichberechtigt: ihn mit schalkhaften Augen und einem Buch in den schlanken Gelehrtenfingern, sie mit klarem Blick und einem Zeichenstift in den zupackenden, abgescheuerten Händen der Magd. Aber man könnte nicht erkennen, was in dem Buch steht oder was auf dem Blatt gezeichnet ist; niemals kann man bei Vermeer oder bei Rembrandt erkennen, was in den Büchern oder Briefen steht. Es sind die Augen, auf die es ankommt, und die Hände – nicht die Worte.
Zur Autorin: Guinevere Glasfurd, geboren im Norden Englands, lebt jetzt gemeinsam mit ihrer Familie in der Nähe von Cambridge. Ihr Roman „Worte in meiner Hand“ ist vom Arts Council England gefördert worden und erschien im August 2015 bei Ullstein.
Zum Hintergrund: René Descartes (Auszüge aus Wikipedia)
René Descartes (1596-1650) war ein französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Er gilt als der Begründer des modernen frühneuzeitlichen Rationalismus. Sein rationalistisches Denken wird auch Cartesianismus genannt. Von ihm stammt das berühmte Dictum „cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich.“), welches die Grundlage seiner Metaphysik bildet, aber auch das Selbstbewusstsein als genuin philosophisches Thema eingeführt hat. Seine Auffassung bezüglich der Existenz zweier beim Menschen miteinander wechselwirkender, voneinander verschiedener „Substanzen“ – Geist und Materie – ist heute als cartesianischer Dualismus bekannt und steht im Gegensatz zu den verschiedenen Varianten des Monismus sowie zur dualistischen Naturphilosophie Isaac Newtons, der die Wechselwirkung aktiver immaterieller „Kräfte der Natur“ mit der absolut passiven Materie lehrt.
Descartes ist der Begründer der analytischen Geometrie, welche Algebra und Geometrie verbindet.
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1629 zog es Descartes in die Niederlande, vermutlich wegen der größeren geistigen Freiheit, die dort herrschte. Hier verbrachte er, zwar im Austausch mit Intellektuellen unterschiedlichster Ausrichtung und Herkunft, aber dennoch relativ zurückgezogen, die nächsten 18 Jahre, wobei er häufig Wohnungen und Wohnorte wechselte und mit einer seiner Dienstmägde, Helena Jans van der Strom, 1635 eine Tochter bekam, Francine, die fünfjährig am 7. September 1640 starb. Descartes bezeichnete Francines Tod als „den größten Schmerz seines Lebens“.
Während seiner ersten Zeit in den Niederlanden arbeitete Descartes an einem Traktat zur Metaphysik, in dem er einen klaren und zwingenden Gottesbeweis zu führen hoffte. Er legte ihn jedoch beiseite zugunsten eines großangelegten naturwissenschaftlichen Werks, das in französischer Sprache verfasst werden sollte und nicht mehr, wie seine bisherigen Texte, in Latein. Diesen Traité du Monde „(Abhandlung über die Welt)“, wie er heißen sollte, ließ er jedoch unvollendet, als er vom Schicksal Galileo Galileis erfuhr, der 1633 von der Inquisition zum Widerruf seiner die Forschungen von Nicolaus Copernicus und Johannes Kepler bestätigenden Theorien gezwungen worden war. 1637 publizierte Descartes im holländischen Leiden anonym seinen Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la Dioptrique, les Météores et la Géométrie qui sont des essais de cette méthode(deutscher Titel: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung), wörtlich: „Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie als Versuchsanwendungen dieser Methode“. Der als populärwissenschaftliches Werk auf hohem Niveau angelegte Discours de la méthode, wurde langfristig Descartes’ wirksamstes Buch.
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