Mein bester Freund meint, es sei „Frauenliteratur“. Mit „es“ meint er den ersten Band der vierbändigen Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante mit dem Titel Meine geniale Freundin. Und tatsächlich schmückt ein Zitat einer Brigitte Woman-Rezension den Buchrücken: „Sie ist die wunderbarste Autorin, die man sich wünschen kann, ihre Bücher sind Träume, die in Erfüllung gegangen sind.“ Zugegeben; diese Schreibweise mit Superlativ ist mir auch zu viel. Und zu blumig. Dass darüber „Alle Welt liest Elena Ferrante“ von der FAZ steht, und der Stern resümiert „Man verschlingt dieses Buch wie heutzutage sonst eher die großen Fernsehserien“, macht das Buch zwar in der Ankündigung auch für Männer lesbar, aber das Brigitte Woman Zitat ist für sie immer noch schwer verdaulich. Die anderen beiden Rezensionen sagen zudem wenig über die Qualität des Werkes aus.
Mein bester Freund ist intelligent und belesen. Er ist als Hobby-Literaturkritiker geübt, denn er ist mit mir einer der Initiatoren eines privaten Literaturkreises. Was meint er, wenn er von „Frauenliteratur“ spricht? Ihm fällt auf: Es ist eine Protagonistin. Aha. Und diese Protagonistin hat weibliche Probleme. So, so. Der erste Band der Familiensaga handelt von Elenas Kindheit und Jugend. Der Körper verändert sich, sie bekommt Hormonschübe, die Brüste wachsen, sie bekommt ihre Regel, sie verliebt sich, entwickelt sexuelle Lust (aber noch keine Erfahrung) und steht bei all dem in Konkurrenz zu ihrer besten Freundin – ihrer genialen Freundin – Lila. Doch nicht nur mit ihr konkurriert sie, sondern auch mit Männern. Hier allerdings nicht körperlich, sondern in Bezug auf Wissen, Bildung und Leistung. Genauso wie mit Lila. Was Elena Ferrante hier schildert, ist eine weibliche Perspektive auf das Erwachsenwerden. Ja, eine weibliche, mit typisch weiblichen Problemen. Da muss der männliche Leser durch. Das müssen wir Frauen bei anderen Werken auch. Mussten wir schon immer, denn in der Regel sind die Klassiker, die wir bereits in der Schule gelesen haben, aus männlicher Sicht geschildert – ob Goethes Werther, Schillers Kabale und Liebe oder zeitgenössisch Bernhardt Schlinks Der Vorleser oder Agnes von Peter Stamm. Und im Übrigen auch, wenn Martin Walser mit über achtzig Jahren immer noch seine männlichen Figuren in Beziehungsgeflechte mit Frauen setzt (und meistens scheitern lässt).
Frauenliteratur
Was ist nun „Frauenliteratur“? Der Duden definiert, es sei von Frauen verfasste (im Zusammenhang mit der Frauenbewegung entstandene) Literatur, Frauen betreffende Literatur“. Das ist das zeitgemäße Verständnis und eine sehr weitläufige und wertneutrale Definition. Inge Stephan beschreibt im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (De Gruyter, 2007) unter dem Stichwort „Frauenliteratur“ sowohl die negative als auch die positive Konnotationen der Begriffsgeschichte. Sie macht darauf aufmerksam, dass Frauenliteratur ein „merkwürdiges Paradox und Skandalon in einer männlich beherrschten Literatur- und Wissenschaftsgeschichte“ sei. Warum ist sie das? Weil der Begriff „Frauenliteratur“ immer ausgrenzend ist. Es gibt schließlich als Gegenbegriff auch keine „Männerliteratur“. Das Problem liege vor allem am Verständnis der Autorschaft. Die Position des Autors solle zwar theoretisch geschlechtsneutral sein, sei sie aber faktisch nicht. Die Autorschaft werde männlich gedacht, weshalb auch einige Frauen in der Literaturgeschichte unter männlichem Pseudonym veröffentlichten. Sie wollten eventuell auch der Gefahr entgehen, schon im Voraus mit Trivialliteratur verbunden zu werden. Die männliche Perspektive in den fiktiven Geschichten ist Standard, alles andere ist „Frauenliteratur“ – dieses Urteil bestätigt auch mein bester Freund mit seiner Aussage.
Lesesog und Serienpotenzial
Ob Frauenliteratur oder nicht: Der Roman Meine geniale Freundin entwickelt einen Lesesog. Frau kann nicht aufhören zu lesen. Das empfinde nicht nur ich so, sondern Leser*innen weltweit. Der Roman hat sich millionenfach verkauft. Mich hat das Buch einerseits in das Italien der Nachkriegszeit entführt und die Geschichte von Elena und Lila miterleben lassen, andererseits an eigene Empfindungen aus meiner Kindheit und Jugend erinnert. Als Erwachsene denkt man nur noch selten daran, und doch haben diese Erfahrungen aus Kindheit und Jugend uns zu dem Menschen gemacht, der wir heute sind. Wir sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Elena Ferrante schreibt in diesem Zusammenhang: „Erwachsene bewegen sich mit Blick auf das Morgen in einer Gegenwart, hinter der das gestern und das Vorgestern liegt, bestenfalls noch die vergangene Woche. An den Rest wollen sie nicht denken. Kinder kennen die Bedeutung von gestern, vorgestern und auch von morgen nicht. Alles ist hier und jetzt: hier ist die Straße, hier ist der Hauseingang, hier ist die Treppe, hier ist Mama, hier ist Papa, hier ist Tag, hier ist Nacht.“ Mit dem Erwachsenwerden ändert sich der Blick auf das Leben, es erhält eine neue Gewichtung durch das Verständnis von Zeit und Vergänglichkeit.
Wer daran interessiert ist, den Roman zu lesen, dem sei die folgende Leseprobe als Entscheidungsfindung dienlich. Darüber hinaus: Das Buch erscheint als Serie ab dem 2. Mai auf Magenta TV
Leseprobe
So erzählte ich ihr (Lila) einmal von meinem Theologiekurs und erwähnte, um sie mit meinen Problemen zu beeindrucken, mit denen ich mich herumschlug, dass ich nicht wisse, was ich vom Heiligen Geist halten sollte, dass mir nicht klar sei, welche Funktion er habe. „Was ist das?“, überlegte ich laut, „ein untergeordnetes Wesen im Dienst sowohl Gottes als auch Jesu, so eine Art Bote? Oder eine Emanation dieser beiden, ihr wundersames Fluidum? Aber wie kann es dann sein, dass, im ersten Fall, ein Wesen, das den Boten spielt, mit Gott und dessen Sohn eins ist? Wäre das nicht so, als würde man sagen, mein Vater, der Pförtner in der Stadtverwaltung, sei eins mit dem Bürgermeister. Mit Comandante Lauro? Und nimmt man dagegen den zweiten Fall, nun ja: Ein Fluidum, der Schweiß, die Stimme sind Teil der Person, von der sie ausgehen. Welchen Sinn hat es da, den Heiligen Geist als getrennt von Gott und Jesus anzusehen? Entweder ist der Heilige Geist die wichtigste Person und die anderen zwei seine Daseinsform, oder ich begreife nicht, wozu er da ist.“
Ich weiß noch, dass Lila damals damit beschäftigt war, sich zurechtzumachen, um mit Stefano auszugehen. Sie wollten mit Pinuccia, Rino und Alfonso in ein Kino im Zentrum. Ich schaute ihr zu, wie sie einen neuen Rock anzog, eine neue Jacke und sie war nun wirklich ein anderer Mensch, auch ihre Fesseln waren nicht mehr streichholzdünn. Doch ich sah auch, dass sie die Augen zusammenkniff, als wollte sie etwas Flüchtiges einfangen. Im Dialekt sagte sie: „Verplemperst du deine Zeit immer noch mit solchem Zeug, Lenu? Wir sitzen auf einem Feuerball. Der Teil, der sich abgekühlt hat, schwimmt auf der glühenden Lava. Auf diesem Teil bauen wir Häuser, Brücken, Straßen. Von Zeit zu Zeit kommt die Lava aus dem Vesuv oder sorgt für ein Erdbeben, das alles zerstört. Überall gibt es Mikroben, die dich krank machen und umbringen. Es gibt Kriege. Es herrscht eine Armut ringsherum, die uns alle verrohen lässt. Jeden Augenblick kann etwas passieren, was dir so viel Leid zufügt, dass du niemals genügend Tränen dafür hast. Und was machst du? Einen Theologiekurs, in dem du angestrengt versuchst, herauszukriegen, was der Heilige Geist ist? Lass es gut sein, der Teufel hat die Welt gemacht, nicht Vater, Sohn und Heiliger Geist. Willst du die Perlenkette sehen, die Stefano mir geschenkt hat?“ Ungefähr so redete sie und brachte mich durcheinander.
Rätsel um Autorin
Von Elena Ferrante wissen wir, dass sie 1943 in Neapel geboren wurde. Sie veröffentlicht seit den 1990er Jahren ihre Werke unter dem Pseudonym Elena Ferrante. Von ihrer wahren Identität ist kaum etwas bekannt. Alle Interviews führt sie nur schriftlich. Dennoch zählt sie laut der Times zu den 100 einflussreichsten Personen weltweit (2016).
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp Verlag. 11 Euro.
https://www.suhrkamp.de/buecher/meine_geniale_freundin-elena_ferrante_46930.html
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