Es gibt wenig philosophische Romane in der Weltliteratur, was schade ist: Denn Romane können philosophischer sein, als man denkt (vor allem: als die meisten Philosophen denken, die meinen, schöne Literatur sei irgendwie ins Lügenhafte, Unreine, Phantastische gedacht; das stimmt aber nur für schlechte Literatur insgesamt). Noch seltener aber, und das ist noch bedauerlicher, sind philosophische Romane von Frauen (und ja, genau: das Vorurteil vieler Philosophen gegen die Romanliteratur kann man relativ einfach auf eines gegen denkende Frauen übertragen, es potenziert sich dabei sozusagen ins Negative). Bis auf eine Ausnahme: Eine nicht nur eine schreibende Frau, nicht nur eine denkende Frau, sondern eine philosophische Romane schreibende und Philosophie an Universitäten lehrende Frau: Iris Murdoch. Wer war Iris Murdoch?
Murdochs Leben war eher unspektakulär und akademisch geradlinig. In Irland im Jahr 1919 geboren, studierte sie die „Greats“ (Geschichte, Philologie, Philosophie) in Oxford und promovierte nach dem Krieg in Cambridge. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie im Londoner Schatzamt und bei der UN-Organisation für Flüchtlingshilfe. In Oxford, wo sie bis 1963 am St. Anne’s College unterrichtete, das zu dieser Zeit ausschließlich weibliche Studierende aufnahm, lernte sie auch ihren Ehemann John Bayley kennen, er war genau wie sie selbst Professor und Schriftsteller, und er begleitete sie bis zu ihrem Tod nach einer Alzheimer-Erkrankung im Jahr 1999. Murdoch schrieb in dieser Zeit neben ihren akademischen Schriften 25 Romane; sie erhielt mehrere wichtige Auszeichnungen und wurde 1897 zur „Dame Commander“ des Commonwealth ernannt (seitdem durfte sie sich „Dame Iris Murdoch“ nennen). Und sie hatte (es war eine exemplarisch offene Ehe) während ihres gesamten Lebens sexuelle Kontakte mit Männern wie mit Frauen. Die sich daraus ergebenden vielschichtigen emotionalen Verwicklungen sind auch ein zentrales Thema in ihren Romanen, von denen viele geradezu Musterbeispiele philosophischer Romane sind (kurze Auswahl für die Leseliste: The philosopher’s pupil; Henry and Cato; The Good Apprentice).
Iris Murdoch hat in einem kurzen, polemischen Text unter dem Titel Against Dryness sogar eine Begründung dafür vorgelegt, warum philosophische Romane gerade für das 20. Jahrhundert nicht nur eine unentbehrliche komplementäre Ergänzung zur Philosophie bilden, sondern ihr in wesentlichen Beispielen überlegen sind. Denn die Philosophie des 19. Jahrhunderts habe, so Murdoch, eine „shallow and flimsy idea of human personality” (ein oberflächliches und fadenscheiniges Konzept menschlicher Persönlichkeit) hinterlassen. Wer jedoch von einem derart komplexen, vielfältigen und seiner Natur nach schwer zugänglichem Organ wie der menschlichen Psyche nicht nur irgendwie sprechen wolle, sondern philosophisch substantiell, also: mit dem Anspruch auf Reflexion und Erkenntnis sprechen wolle, den habe die Philosophie vollständig im Stich gelassen. Romane hingegen seien besonders gut dazu in der Lage, die spezifische Fülle menschlichen Lebens und Erlebens zu erfassen: „Through literature we can re-discover a sense of the density of our lives“ (Mithilfe der Literatur können wir einen Sinn für die Dichte unseres Lebens wiederentdecken). Das gleiche gelte für die philosophisch präsentierten, generell unterkomplexen und vereinseitigenden Weltbilder der traditionellen Philosophie: „Reality is not a given whole. An understanding of this, a respect for the contingent, is essential to imagination as opposed to fantasy” (Die Wirklichkeit ist kein fertiges Ganzes. Dass man das versteht und Kontingenz respektiert, ist unersetzlich für die Einbildungskraft im Unterschied zur Fantasie).
“Einbildungskraft”, nicht “Phantasie”: Nur die erstere ist für Murdoch die angemessene Form, mit einer komplexen Realität umzugehen und nicht in haltlose Fabelwelten zu flüchten: „Literature must always present a battle between real people and images“ (Jeder literarische Text muss einen Krieg zwischen Gut und Böse darstellen). Wenn man sich jedoch im 20. Jahrhundert über Fragen von Gut und Böse, über das liberale Konzept der Freiheit der Person, über die in Begriffen niemals erfassbare Opazität der menschlichen Seele verständigen wollte – biete die akademische Philosophie dafür keinerlei hilfreichen Begriffe, Konzepte, Ideen an. Hier komme der Roman nicht nur zur Hilfe, nein, er übernimmt sogar die Herrschaft: Er Roman allein biete ein neues „vocabulary of attention“ (Vokabular der Aufmerksamkeit) ebenso an wie ein „new vocabulary of experience“ (neues Vokabular der Erfahrung); dazu ein „truer picture of freedom“ (ein wahrhaftigeres Bild von Freiheit), das auch Grade und Abstufungen jenseits der dualistischen Absolutheiten von Gut und Böse kennt. Dafür jedoch müsse die Erzähl- und Romanliteratur ihr altes philosophisches Potential ebenso wiedergewinnen wie ihre erzählerische Eloquenz. Romane dürfen eben nicht „dry“ sein, leblos, folgenlos, fruchtlos wie die avantgardistischen Texte der l’art-pour-l’art-Bewegung mit ihrer allzu abgeschlossenen, allzu ästhetisierten und lebensfernen Form.
In Murdochs eigenen Romanen wird dementsprechend vor allem geredet. Es sind endlose Gesprächsromane, oft dreht sich die wenige Handlung im Kreis, immer wiederkehrende Figurentypen sind erkennbar, die Umgebung hat im Wesentlichen die Funktion einer Kulisse und erzählerische Höhepunkte sind sparsam gesät. Aber dadurch wird die Leserin Teil einer Welt, in der tatsächlich alle Probleme des alltäglichen Menschseins ebenso wie das menschliche Verlangen nach Transzendenz und Freiheit zutiefst ernstgenommen und dialogisch in aller Breite ausgehandelt werden. Jede Figur spricht aus der Tiefe ihres Herzens und ihres Denkens. Was dabei zum Vorschein kommt, ist wahrlich nicht alles philosophisches Gold, sondern eher: noch zu reinigende kleine Nuggets. Aber es ist wahrhaftig, persönlich und existentiell. Der eigentliche „philosopher’s pupil‘ ist dabei, wie immer im philosophischen Roman, vor allem die Leserin. Aber sie muss dafür ein wenig erzogen werden. Vielleicht könnte man insgesamt sogar den philosophischen Roman insgesamt (also auch den von Männern) eine praktische Erziehung zum Denken nennen? Es muss gar nicht immer kritisch sein. Wichtiger ist, dass es existentiell und wahrhaftig ist.
Vgl. ausführlicher zur Biographie:
deutsche Übersetzungen:
Das Meer, das Meer: Roman [=The Sea, the Sea]. Aus dem Engl. von Stefanie Schaffer-de Vries. München 2000.
Der schwarze Prinz: Roman [=The black prince]. Aus dem Engl. von Stefanie Schaffer-de Vries. München; Zürich. Serie Piper 2958. 2000.
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