Facetten eines Museumsbesuches
Dies ist der Bericht über einen etwas anderen Museumsbesuch. Er ist verbunden mit einem etwas längeren Exkurs in die Wirtschaftsgeschichte und einem kürzeren Exkurs in die Gesteinskunde, die frau auch überlesen kann, aber dann würden wesentliche Facetten des Ganzen fehlen. Vielleicht sind die Exkurse sogar, wie so oft, der interessantere Teil, auch wenn das besehene Museum selbst durchaus sehenswert ist: Es ist sogar ein Augen-Schmaus besonderer Art, eine Symphonie aus Bergen und Wolken und Herbstblättern und funkelnden Kristallen, wohin man schaut, und man kann in Farben baden und auf einem surrealistischen Karussell in einem U-Boot fahren und ziemlich gut essen im Restaurant und glitzernde Dinge kaufen im Shop, was will frau mehr?
Das Museum also, von dem die Rede ist, ist – aber wir wollen hier keine Produktwerbung betreiben. Nennen wir es vorerst: „das Museum des Erfinders von BLING“ (im Sinne von „Bling-Bling“) und belassen es auch erst einmal dabei, zumal der Markenname streng geschützt ist und jegliche Verstöße von den Firmenanwälten gerichtlich verfolgt werden! Es ist ein Kunst-Kristall-Museum – drei Facetten, von den wir uns zwei vorerst nur merken, während wir uns auf die innere konzentrieren, das Kristall nämlich, und uns in die erste Exkurs-Facette stürzen, die geologische.
Echte und falsche Kristalle und ein wenig Goethe
Was also ist ein Kristall eigentlich? Ein Festkörper, dessen Bausteine regelmäßig in einer Kristallstruktur angeordnet sind. Wie zum Beispiel Salz, Zucker, Schnee, Diamanten. So weit, so langweilig, mag die eine sagen. Andererseits, mag die andere sagen, sind Kristalle ziemlich schön. Schneeflocken, Eiskristalle, Diamanten im Brillantschliff, dem brillantesten aller Schliffe. Aber da wir nicht alle Audrey Hepburn sind, müssen es für die meisten von uns – Kristalle tun im kleinen BLING. Die mit dem berühmten Namen zum Beispiel. Die aber sind, und das ist immerhin mittelmäßig interessant, gar keine Kristalle, sondern nur durch Zusätze trickreich so transparent und hart gemachtes Glas (was per definitionem kein Kristall ist, keine regelmäßige Kristallstruktur aufweist nämlich), das anschließend noch trickreicher so geschliffen wurde, dass es wie Diamanten funkelt: in möglichst vielen Facetten nämlich, angeordnet in genau ausgefuchsten Winkeln, die das Licht aufnehmen, ein wenig um sich selbst drehen, es im Inneren brechen, vielfarbig aufspalten und dabei möglichst oft reflektieren – und es wieder austreten lassen, vielfarbig aufgespalten, vielfältig gebrochen, vieldeutig glitzernd. Vom „Feuer“ des Diamanten spricht der Fachmann, und das ist immerhin ein wenig lustig, weil die Wortbedeutung von Kristall (griech. Krystallos) kalt ist, eiskalt sogar. Aber die meisten von uns würden, seien wir ehrlich, den Unterschied nicht sehen zwischen feurigem Diamanten und frostigem Kristall, sondern uns einfach freuen: am Funkeln, am Facettenreichtum, am regenbogenfarbigen Licht, das aus dem Inneren des Steins herauszubrechen scheint, aber dabei trotzdem auf das äußere Licht reagiert.
Inneres, Äußeres, Licht, Reflexionen, Brechungen – schläft da nicht ein Symbol, irgendwie? Goethe, nur um eine ganz kleine Facette hier zusätzlich aufglitzern zu lassen, hat sich ziemlich viel mit Licht und Prismen und auch Kristallen beschäftigt, er fand das alles nicht nur schön, sondern sehr lehrreich, und in einem Gedicht mit dem Titel Entoptische Farben vergleicht er Kristalle mit dem „Erdewesen“ – also: dem Menschen an sich?
Spiegel hüben, Spiegel drüben,
Doppelstellung, auserlesen-,
Und dazwischen ruht im Trüben
Als Kristall das Erdewesen.
Eine Parabel von Innovationsdruck und Lieferketten und Kriegsgewinnen
Wir verlassen denn etwas rätselhaft-schillernden Goethe und den geologischen Exkurs und kehren zurück zu unserem Kunst-Kristall-Museum, gelegen unweit der Inntal-Autobahn im idyllischen Wattens am Wattenbach, der hier in den Inn mündet und vorher einige Wasserkraftwerke ganz ökologisch sauber antreibt – was bereits fließend überleitet zum zweiten Exkurs und zur nächsten Facette, der wirtschaftshistorischen nämlich. Deshalb bleiben wir noch einmal stehen, nachdem wir die supermodernen Kassenhäuschen passiert haben, und schauen nur kurz herüber zum verlockenden Eingang der Museums-„Wunderkammern“, wo der tausendfach fotografierte, etwas gespenstisch schmallippige grüne Riese (sieht er ein wenig aus wie André Heller? und ist er eigentlich männlich oder weiblich? Aber dazu kommen wir erst später, wenn es um Kunst geht) gleichmütig Wasser in ein stilles Becken speit; wir bleiben stehen und lesen unseren Wikipedia-Artikel. Die folgende Geschichte nämlich kommt nur sehr kurz vor im Kunst-Kristall-Museum (zur Geschichte des Unternehmens und seines Gründers und seiner Verbundenheit mit Wattens gibt es aber ein Museum in Wattens selbst, siehe unten); sie ist aber lehrreich und gut zu wissen und von einer gewissen bleibenden Aktualität. Also, hier die Kurzfassung:
Es war einmal ein junger Handwerksmann im fernen Böhmen, wo man in Bergregionen in mühsamer Handarbeit aus Glas Kristalle schliff für einen gerade ziemlich rasant wachsenden Industriezweig, die Bijouterie-Branche nämlich: glitzernden Modeschmuck, der den Diamanten natürlich nicht ganz das reine Wasser reichen konnte, aber, je feiner geschliffene Gläser man verwendete, doch ziemlich gut BLING machte. Und der junge Handwerksmann war von geradezu schwäbischem Erfindergeist, er erfand nämlich, es war im Jahre 1892, nach Jahre fleißigen Tüftelns einen mechanischen Schleifapparat zur Fertigung feiner Schmuckkristalle, und dafür wollen wir ihm endlich auch seinen Namen geben: Er hieß Daniel Swarovksi. 1895 gründete Daniel ein kleines Unternehmen, aber es wuchs schnell, und die Maschinen wollten nicht nur fleißige Arbeiter, sondern Strom. Deshalb suchte er nach einem Ort, wo es viel und billigen Strom gab und der möglichst abgelegen lag von der Welt, die Konkurrenz schlief nämlich nicht, sondern betrieb eifrig Industriespionage. Er fand ihn im österreichischen Wattens im Tal des Wattenbachs, wo ein Wasserkraftwerk sehr kostengünstig schon eine Textilfabrik versorgte, und keine Klimakatastrophe war weit und breit am Horizont zu sehen, und das Bergwasser floß zuverlässig und kräftig antreibend Jahr für Jahr in den Inn bei Wattens. Dort baute der Böhme sein Werk, und er baute die Wasserkraft weiter aus, die bis heute die ziemlich groß gewordene Fabrik antreibt, und er ließ Werkswohnungen bauen, mit Garten, für seine Angestellten, die es bis heute gibt (und für sich selbst eine Villa mit seinem eigenen Namen, von der sich im großen weiten Internet keine Spur mehr findet; das inzwischen sehr diversifizierte Unternehmen ist aber immer noch zu großen Teilen in Familienbesitz). Und weil sein Produkt, die feingeschliffenen Kristalle, angewiesen war auf die zuverlässige Zulieferung von qualitativ hochwertigem Glas, entwickelte Swarovski gemeinsam mit seinen drei Söhnen in mehrjähriger Arbeit eine eigene Methode der Glasschmelze, die bis heute als Betriebsgeheimnis streng gehütet wird, und die ihn unabhängig von wankelmütigen Zulieferern und schwankenden Lieferqualitäten machte. Und das gleiche macht er noch einmal, nach dem Ersten Weltkrieg, als die Lieferung von für den Betrieb essentiellen Schleifscheiben stockte; also entwickelte er selbst welche, gab ihnen einen neuen Namen („Tyrolit“); vielfach modernisiert werden sie bis heute verkauft und gelten immer noch als cash cow des facettenreichen Firmen-Konglomerates.
Nun kommt die dunkle Facette der Geschichte, aber sie gehört dazu, wird inzwischen vorbildlich von Berufs-Historikern aufgearbeitet, und man muss keine Denkmäler stürzen deshalb (ein Denkmal von Daniel Swarovski steht natürlich in Wattens, noch), dabei lernt man nämlich rein gar nichts. Dass Erfindungsgabe und unternehmerischer Anpassungsgeist wie alle rein formalen Kompetenzen immer ein zweischneidiges Schwert sind, kann man hingegen lernen, wenn man das Denkmal stehen lässt und hinschaut. Denn während der NS-Zeit brauchte man nicht so viel BLING, sondern, ganz wie heute, Kriegstechnologie, gern auch hochwertige; man brauchte zum Beispiel optische Geräte, Zielfernrohre, mit den feinstgeschliffenen vorstellbaren Linsen. 1935 hatte einer der Söhne sein erstes Fernglas vorgestellt, „Habicht“ hieß es, und bis heute schwören Ornithologen und bird watcher weltweit auf Swarovski-Gläser. Für optische Geräte gab es reichlich Rüstungsaufträge, es gab auch Zwangsarbeiter zur Unterstützung der Produktion, und wie die Firmenleitung waren die meistens stramme Partei-Mitglieder. Die Kristallherstellung hingegen wurde1943 verboten; keine Ressourcen mehr für BLING! Nach dem Krieg aber floss der Wattenbach weiter durch Wattens, und das Unternehmen produzierte weiter funkelnde Schmuckkristalle, die frau sich um den Hals hängen konnte, und Geräte mit Präzisionsoptik, die man sich um den Hals hängen konnte, und – nun ja, Schleifscheiben, mit denen man die Dinge tun kann, die irgend jemand mit Schleifscheiben so tut und die wichtig sind für die verschiedensten industriellen Abläufe?
Tagsüber im Museum
Im Jahre 1995, zum hundertjährigen Firmenjubiläum, der Gründer war inzwischen knapp vierzig Jahr tot und lag mit einer Fülle von staatlichen Orden in seinem Grab in Wattens; vor knapp 20 Jahren also gönnte sich das Unternehmen schließlich neben der firmeneigenen Fluglinie und dem gesponserten Tiroler Fußballverein auch ein Kunst-Museum, am Rande von Wattens zwischen Berg und Fluss und Firmenschloten und Firmenwohnungen gelegen. 2005 wurde es von André Heller umgestaltet, wiederum zehn Jahr später kam der Park hinzu, und so präsentieren sich die Swarovski Kristallewelten heute der Besucherin an einem warmen Frühherbsttag. Der grüne schmallippige Riese bewacht immer noch den Eingang zu den „Wunderkammern“, die an die Schatz- und Kuriositätensammlungen vermögender Herrscher und Sammler (kein generisches Maskulinum!) erinnern, in denen seltene Naturdinge ebenso ihren Platz fanden wie kunstvolle Instrumente und Automaten, feinstes Kunstgewerbe, Korallen, Perlen, Edelsteine aller Art und natürlich schon damals: Kristalle. 18 Künstler haben 18 verschiedene Kristall-Kammern gestaltet, Niki de Saint-Phalle ist mit einem Exemplar darunter (und damit ist sie die einzige Frau in dieser Geschichte), aber eigentlich muss man die Namen nicht kennen. Denn im Vordergrund stehen allein die Kristalle und ihre wundersamen optischen Effekte, mal geschickt, mal weniger geschickt angeordnet, aber alles funkelt, definitiv. Gelegentlich verschmelzen Kitsch und Kunst aufs schönste, man kann sogar lachen, und frau fühlt sich seltsam erlöst und befreit vom Museumsdruck (Vorsicht, Kunst!), während sie kleine und große Installationen – nicht studiert, sondern erlebt: Denn das Lebendige der Kristalle entsteht dadurch, dass sie ihre ganze Umwelt samt Betrachterin aufnehmen können, mit ins Bild hineinspiegeln, in Facetten zerlegt, immer kleiner verschwindend, und mit jeder Änderung des Lichts, der Farbe, des Standpunkts ändert sich das Bild.
Mit einem geschärften Farbsinn und einer gewissen Neigung, alles Wahrgenommene in Facetten zerlegen zu wollen (und einem kleinen Stück BLING um den Hals natürlich) verlassen wir die „Wunderkammern“ und begeben uns in den Park, der noch ein wenig zuwachsen muss, bis er ein erwachsener Park wird. Aber die Berge sind schon da, sie werden bleiben mit ihren unregelmäßig facettierten, schneekristallüberzogenen Spitzen; das Herbstlaub ist da, es spielt eine Farbsymphonie mit anderer Tonleiter als die großen Kristallinstallationen, die nur den Regenbogen kennen und keinen Zwischenton. Und ganz am Ende, in einer kleinen Vertiefung, schwebt der Höhepunkt: die „Kristallwolke“. Eine Installation mit über 80.000 (die Zahl kann man sofort vergessen, wer wird sie zählen?; aber nennen wir hier einmal die Namen der Erfinder, sie haben es verdient: Andy Cao und Xavier Perrot) kleinen Kristallen, gefangen in wolkenförmigen Netzen, die über einem schwarzen kreisrunden Spiegelsee glitzern, in dem man hineingehen kann. Frau steht dann im See, hüfthoch von Wasser umgeben, und die Welt ist ein einziges Glitzern, oben in der Helle des Himmels, unten in der Schwärze des Wassers; die Berge singen Hallelujah von den Spitzen herab, und die Sonne bricht auf einmal hervor und vervielfacht die ungezählten Kristalle, und dann ziehen wieder Wolken herbei, echte Wolken, und verdunkeln die Kristalle und spiegeln sich dunkel im See. Bei Sonnenaufgang soll es magisch sein, und auch ohne die etwas penetrante Musikbespielung der Installation kann man sich vorstellen, dass etwas aus den Kristallen heraus selbst zu singen beginnt, in hohen, glasklar geschliffenen, vielfach facettierten Tönen. Vielleicht antworten die Berge ja, heimlich, wenn keiner zuhört und die Schalter geschlossen sind und der grüne, seltsam androgyne Riese endlich ausgespien hat, wer weiß?
Dunkle Zukunfts-Facetten?
Angenehm gesättigt im Museums-Restaurant mit Blick auf die Wolke und sensationelle Süßspeisen werfen wir noch einen letzten Blick auf den römischen Silbermünzschatz, der bei den Ausgrabungen für das Museum zufällig gefunden wurde, was irgendwie symbolisch anmutet; denn gefunden wurden auch Schmuck-Glasperlen, wie sie reiche Römerinnen in der Provinz wohl trugen: BLING ist eben doch eine anthropologische Konstante! Die Betrachterin entdeckt jedoch angesichts der kleinen wenig funkelnden Silbertaler eine eher melancholische Facette: Was wird wohl in hundert Jahren bleiben, vom Industriestandort am Wattenbach, angetrieben von sauberem Strom und bewacht von den Bergen? Was von einem Unternehmen, das aus Erfinder- und Familiengeist in abgelegenen Regionen erwuchs und nun sich immer mehr in die Welt verzweigen muss? Was von der Lust am BLING und der Freude an optischer Präzision, von den kleinen glitzernden Glücksmomenten eines geschmückten Daseins und von dem Glitzern in den Augen stolzer bird watcher, wenn sie ein seltenes Exemplar gespottet haben, das in allen Farben der Natur glänzt – aber vielleicht auch nur ein kleiner brauner Vogel ist? Was von den Wunderkammern einer Kunst, gefördert von privatem Sponsortum genau wie der örtliche Fussballverein, abgeschlossen in glitzernder Kälte für alle Ewigkeit oder doch nur für den nächsten Modenwechsel, den nächsten Finanz-Crash, die nächste große Gleichgültigkeit eines über-verwöhnten Publikums? Wird das Labyrinth zuwuchern, das Karussell sich im Leeren drehen, des Riesen unermüdliches Speien versiegen, die Netze zerfetzen in den kommenden Hagelstürmen, und überall liegen kleine Kristallsplitter, sie zeigen die Berge, denn sie sind geblieben, und den Wechsel der Jahreszeiten, das bunte Laub und die hellen Blüten im Frühjahr, vielleicht jedenfalls. Denn die Geschichte ist vergänglich wie die Kunst, und auch die Lust am Schönen und technisch Perfekten sind nur winzige Facetten im großen Menschheits-Kristall, der gerade eher im ziemlich Trüben fischt.
Swarokvsi-Kristallwelten in Wattens, Österreich; Eintritt 19 €
https://kristallwelten.swarovski.com/Content.Node/wattens/index.de.html
Museum Wattens
https://kristallwelten.swarovski.com/Content.Node/blog/12_Museum_Wattens.htm
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