Immer schon hat die Lyrik von der Natur gesprochen, spätestens seit dem römischen Autor Lukrez, der die Naturphilosophie Epikurs in ein umfangreiches Lehrgedicht packte: de rerum natura, eine Geschichte der Natur in Hexametern, von den winzigen Atomen bis hin zum unvorstellbaren All und dem Menschen mitten darin. Doch Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Gattung allseits für ausgestorben erklärt; Brechts Diktum angesichts des Nationalsozialismus „Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist“, schien ein Menetekel für die kommenden lyrischen Generationen. Dann jedoch kam das Waldsterben, die erste größere Umweltkrise, die öffentlich wahrgenommen wird. Das Wort ‚Umwelt‘ machte in diesem Zusammenhang eine steile Karriere: Ursprünglich ein Ersatzwort für das französische ‚Milieu‘ bedeutete es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein einfach eine unspezifische Umgebung, in der sich ein Lebewesen, egal welches, aufhält, entwickelt und mit der es interagiert. Nun bekommt das Wort dann immer mehr einen ethischen und politischen Gehalt: Es verknüpft sich mit der politischen Umweltbewegung, den Diskussionen um Grenzen des Wachstums, mit Überlegungen zum Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Als Synonym durchläuft die Ökologie eine ähnliche steile Karriere – der Begriff des oikos als Gesamthaushalt wurde allerdings ebenfalls bereits in der griechischen Antike geprägt, schon die Stoa fasste unter dem Konzept der oikeiosis ein naturgemäßes Leben im Einklang mit der Allnatur auf.
Diese allgemeinen Umwälzungen im Umwelt- und Naturverständnis werden bereits erstaunlich schnell in der Naturlyrik aufgegriffen. Die 60er- bis 80er-Jahre sind sowohl in der BRD als auch in der DDR eine Blütezeit dessen, was heute ‚Ökolyrik‘ heisst; im englischsprachigen Raum entwickelt sich daran anschließend der etwas weitere Begriff der ‚Ecopoetry‘. Die Ökolyrik thematisiert inhaltlich die Bedrohung der Natur durch den Menschen, den Fortschritt und die Technik; sie verbindet das häufig mit einem ethischen Appell, ist also eine spezifische Art von engagierter Literatur, und sie erklärt es sozusagen, im Rückgang auf Brecht, zu einem Verbrechen, wenn das Gedicht nicht über Bäume spricht. Zwei Autorinnen haben dazu wichtige Beiträge geleistet und neue Formen des Sprechens über die Natur gefunden, die hier kurz vorgestellt werden sollen: Marion Poschmann und Silke Scheuermann.
Marion Poschmann und das Sprachzebra
Die erste ist Marion Poschmann, geboren 1969, die 2017 mit dem Preis für Nature Writing ausgezeichnet wurde. Sie hat einen kleinen Zyklus geschrieben, den sie „Kindergarten Lichtenberg. Ein Lehrgedicht“ nennt; also eine, wenn nicht die traditionsreichste Gattung der Naturlyrik schlechthin. Daraus das dritte Gedicht geht so:
Frühling. Zu Zweierreihen formiert,
überqueren wir die weißen Streifen der Vernunft,
die Aussparungen eines dunklen Grundes.
Hand in Hand gingen wir, im Umhängetäschchen
die Kekse des Philosophen. O Brosamen!
O Hannover! O Großer Garten Benennung!
Das Sprachzebra weidet im Abseits: Der schwarze
Esel des Teufels, zu Zweideutigkeiten verleitet, er
tritt seine Siegel an Sümpfen und Teichen der
Eiszeit, er flimmert in lichten Linien wie eine
Jalousie. Das Sprachzebra weidet im Abseits;
Der Aufklärung herrlichstes Pferd, ein Schimmel,
versteckt hinter schwärzlichen Gittern, im ewigen
Wuhletal steht es und wiehert.
Plattenbaulaub formiert sich zu Zweierreihen,
zu weiteren Reihen, zu einem quadratischen
Baum an den Wänden, Modul einer magischen
Kindheit, die von allen Seiten gleich ist.
Ebenfalls ganz traditionell beginnt das Gedicht mit einer lakonischen Anrufung des Frühlings, also eines der Ur-Topoi der Naturlyrik schlechthin. Die Leserin visualisiert dazu, schließlich geht es um den Kindergarten Lichtenberg, fröhliche Kinder, die in braven Zweierreihen, Händchen an Händchen, einen Zebrastreifen überqueren – der jedoch ziemlich philosophisch aufgeladen auftritt, nämlich als eine Anhäufung „weißer Streifen der Vernunft“ vor einem „dunklen Grund“, also sozusagen als ein Vertreter der Aufklärung. Dazu kommen ganz zwanglos nun die „Kekse des Philosophen“, die berühmten Leibniz-Butterkekse (die im Übrigen wirklich nach dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz aus Hannover benannt sind, der nach einer haltbaren und billigen Verpflegung für Soldaten gesucht hatte); den Zusammenhang stellen zusätzlich drei reichlich ironisch aufgeladene Apostrophen „O Brosamen! O Hannover! O Großer Garten Benennung!“ her (der „große Garten“ ist der Herrenhäuser Park in Hannover, ein großer Barockgarten; dies alles muss die Leserin nicht wissen; es macht es aber lustiger, wenn man es weiß). Es geht also im Gedicht zunächst um die Verbindung von großer Philosophie, Aufklärung im speziellen, und Alltäglichkeiten wie Kindern, Keksen und Umhängetäschchen.
Daran anschließend tritt ein ganz besonderes Tier auf, das „Sprachzebra“ nämlich. Es ist offensichtlich vom Zebra-Streifen ins Gedicht gewandert, wo es nun ein eigenes sprachliches Dasein entwickelt: Es gehört zum einen zum Teufel, wegen der schwarzen Streifen, dem Esel als einem der Symboltiere des Teufels und überhaupt dieser ganzen Zweideutigkeit von Schwarz und Weiß; als solches ist es ein urzeitliches, ganz sicher aber vor-aufklärerisches Wesen, das gern in Sümpfen und Teichen weidet, im Abseits eben. Das Sprachzebra ist aber ebenso ein Pferd (was biologisch halbwegs korrekt ist, Esel und Pferd gehören beide zur Ahnenreihe des Zebras), und zwar sogar das herrlichste der Aufklärung, ein ganz und gar weißer Schimmel nämlich, ein Triumph des Lichts. Warum es nun genau im Wuhletal steht – da muss ich passen, ich habe nämlich kein Wuhletal in Hannover gefunden, es gibt allerdings eines in Ost-Berlin, und vielleicht will uns das auch etwas sagen. Ganz sicher jedoch ist Wuhletal ein sehr schöner Ortsname, der zwanglos wieder zu den Sümpfen und dem Wühlen hinführt und gleichzeitig die W-Allusion mit dem Wiehern aufnimmt.
Im letzten Teil entwirft das Gedicht schließlich eine ganz neue Naturvision, in der die Natur eine bisher ungesehene Allianz mit der etwas trostlosen menschlichen Umgebung eingeht; und das Plattenbaulaub (ein wunderbares Wort!) könnte nun doch wieder auf Ost-Berlin und das Wuhletal verweisen. Wichtig jedoch ist, dass Menschengeschaffenes, Bauwerke, und zwar keine besonders schönen, nun gemeinsam mit den Zweierreihen der Kindergartenkinder zu einer Art zweiten Natur werden: einem quadratischen Baum, „dem Modul einer magischen Kindheit, die von allen Seiten gleich ist“. Mit dem Kindheitsmotiv sind wir wieder in einer neuen Zeit gelandet, der der Romantik nämlich, die auch durch das Magische assoziiert wird: Das Kind kann aus seiner sozusagen „naiven“ Sicht auch dort Bäume wahrnehmen, wo längst keine mehr sind; es kann auch Sprachzebras sehen, die im Abseits weiden. Nur insofern ist es letztlich zu rechtfertigen, dieses Gedicht in die Naturlyrik-Kiste zu stopfen: In ihm wird eine Natur konstruiert, in der Mensch, Tier, Baum und Gebäude (sozusagen als viertes Reich der Natur) ebenso verbunden sind wie im Sprachzebra Gutes und Böses, Schwarzes und Weißes, der Teufel und die Aufklärung.
Weil es so schön war, noch ein zweites Gedicht von Marion Poschmann. Es heißt, ganz einfach: Kunst (beide Gedichte sind übrigens aus dem Gedichtband mit dem schönen Titel Geliehene Landschaften aus dem Jahr 2016).
Kunst
Der einfache Zweig und seine Beiwörter: schwank,
sanft-bewegt, dick-belaubt, lang-gestreckt.
Unter dem Zweig gehen Paare und lesen einander
Gedichte von ihren Mobiltelefonen; im Rücken
nachglühende Freilichtbühnen, regennasse
Nüchternheit.
Der Park mit Schritten beginnen. Mit jedem Blick
Gras emporschießen lassen, Asphaltwege winden, die Brücken
zu Schleifen binden. Einmal geblinzelt, die Tulpe klappt auf.
Köpfe zeigen sich über den Büschen, umflochten
von sehr komplizierten Frisuren, ihr Leib für Sekunden
füllig und grün.
Dann Bleistiftabsätze, Häkelpullover und lodernde Perlonschals,
Flamme und Schwert. Park ist der Leib des Gedankens, und ich,
Gottes Gartenberater, bespreche den Umstand, daß jede
Generation durch ihr Lustwandeln Welt erzeugt oder
entwurzelt wird. Leiber gehen, ganz in Gedanken an Büsche,
weiter.
nächste Woche:
Silke Scheuermann und das Sprechen der Akazien
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