Johann Karl Wezel gehört zu denjenigen Autoren, von denen Kennerinnen des 18. Jahrhunderts vielleicht einmal etwas gehört haben; aber so richtig hat er es in keinen Bildungs-Kanon geschafft und schon gar nicht auf irgendwelche Bestseller-Listen. Und zu seinen am wenigstens gelesenen Texten gehört ein Roman, der in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert und aktuell ist, nämlich Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit aus dem Jahr 1783. Es ist, zum ersten, sein einziger Roman mit einer weiblichen Hauptfigur – und damit schon einmal zugänglich für alle schoengeistinnen, die gern über Fragen weiblicher Identität diskutieren möchten, sei es nun in den Modebegriffen der Gender-Debatte oder auch nur aufgrund der eigenen lebensweltlichen Kompetenz als geschlechtliches Wesen. Es ist zum zweiten, sein einziger Roman, der tragisch endet: Die Titelfigur Wilhelmine stirbt, ihr Liebhaber und zweiter Ehemann Webson ist trostlos. Es gibt auch keine Nachkommen und keinerlei Aussicht mehr, irgendwelche Gärten zu kultivieren (wie im Belphegor, Wezels erstem Roman), sich in der eigenen Sonderlichkeit abseits der Welt einzurichten (wie bei Tobias Knaut oder Kakerlak) oder gar ein erfülltes Eheleben zu führen (wie in Herrmann und Ulrike, Wezels bekanntestem Roman). Am Ende heißt es vielmehr erbarmungslos:
Die Betrübniß begleitete ihn [Wilhelmines Ehemann Webson] und ist noch itzo seine Gesellschafterin in der Einsamkeit: er flieht die Menschen, um sich nicht zu erinnern, daß es Glückselige gibt, die noch besitzen, was er verlor. In seiner Seele herrscht Melancholie und todte Stille, wie auf dem grünen Rasenhügel, worunter seine Wilhelmine ruht.
Kein Happy-End also für Wilhelmine Arend; was den Roman zwar wiederum für die moderne, an leichter Unterhaltung interessierte Leserin eher unverträglich macht, aber ihm andererseits ein gewisses zeitüberdauerndes existentielles Schwergewicht verleiht: Warum siegen eigentlich Melancholie und „todte Stille“? Dieser Befund nämlich ist der Moderne nicht ganz fremd; wir würden anstelle von Melancholie nur von einer Depression sprechen (einer der Volkskrankheiten mit den stärksten Zuwachsraten in der letzten Zeit), medizinisch exakter: von einer bipolaren Störung, dem psychopathologischen Befund eines Schwankens zwischen manischen und depressiven Stimmungen, therapiebar, sicherlich, aber im schlimmsten Fall mit letalem Ausgang. Krankengeschichten aber kommen niemals aus der Mode!
Empfindsamkeit, Sensibilität und Empathie
Was jedoch hat das alles mit der „Empfindsamkeit“ der Hauptfigur zu tun, die schon im Titel ausgestellt wird? „Empfindsamkeit“ ist ein zentraler Begriff für das 18. Jahrhundert – und nicht nur das, nein, „Empfindsamkeit“ ist ein ganzes Lebensmodell für breite Schichten des Bürgertums, speziell seines weiblichen Teils -, aber es scheint kein Problem mehr zu sein, was uns heute umtreibt. Was wäre ein mögliches modernes Äquivalent? „Sensibilität“ drängt sich auf – ein durchaus positiv besetzter Begriff, nicht nur in ästhetischen, sondern auch in ethischen Zusammenhängen. Wer wäre nicht lieber „sensibel“ als ein grober Klotz? „Empathie“ wäre ein anderes mögliches Synonym: die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre emotionale Betroffenheit beim eigenen Handeln mitzubedenken. Empathie ist inzwischen als unentbehrlich zur ethischen Grundausstattung des Menschen gehörige Eigenschaft von den Neurowissenschaften sozusagen amtlich erkannt und bestätigt: Wer unfähig zur Empathie ist, tendiert zu stark sozial unverträglichem Handeln, sei es gegenüber Menschen, Tieren oder dem Leben insgesamt. Zu starke Sensibilität und Empathie jedoch, so legt es Wezels Titel nahe, haben ihre eigenen Gefahren, und ein „Sensibelchen“ möchte auch heute keiner sein. Die Frage, was diese Gefahren sein könnten, ist also durchaus nicht uninteressant oder überholt, zumal sie im Roman in engem Zusammenhang mit verschiedenen Beziehungsformen diskutiert werden: Es geht um Freundschaft, Seelenfreundschaft, Leidenschaft, Liebe und Ehe – und das sind nun endgültig Themen, die man nicht künstlich aktualisieren muss!
Krankheits- und Ehedrama: Zur Handlung
Die Handlung des Romans ist schnell erzählt; sie vereint Komödienmotive wie Intrige und Betrug mit Motiven des traditionellen Liebesromans (Trennung, Wiedervereinigung, Eifersucht) und kommt mit einem übersichtlichen Personensatz aus. Herr Arend, Kaufmann in Hamburg, betrügt seine Frau nach zwei überschwänglich glücklichen Ehejahren mit der Opernsängerin Pouilly, die ihn aber nur ausnutzt. Ein Freund der Familie, Dr. Braun, bemüht sich, ihn zur Rückkehr zu seiner unglücklichen Frau zu bewegen. Wilhelmine Arend, von sensibler Konstitution und Gesundheit, reagiert auf die Bedrohung ihrer Ehe mit leiblicher und seelischer Krankheit. Sie tröstet sich mit ihrer „Seelenfreundschaft“ zu Webson. Scharlotte, eine gemeinsame Freundin von Wilhelmine und Webson, vermutet hinter dieser Beziehung ein Liebesverhältnis. Webson erkennt daraufhin, dass er Wilhelmine auch erotisch begehrt; diese reagiert jedoch zunächst ablehnend auf die vermeintliche Herabwürdigung ihrer platonischen Freundschaft.
Der zweite Teil des Romans zeigt Arend verarmt und heruntergekommen; eine Scheidung der Eheleute scheitert an unsinnigen rechtlichen Vorschriften. Daraufhin kündigt Arend an, dass er nach Amerika auswandern will, und fordert von Wilhelmine eine Wartezeit von drei Jahren. Diese hat sich inzwischen, trotz heftiger Gewissensbisse und bestärkt durch Dr. Braun und Scharlotte, mit Webson verlobt. Die beiden reisen in eine abgelegene Gegend des Landes, um ein neues Leben zu beginnen. Dort werden sie getraut, da Arend inzwischen als in Amerika verschollen gilt. Wilhelmine macht sich jedoch weiterhin Vorwürfe ihrer gescheiterten ersten Ehe wegen und entwickelt immer stärker depressive Symptome. Auch das Eheleben mit Webson entspricht nicht den allzu idealistischen Erwartungen der Jungvermählten; beide peinigen sich mit ihrer Eifersucht, und vor allem Wilhelmine isoliert sich völlig von der Gesellschaft. Schließlich zieht sie sich auch von ihrem Mann zurück in ein Gartenhäuschen, wo sie eine Art Todes- und Grabeskult betreibt und zusehends geistig und körperlich verfällt. Nach einer kurzen Phase starker künstlerischer Produktivität wird sie vom plötzlichen Auftauchen des tot geglaubten Arend so geschwächt, dass sie in den Armen Websons stirbt. Dieser ist untröstlich; der Schluss des Romans zeigt ihn, ebenfalls der dunkelsten Depression verfallen.
Von der Gefährlichkeit falscher Ideale und dem Nutzen der Distanz
Wezels besonderes Verdienst – und damit das, was die Geschichte, trotz ihrer sprachlichen Fremdheit und ihrer uns teilweise fremd gewordenen Beziehungsideale und moralischen Bedenklichkeiten lesenswürdig macht – liegt in der außerordentlich differenzierten Darstellung einer psychischen Entwicklung, in der aus einer ursprünglich positiven Persönlichkeitsanlage eine „Krankheit zum Tode“ wird (um mit Goethes bis heute ungleich bekannterem Werther zu sprechen, der ebenfalls ein Opfer seiner Sensibilität wird). Dabei spielen äußere Umstände eine wichtige Rolle – die man eben nicht immer steuern kann -, aber ebenso innerpsychische Mechanismen, die bis heute in uns allen wirken: Dazu gehören der Hang zu unrealistischen Idealbildern (und wenn es kein Seelenfreund ist, dann sind es eben Popstars, Models oder Fußballhelden); zur Rechtfertigung eigener Defizite durch äußere Umstände („das konnte ich doch nicht ändern!“) und zur Projektion von unrealistischen Idealen in anderen Personen, vor allem in erotischen Beziehungen (den „Traummann“ oder die „Traumfrau„). Dazu gehören ebenso die Neigungen zur emotionalen Selbstverstärkung, die bis hin zur Sucht gehen kann („ich weiß zwar, daß es falsch ist, aber es fühlt sich gut an!“) sowie zur ungeregelten Phantasietätigkeit, noch potenziert durch allgegenwärtige Medien, die unsere Sehnsüchte und Fluchtphantasmen nicht nur bedienen, sondern gezielt steigern.
Das alles ist weder per se falsch noch mit allen Mitteln von Vernunft oder Medizin zu bekämpfen; es ist menschlich, aber gefährlich. Wezel zeigt uns die „Gefahren der Empfindsamkeit“, ohne sie zu verteufeln; und er zeigt sie für verschiedene Charaktere, in verschiedenen Situationen, für Männer wie für Frauen, für treulose Ehemänner wie für sensible Frauenversteher. Und vielleicht ist das ungewohnte Gewand dieser Krankengeschichte und sein etwas unmodischer Zuschnitt gar nicht so schlecht geeignet, um uns diese Gefahren wirklich klarzumachen: Zwingen sie die moderne Leserin doch, einen (oder mehrere) Schritte von seinen Lektüre-Gewohnheiten und seinen moralischen wie außermoralischen Gewissheiten zurückzutreten. Eben diese Distanz wäre auch für Wilhelmine und Webson der erste Schritt zur Besserung gewesen; hätten sie ihre eigene Geschichte gelesen, hätten sie ihr eigenes Schicksal im Spiegel fremder und befremdender Rede gelesen – vielleicht hätte es sie gerettet? Wille und Mut zur Distanz ist schließlich auch nötig um zu sehen, dass literarische Texte einer gewissen Qualitätsstufe ebenso wenig veralten wie anthropologische Universalien und psychische Mechanismen. Lesen lernen war schon immer auch Leben lernen (und beides geht nun mal nicht ohne Mühe ab).
Wezels Roman ist soeben mit weiteren lesenswerten Wezel-Texten in einer kommentierten Neuausgabe erschienen:
Johann Karl Wezel: Kleine Schriften und Gedichte, Prinz Edmund, Wilhelmine Arend, Kakerlak. Hg. von Jutta Heinz und Wolfgang Hörner. Mattes Verlag 2022
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