Geschlechterfragen im Goethe-Wörterbuch
Am 2. Mai 1777 schickte Goethe seiner Seelen- und Herzensfreundin Charlotte von Stein ein kleines Briefchen. Das war nichts Besonderes, das tat er zu diesem Zeitpunkt eigentlich an jedem Tag, und manchmal auch mehrere, und zwar unabhängig davon, ob man sich an dem gleichen Tag auch persönlich sah oder sehen würde; es gehörte einfach zu der ziemlich komplizierten Beziehungspflege, die er mit Charlotte jahrelang betrieb. Auf diesem besonderen Briefchen steht (und zwar genau in dieser Schreibung, die man heute kaum als „recht“ zu bezeichnen wagen würde): „Dancke für Ihr Zettelgen. Ich erhielts als der Herzog und noch iemand und ein Paar Vertrautinnen [….] viel Lärmten und Unordnung machten“. Zur Erläuterung: Der „Herzog“ ist Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, Goethes Arbeitgeber wie Intimfreund, Sauf- und Jagdgenosse im Weimar; „iemand“ ist eine Chiffre für die schöne Corona Schröter, Kammersängerin alldorten; Goethe fand sie genauso wie der Herzog ziemlich sexy. Aber wer sind die „paar Vertrautinnen“, und, interessanter neben all diesem Sex-and-the-City-Hofklatsch: Was ist das für ein außerordentlich interessantes Wort?
Die ‚Vertrautinnen‘ oder Sex and the City in Weimar
Wenn man wissen will, was Goethe mit einem Wort genau meinte, kann man das Goethe-Wörterbuch konsultieren (Disclaimer: die Autorin arbeitet für selbiges und betreibt im Folgenden Produktwerbung!) Das Goethe-Wörterbuch verzeichnet alle Wörter, die Goethe jemals benutzt hat, genauer: alle, von denen schriftlich (oder in Gesprächsnotaten) dokumentiert ist, dass er sie jemals benutzt hat. Es sind insgesamt um die 93.000, die genaue Zahl steht noch aus, das Projekt ist nämlich nicht beendet. Das ist ziemlich sicher der umfangreichste Wortschatz, über den jemals ein Sprecher oder eine Sprecherin deutscher Sprache verfügt hat, und wird es wohl auch bleiben.
Wozu genau nun so ein Goethe-Wörterbuch gut ist, erschließt sich nicht gleich jeder. Oder jedem, aber es gibt viele Dinge im großen Reich der Wissenschaften, deren Nutzen sich nicht jedem gleich erschließt. Oder jeder. Deshalb ein Beispiel: Man kann damit die große Goethe-Frage schlechthin untersuchen, nämlich: Wie hält es der Weimarer Olympier eigentlich mit der Geschlechtergerechtigkeit? Immerhin hat er ein Wort wie „Vertrautin“ erfunden, das deshalb auch einen eigenen Lexikoneintrag im Goethe-Wärterbuch bekommen wird: Eine „Vertrautin“ ist nämlich etwas anderes als ein „Vertrauter“!
Das hat die Verfasserin dieses Blogs und des entsprechenden Artikels im Goethe-Wörterbuch dadurch entdeckt, dass sie ihrer lexikalischen Sorgfaltspflicht nachkam und überprüfte, um wen es sich bei den „Vertrautinnen“ eigentlich handelt (gelobt sei die Literaturwissenschaft, die alles, was über drei Schritte mit Goethe verbunden werden kann, erforscht hat! Na gut, google hilft auch ziemlich gut). Es handelt sich bei ihnen um: Wilhelmine Probst und Marie Salome Philippine Neuhaus. Erstere ist in die Geistesgeschichte eingegangen als – genau: lebenslange Freundin von Corona Schröter, die sie aus der Provinz mit nach Weimar brachte, wo sie die hübsche Sängerin angeblich vor den Avancen der Männerwelt beschützt hat; sie blieb ihr treu ergeben bis an Coronas (tragisch frühes) Sterbebett. Die zweite war ebenfalls Hofsängerin in Weimar, und wir nehmen an: auch eine BFF? Die allerbeste Freundin ist nämlich etwas anderes als der allerbeste Freund (grammatisch männlich oder biologisch männlich, in diesem Fall: egal). Und das hat Goethe schon gewusst, und mit seiner allgegenwärtigen Bemühung um sprachliche Präzision selbst in orthographisch und auch sonst ziemlich verlotterten „Zettelgen“ benannt!
‚Putzmacherin‘‚ Oberförsterin‘, ‚Abgöttin‘, ‚Bürger und Bürgerinnen – feminines Genus und Inklusion
Frau kann, auf die sprachpolitische Fährte gesetzt, nun im Goethe-Wörterbuch nach ‚Anverwandtinnen‘ (ja, gibt es auch als Artikel) dieser Wortbildung suchen. Dabei findet man eine Reihe klassischer weiblicher Berufe, die quasi-natürlich im Femininum stehen: Es gab damals wie heute nur ganz wenig Putzmacher, und die ‚Näherinnen‘ waren wie die ‚Spinnerinnen‘ überwiegend weiblich in der ganz korrektheitsresistenten Realität. Hingegen waren ‚Oberförsterinnen‘, ‚‘Professorinnen‘ und ‚Oberkammerherrinnen‘ bei Goethe nicht besonders emanzipierte working girls, sondern die Ehegattinnen ebensolcher Herren; und bei Titeln war Goethe geradezu überkorrekt. Zudem beachtete er das grammatische Geschlecht (genus) sehr korrekt bei einer Reihe recht schöner weiblicher Worte: So gibt es (samt Lexikoneintrag) die ‘Abgöttin‘ – natürlich die Natur, was sonst, die eben weiblich ist, vom Genus her und auch sonst mindestens zur Hälfte; oder die ‚Allbeherrscherin‘ – in einem Fall, eher ironisch, die „Ehre“, im anderen gar nicht so ironisch, wie es klingen mag, die „Geometrie“, die streng die Kreise der Natur regelt.
Es gibt aber auch eine Reihe von Fällen, in denen Goethe beide Geschlechter gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Das muss nicht immer nett sein (insofern schwache Triggerwarnung für sensible Gemüter): „Bei den Deutschen wird das Ideelle gleich sentimental, zumal bei dem Troß der ordinären Autoren und Autorinnen“ (das Verfassen schlechter Literatur war schon immer kein Männer-Vorrecht). Und im Lesen herrscht Geschlechtergerechtigkeit wie im Schreiben: „Tagtäglich sehen wir, daß ein Theaterstück, ein Roman ohne die mindeste Rücksicht auf Recensionen von Lesern und Leserinnen nach individuell eigenster Weise aufgenommen, gelobt, gescholten, an’s Herz geschlossen oder vom Herzen ausgeschlossen werde, je nachdem das Kunstwerk mit irgend einer Persönlichkeit zufällig zusammentreffen mag“. In gebildeten geselligen Kreisen ist die Genus-Doppelung ebenfalls sprachlicher Standard: „Ich habe selten einen Cirkel so aufmerksam und die Seelenkräfte so thätig gesehen, als wenn irgend etwas Neues, das einen Mitbürger oder eine Mitbürgerin heruntersetzt, vorgetragen wurde“ (aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten; es spricht ein lebensweiser „Alter“, er darf das; und nein, es gibt keine „Altinnen“, nur „Altistinnen“).
Die ‚Männin‘ – ein aufschlussreiches Missverständnis
Am schönsten aber sind und bleiben Goethes Hapaxlegomena (das Wort kommt aus dem Griechischen, und es bedeutet: „nur einmal gesagt“; es sind also Worte, die nur einmal vorkommen im Textbestand), wie eben die „Vertrautinnen“. Zu ihnen gesellt sich freundschaftlich die ‚Männin‘, die zudem das Thema ‚weibliches Schreiben‘ berührt und ein wenig schon im Geschlechter-Spektrum zu schillern beginnt. Also, längere Geschichte: Es geht um einen Roman, der unter dem Titel Bekenntnisse einer schönen Seele 1806 erschienen ist, und von dem Goethe in einer Mini-Rezension schreibt: „Wir hätten aber doch dieses Werk lieber ‚Bekenntnisse einer schönen Amazone‘ überschrieben, theils um nicht an eine frühere Schrift zu erinnern [einen gleichnamigen Teil seines eigenen Bildungsromans Wilhelm Meisters Lehrjahre], theils weil diese Benennung charakteristischer wäre. Denn es zeigt sich uns wirklich hier eine Männin, ein Mädchen wie es ein Mann gedacht hat“. Goethe geht offensichtlich davon aus, dass der Verfasser des anonym erschienenen Romans ein Mann ist, detektiert aber eine geschlechtliche Grauzone im Dargestellten selbst, die er im Begriff „Männin“ aufs schönste grammatisch fasst. Weiter unten in der Rezension führt er dazu aus: „Die Hauptfrage, die das Buch behandelt, ist: wie kann ein Frauenzimmer seinen Charakter, seine Individualität, gegen die Umgebung retten? Hier beantwortet ein Mann die Frage durch eine Männin. Ganz anders würde eine geist- und gefühlvolle Frau sie durch ein Weib beantworten lassen“. Das ist ziemlich lustig, weil tatsächlich wohl eine geist- und gefühlvolle Frau den Roman geschrieben hat, nämlich Friederike Helene Unger (1741-1813): abenteuerlicher Lebenslauf, eine Reihe erfolgreicher Romane, nicht immer eine unbedingte Verfechterin von Frauenemanzipation.
Hätte man all das vermutet hinter dem unscheinbaren Hapaxlegomenon ‚Männin‘? Vielleicht hätte die Bezeichnung auch Friederike Unger gefallen; und Goethe endet die Rezension, die ziemlich auf dem falschen Fuß begonnen hatte, auf jeden Fall mit einem ganz richtigen und energischen Schritt: in die richtige: „Jeder Mensch, das Weib so gut als der Mann, will seine Individualität behaupten, und behauptet sie auch zuletzt, nur jedes auf seine Weise. Wie die Frauen ihre Individualität behaupten können, wissen sie selbst am besten, und wir brauchen sie es nicht zu lehren“. Außerdem gibt es dafür - Vertrautinnen.
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