„Eine Frau braucht Geld und einen Raum für sich allein, wenn sie schreiben soll“ – so hat die englische Autorin Virginia Woolf im Jahr 1929 die Voraussetzungen dafür, dass Frauen in Zukunft als Schriftstellerinnen erfolgreich tätig sein können, auf den Punkt gebracht. Das Leben und Schreiben der kanadischen Autorin Alice Munro, die vor wenigen Jahren in hohem Alter gestorben ist, wirkt wie eine Illustration zu diesem so einfachen und gleichzeitig so wahren Satz. Dass sie einmal (im Jahr 2013) den Nobelpreis für Literatur erhalten würde, hätte sie sich wohl kaum träumen lassen, als sie in den 50er Jahren in der kanadischen Provinz auf einer Silberfuchsfarm aufwuchs; es war ein ländliches, einfaches, wie man heute wohl sagen würde: eher bildungsfernes Milieu. Gleichwohl hat Alice Munro schon als Kind mit dem Schreiben begonnen; und sie hat unter den unterschiedlichsten äußeren Umständen, unter sehr beengten finanziellen Verhältnissen (kein Geld), in akuter Raumnot (auch von einem eigenen Zimmer war noch weit und breit nichts zu sehen) weitergeschrieben bis heute, bis über ihr achtzigstes Lebensjahr hinaus. Sie hat sich zudem niemals von ihrer Herkunft distanziert, sondern ist sowohl ihrer Heimat als auch ihren familiären und sozialen Wurzeln treu geblieben: Sie bildet den Raum ihrer zu Recht berühmten Kurzgeschichten.
Das alltägliche Leben
In der Kleinstadt Wingham in Ontario wurde Alice Ann Laidlaw am 10. Juli 1931 geboren, hier wuchs sie auf und ging zur Schule. Beide Elternteile haben sie mindestens ebenso stark geprägt wie die Landschaft ihrer Kindheit. Ihr Vater Robert Eric Laidlaw hatte eine Silberfuchs- und Nerzfarm aufgebaut, die jedoch mit Kriegsausbruch kaum noch rentabel war; er arbeitete danach hart in einer Gießerei, um die Familie zu ernähren. Kurz vor Ende seines Lebens entdeckte er sein Talent als Autor; er schrieb die Geschichte seiner Familie, die von Schottland nach Kanada ausgewandert war, auf. Die Mutter war Lehrerin und hatte offenbar höhere soziale Ambitionen; die sich daraus ergebenden Konflikte hat Munro in vielen ihrer Kurzgeschichten geschildert. Auch Alice Munro versuchte schon früh, den beengten Verhältnissen zuhause zu entkommen; sie las sehr viel, wie auch in diesem Absatz geschildert, und war eine gute Schülerin. Nach Abschluss der High School begann sie ein Studium – Englisch und Journalistik – an der regionalen University of Ontario. Um ihr Studium zu finanzieren, nahm sie diverse Nebenjobs an, die später auch in vielen ihrer Kurzgeschichten auftauchen: als Kellnerin, als Tabakpflückerin, als Bibliotheksaushilfe. Die beste (zudem sozial akzeptierte) Fluchtmöglichkeit war jedoch immer noch die Heirat: Munro schloss ihr Studium nicht ab, sondern heiratet 1951 ihren Mitstudenten James Munro, und zusammen zogen sie auf die andere Seite von Kanada, an die Westküste nach Vancouver. James nimmt einen Brotjob in einem Warenhaus an, und Alice bekommt Kinder: 1953 die erste Tochter Sheila; 1955 hat sie eine Totgeburt, Catherine; 1957 folgt Jenny. In einer späteren Äußerung hat sie diese Phase so zusammengefasst: „Das waren die Alternativen für mein Leben: Heirat und Mutterschaft, oder das schwarze Leben als Künstlerin„. Denn sie schrieb weiter, wo sie die Zeit nur finden konnte, während die Kinder schliefen, bevor der Ehemann nach Hause kam und das Abendessen auf dem Tisch stehen musste, zwischen der Wäsche und dem Einkauf. Ihr Ehemann akzeptiert ihre Autorschaft, nimmt sie aber nicht ernst; auch er ist nicht glücklich im Kaufhaus, die Ehe leidet zunehmend.
1963 entschließen sich beide deshalb zu einem großen Schritt: Sie ziehen um nach Victoria auf Vancouver Island und eröffnen dort eine Buchhandlung, Munro’s Books; sie existiert heute noch, aber das heutige prächtige Erscheinungsbild täuscht über die bittere Not direkt nach der Gründung hinweg. Zwar können beide Ehepartner endlich ihren literarischen Interessen nachgehen, aber sie müssen bis zur Erschöpfung arbeiten, es bleibt noch weniger Zeit zum Schreiben, und das Einkommen reicht anfangs kaum für das Nötigste. Die Ehe nimmt jedoch durch das gemeinsame Engagement noch einmal einen kurzen Aufschwung, 1966 wird als Nachkömmling die Tochter Andrea geboren. 1968 erscheint schließlich, nach einzelnen Veröffentlichungen in Zeitschriften, die erste Sammlung von Kurzgeschichten Munros als Buch: Dance of the Happy Shades. Munro gewinnt damit auf Anhieb den Governor General’s Award, Kanadas höchste literarische Auszeichnung. Damit beginnt sozusagen ihr drittes Leben: als freie Autorin von ständig wachsenden Ruhm.
1972 lassen sich Alice und James Munro scheiden; die Trennung ist einvernehmlich, die Kinder werden abwechselnd von beiden betreut, man bleibt in Verbindung. Alice nimmt wechselnde Positionen an kanadischen Universitäten an, wo sie kreatives Schreiben lehrt (was sie nicht glücklich macht). 1976 bereits heiratet sie zum zweiten Mal, den Geographen Gerald Fremlin, der mit ihr die Leidenschaft für die kanadische Landschaft und Herkunft teilt. Sie ziehen zurück an die Ostküste, in Fremlins Heimatstadt Clinton, nur ca. 50 km entfernt von Alices Geburtsstadt Wingham. Dort wird zu ihren Ehren 2002 der Alice Munro Literary Garden eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt hat Alice Munro zehn Bücher mit Kurzgeschichten veröffentlicht, viele von ihnen sind vorab in renommierten kanadischen und amerikanischen Zeitschriften erschienen; sie hat alle wesentlichen Literaturpreise (außer dem Nobelpreis) bekommen und gilt als die bedeutendste kanadische Autorin ihrer Zeit. Persönlich lebt sie zurückgezogen; nach einigen größeren Reisen unternimmt sie nur selten Lesetouren, gibt wenige Interviews und hält sich vom literarischen Betrieb so weit wie möglich fern. Auch den Nobelpreis hat die damals 80jährige Autorin nicht selbst entgegengenommen, sondern ihre Tochter Jenny in Vertretung. Sie hat nach einer Krebserkrankung und Herzproblemen mehrfach öffentlich angekündigt, dass ihr 2012 erschienener Band Dear Life ihr letztes Buch sein werde, und so war es auch – auch wenn sie sich ein Leben ohne das tägliche Schreiben nicht vorstellen kann, wie sie immer wieder betont hat.
Das tägliche Schreiben
Alice Munros Leben ist zwar nicht unbewegt ist, aber auch, sieht man vom „black life“ als Autorin ab, nicht ungewöhnlich; ein typisches Frauenleben, geprägt von den üblichen Konflikten zwischen klassischen Rollenbildern und emanzipatorischem Freiheitsstreben, mit familiären Sorgen und Freuden, mit finanziellen Rückschlägen und Erfolgen, mit Krankheiten und Todesfällen. Dazwischen jedoch eingezwängt ist das Schreiben – das tägliche Schreiben, wie Alice Munro in vielen Interviews betont hat: „Ich schreibe jeden Morgen, sieben Tage in der Woche. Ich beginne um acht Uhr mit dem Schreiben und höre gegen elf Uhr auf. Dann mache ich andere Sache für den Rest des Tages„. Das mag nicht nach viel klingen, aber wer jemals konzentriert einen Text geschrieben hat, weiß, dass viel mehr nicht möglich ist; Thomas Manns Tagesablauf (auch er war ein sehr disziplinierter Autor) sah nicht sehr viel anders aus. Gleichzeitig ist Munro jedoch verfolgt vom (typisch weiblichen) schlechten Gewissen, ihren Pflichten nicht gerecht zu werden: „Wenn man etwas mit Pferden macht, sehen die Leute, dass man fleißig ist; aber wenn man fleißig damit beschäftigt ist, ein Gedicht zu machen, sieht man aus, als ob man faul sei, und man fühlt sich ein wenig seltsam oder peinlich berührt, wenn man erklären muss, was man tut„, so heißt es in einer ihrer Erzählungen. Nein, Schreiben ist, auch wenn man es nicht sieht, eine ernsthafte, anspruchsvolle Tätigkeit, und es ist eine, die – entgegen anders lautenden Gerüchten über spontane Genialität – sehr langwierig und über lange Durststrecken hinweg erlernt und geübt werden muss, bis man sie so gut beherrscht wie Alice Munro.
Alice Munro gilt als technisch versierte Autorin, deren Prosa, trotz ihrer Einfachheit und Ungekünsteltheit, perfekt in Rhythmus, Modulation und knapper Pointierung ist. Sie selbst hat immer wieder in Interviews hervorgehoben, dass Schreiben für sie kein reflektierter Akt ist; sie hat sich auch praktisch nie theoretisch über ihren Stil oder ihre literarischen Ziele geäußert. „Du denkst nicht darüber nach, warum du eine Geschichte schreibst. Du schreibst sie, du hoffst, dass sie funktioniert, sie ist fertig. Jemand anders kann viel besser sehen als du selbst, was es ist, dass du zu sagen versuchst“ – so hat sie ihre eigene Einstellung in einem Brief einmal beschrieben. Tatsächlich braucht man weder komplizierte literarische Programme noch einen Grundkurs Literaturwissenschaft, um Alice Munros Geschichten zu verstehen: Sie sind aus dem täglichen Leben, und sie sprechen die Sprache des täglichen Lebens, sei es in den Dialogen, den Gedanken der Figuren oder den beschreibenden Passagen; aber sie sind, wir denken an Virginia Woolf, über das Alltägliche hinaus geformt, veredelt, haltbar gemacht. Und auch wenn wir Munro glauben, dass das bei ihr kein bewusster, reflektierter Prozess ist (das gilt im Übrigen für alle kreativen Prozesse, mehr oder weniger), ist es ganz sicher ein technisch aufwändiger: Munro ist dafür berühmt, dass sie ihre Texte immer wieder überarbeitet, lange an ihnen feilt, an winzigen Details bastelt, auch ganze Texte wieder verwirft, wenn sie eben nicht „funktionieren“ (einmal hat sie die ganze erste Auflage einstampfen lassen, auf eigene Kosten, um noch eine Korrektur anbringen zu können). Sie hat diesen mühsamen Lernprozess einmal folgendermaßen beschrieben: „Ich hatte ein Notizbuch für die Schule gekauft und versucht zu schreiben – habe geschrieben, Seiten, die ganz vollmundig anfingen und dann vertrockneten, so dass ich sie ausreißen musste. Ich habe dies wieder und wieder getan, bis nur noch die Hefthülle übrig war. Dann habe ich das nächste Notizbuch gekauft und das Ganze von vorn begonnen. Es war, als hätte man eine heimliche Schwangerschaft und jede Woche eine Missgeburt„. Ein drastisches Bild, zweifelsohne, aber ganz gewiss ein weibliches und eines, das sich einprägt.
Kurze Geschichten
Alice Munro hat Kurzgeschichten geschrieben, und zwar ausschließlich (auch wenn diese manchmal ein wenig länger sein können). Lange Zeit hat sie sich mit dem Versuch gequält, einen Roman zu schreiben (große Autoren schreiben Romane, keine Kurzgeschichten!), aber es hat ihr nicht gelingen wollen. „Ich habe alle diese unverbundenen Realitäten in meinem eigenen Leben„, hat sie einmal gesagt – ihre verschiedenen Leben, als Mutter und Tochter, als Autorin und Hausfrau -; „das war eines der Probleme, warum ich keine Romane schreiben konnte. Ich habe nie gesehen, dass die Dinge besonders gut zusammenhängen„. Die Kurzgeschichte ist von Anfang an ihre Form gewesen, aber sie hat sie derart perfektioniert, dass viele Rezensenten in ihren kleinen Geschichten große Romane gesehen haben, sozusagen kondensiert auf ihre Essenz (die moderne Leserin in chronischer Zeitnot dankt es…). Sie gehen meist aus von einer Geschichte, wie man sie alltäglich erzählt, wie man sie vor allem auf dem Land erzählt oder in der Kleinstadt, wo die Leute sich noch kennen, wo man klatscht und tratscht, aber eben auch: mit- und übereinander spricht. „Es gibt immer einen Ausgangspunkt in der Realität„, hat sie gesagt. Danach jedoch beginnt der schwierige, der eigentlich kreative Teil: nämlich die ganz spezielle Art und Weise, diese ganz spezielle reale Geschichte zu erzählen, herauszufinden. Entscheidungen müssen getroffen werden: Wer erzählt die Geschichte eigentlich? Wird es eine Ich-Erzählung oder eine Erzählung in der dritten Person? (was einen sehr wesentlichen Unterschied für die Wirkung auf den Leser macht!) Wird sie aus der Erinnerung erzählt oder in der Gegenwart? Was wird erzählt, was nur angedeutet, was ganz ausgelassen? In diesem experimentellen Prozess entsteht die fiktive Geschichte, die jedoch den Realitäts-, den Lebensgehalt der ursprünglichen Geschichte paradoxerweise klarer, konzentrierter zum Ausdruck bringt. Alice Munro hat das so beschrieben: „Das ist die einzige bewußte Entscheidung, die ich mache: über das zu schreiben, was mich interessiert, und zwar in einer Weise, die mich interessiert und mir Vergnügen macht. Es mag nicht wie Vergnügen aussehen, weil die Schwierigkeiten beim Schreiben mich trübsinnig und zerstreut machen, aber das ist es: das Vergnügen, eine Geschichte, die ich erzählen will, so vollständig wie ich kann; und dabei überhaupt herauszufinden, was die Geschichte eigentlich ist, indem ich eine Art und Weise entwickele, wie sich sie erzähle“.
Wie nun genau stellt Munro es an, dass das Alltägliche, dass die Geschichten, die wir uns auf der Straße erzählen und auf dem Marktplatz, dass die alten Familienanekdoten oder das dunkle Gerücht, auf einmal wirklich und wahr erscheinen, voll von einem Leben, von dem wir bisher nicht genau wussten, obwohl wir mittendrin stehen? Das hat beispielsweise mit den Räumen und den Gegenständen in ihnen zu tun. Ein vielzitierter Titel einer frühen Kurzgeschichte von Munro lautet: „This ordinary place is sufficient, everything here is touchable and mysterious“ – (in einer schwachen Übersetzung, die Übersetzung gerade der einfachen Sprache Munros ist sehr schwierig: „der ganz normale Raum genügt, alles hier ist gleichzeitig berührbar und mysteriös„). Es sind die ganz normalen Dinge, die eine Art Aura, eine neue Bedeutung dadurch entwickeln, dass sie in einer Erzählung in ein bestimmtes Licht gestellt werden.
Vielleicht kann man das am besten anhand eines Gemäldes illustrieren, das Munro selbst benutzt hat, um ihr Gefühl gegenüber ihrer Heimatstadt Wingham zu beschreiben. Es handelt sich um ein Gemälde des Amerikaners Edward Hopper, The Barber Shop, aus dem Jahr 1931; und es zeigt, wie der Name schon sagt, einen Friseurladen; aber „so alltäglich und so vertraut; und trotzdem ist alles in ihm, in dem milden Licht, voll eines entfernten Murmelns, einer beinahe zärtlichen Vorahnung, eines Geheimnisses, das in den Bäumen lauert„. Greifbar und geheimnisvoll – dieser Eindruck entsteht bei Hopper, wie Munro zu Recht hervorhebt, zu einem großen Teil durch die Lichtführung mit ihren scharf getrennten Licht- und Schattenpartien. Die Figuren sind ebenso vereinfacht wie die Gegenstände, die Friseurutensilien, die räumliche Umgebung; und trotzdem wirkt alles „touchable and mysterious„: Man kann die Dinge anfassen, aber sie verlieren trotzdem ihren Zauber nicht, der in diesem Bild für die Ewigkeit gebannt ist.
Natürlich ist auch der Friseur ein Ort, wo man Geschichten hört. „Wenn du in einer Kleinstadt wohnst, hörst du alle mögliche Sache, über alle möglichen Leute. In der Stadt hörst du meist nur Geschichten über die gleiche Sorte Leute„, so hat Munro begründet, dass sie nicht nur in ihrem Leben, sondern in beinahe all ihren Geschichten im ländlichen Raum ihrer Herkunft geblieben ist. Die Leute auf dem Land seien nicht „sophisticated„, nicht kultiviert, anspruchsvoll, raffiniert und kompliziert; und das sind auch ihre Geschichten nicht und wollen es nicht sein. Was nun nicht heißt, dass man deshalb nur über das Land und nicht über die Stadt schreiben soll, und das nur einfach und niemals ästhetisch komplex; Munro hebt vielmehr hervor, dass sie ganz persönlich ihre Wahl eben auf diese Weise getroffen habe: Es geht ihr um Leute, die nicht „sophisticated“ sind – „und ich versuche auch, den Feminismus und Kanada im Blick zu behalten und meine Pflicht ihnen beiden gegenüber zu erfüllen„, so ergänzt sie mit einem Augenzwinkern. Wobei Feminismus hier weder komplizierte gender-Theorie noch kämpferisches Auftreten im Geschlechterkampf meint. Aber häufig sind Frauen die Hauptfiguren ihrer Geschichten, die im ganz normalen Leben um ein bisschen Freiheit kämpfen, ihre kleinen Freiräume suchen, genau wie sie Alice Munro gesucht hat, um weiter schreiben zu können. Sie erleben jedoch durchaus auch ungewöhnliche Dinge. Die Geschichten von Alice Munro nehmen oft unerwartete Wendungen, etwas Dunkles kommt plötzlich zum Vorschein, was lange im Verborgenen geschlummert hatte, es passieren Katastrophen, Leute werden krank und sterben, Eheleute betrügen und belügen sich, Kinder sind so gemein, wie das nur Kinder sein können, Alte terrorisieren Junge, Junge Alte. Aber es sind keine Krimis, in denen es darum geht, den Schuldigen zu finden – Schuld sind wir alle, irgendwie, und wer kann das schon im Einzelnen wissen. Es sind auch keine Schauergeschichten (obwohl einige eine Tendenz dazu haben): Das Dunkle, die Bedrohung, sie wohnen unter uns, im Alltag, sie können auftauchen, aber genauso schnell wieder verschwinden, und neben ihnen wohnen das kleine Glück und die Freude und der Sommer am Meer. Und es sind eben keine Romane: Sie sind nicht vollständig in dem Sinne, dass sie einen definierten Anfang und einen festen Abschluss haben – eine Heirat, ein Todesfall, eine Katastrophe oder ein Happy End. Sie fangen irgendwo an, mittendrin, mitten im Leben; die Figuren werden uns nicht vorgestellt, aber wir werden sie auf wenigen Seiten gut kennen lernen (und vielleicht werden wir manche von ihnen nie mehr vergessen); und sie hören häufig genauso unvermittelt auf, mittendrin, nach einer erstaunlichen Wendung, einfach so. Das ist zunächst frustrierend für den Leser, der doch wissen will, wie es ausgeht; Geschichten, Romane gehen aus, deshalb lesen wir sie doch! Aber das Leben geht nicht aus, es hört auf, irgendwann, häufig ohne Ankündigung, und muss dann doch weitergehen; auch das kann man an Alice Munros Kurzgeschichten aus dem wahren Leben lernen.
Bekannt, mysteriös und berührbar
Als eine Art Lektüreanleitung für ihre Texte könnte man vielleicht folgende Passagen aus einem ihrer ganz wenigen „theoretischen“ Essays zu ihrem Werk verstehen, in dem sie Geschichten als einen Raum präsentiert:
„Man folgt einer Geschichte nicht wie man einer Straße folgt. Sie ist eher wie ein Haus. Du gehst hinein und bleibst eine Weile dort, du wanderst hin und her und bleibst stehen, wo du möchtest; du entdeckst, wie Räume und Korridore sich zueinander verhalten, oder wie sich die Außenwelt verändert, wenn du durch diese Fenster auf sie hinausschaust. Und du, der Besucher, die Leserin, wirst ebenso durch diesen geschlossenen Raum verändert, egal ob er geräumig und freundlich oder voller gekrümmter Gänge ist, egal ob spärlich oder reichlich möbliert. Du kannst wieder und wieder hineingehen, und das Haus, die Geschichte, enthalten immer noch mehr, als du beim letzten Mal gesehen hast. Sie haben auch ein starkes Selbstbewusstsein davon, dass sie um ihrer selbst Willen gebaut wurde, ihrer eigenen Notwendigkeit folgend, und nicht etwa nur, um dich zu schützen oder zu betören“.
Alice Munros Geschichten eröffnen Räume, von denen uns viele auf den ersten Blick bekannt vorkommen – aber ein wiederholter Rundgang wird uns auch Räume erschließen, kleine Winkel, versteckte Ecken, düstere Nischen, vielleicht gar einen Geheimgang, die wir noch nicht kannten oder bisher nicht erschließen wollten oder allein nicht finden konnten. Alles ist bekannt – und gleichzeitig mysteriös und berührbar.
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