Werthers Leiden. Ach ja, die alte Geschichte, von der leidenschaftlichen, aber aussichtslosen Liebe eines jungen Mannes zu einem hübschen jungen Mädchen auf dem Lande, sie war leider schon anderweitig vergeben. Am Ende hat er sich erschossen, und einige sollen ihm nachgefolgt sein, nachdem sie den Roman gelesen hatten; man nannte das „Werther-Fieber“, und es ergriff ganz Europa. Der Autor hingegen, ein junger Mann aus der Stadt, der sich gern und leidenschaftlich in hübsche junge Mädchen auf dem Lande verliebte, die gelegentlich auch schon anderweitig vergeben waren, und der sich selbst dann aber nicht erschoss, sondern entschlossen weiterritt und Europa mit der Feder eroberte – war natürlich Johann Wolfgang von Goethe. Wissen wir alles, haben wir vielleicht selbst gelesen, als wir jung waren und hübsch und uns gern leidenschaftlich verliebten (wir haben überlebt, sonst würden wir das hier nicht lesen bzw. schreiben)!
Was aber wissen wir eigentlich von dem hübschen jungen Mädchen? Was wissen wir von Lotte? Komischerweise wissen wir mehr von ihrem realen Vorbild (einer Dame namens Charlotte Buff), weil Thomas Mann einen ganzen dicken Roman über sie geschrieben hat (Lotte in Weimar); er imaginiert sich, wie sie später, als gereifte Dame mit leicht zitternden Händen, nach Weimar kommt und den großen, genauso gealterten Dichter – dann doch nicht trifft, es kommt immer etwas dazwischen. Aber immerhin, Thomas Mann! Charlotte ist aber nicht Lotte; also: die Lotte im Roman, die sich so rührend nach dem Tod der Mutter um ihre acht Geschwister kümmert und ihnen abends das Brot schneidet, ganz freihändig und unverletzt; und die gern tanzt, die ganze Ballnacht durch, und die gern liest, was man damals so liest, nämlich: Klopstock! Und die, es gehört zu den rührendsten Stellen des Romans, ihrem Ehemann auch noch nach der Heirat Zettelchen schreibt auf denen steht: „Bester, Liebster, komm sobald du kannst, ich erwarte dich mit tausend Freuden!“ Na gut, so redete man damals. Aber es ist diejenige Stelle im Roman, wo wir Lotte am deutlichsten sehen.
Es gibt im Roman ein paar Hinweise darauf, dass auch Lotte ziemlich verliebt ist in Werther; aber wer weiß, vielleicht ist das nur das Wunschdenken der jugendlichen Leser, die natürlich wollen, dass eine Liebesgeschichte gut ausgeht; dass es wirklich die ganz große Liebe war, von beiden Seiten, und nicht nur der Irrtum eines Wirrkopfes, der am Ende die Pistole des Nebenbuhlers ausleihen muss, um sich vor den Kopf zu schießen, und Lotte packt sie ihm sogar noch ein! Und schon wieder sind wir bei Werther gelandet, wir wollten doch eigentlich über Lotte nachdenken! Was fühlt Lotte überhaupt, was fühlt Lotte insbesondere für Werther? Da Thomas Mann das nicht für uns imaginiert und aufgeschrieben hat, müssen wir es halt selbst –
– aber nein, wir müssen gar nicht! Denn Goethe hat später noch einmal die Feder angesetzt, um eine kleine Wertheriade zu schreiben – keine Fortsetzung, logischerweise, sondern den Ansatz einer Vorgeschichte. Versteckt ist sie verwirrenderweise unter dem Titel Briefe aus der Schweiz. Erste Abteilung, aber das ist nur von Bedeutung insofern, als Werther hier – und zwar bevor er nach Wahlheim kommt und Lotte kennenlernt – eine Reise durch die Schweiz macht (wie der junge Goethe auch, natürlich). Werther erzählt also in diesem Fragment ein paar Anekdoten von seiner Schweizerreise; und eine davon (und damit sind wir nach längeren Umwegen auch endlich dort, wo wir eigentlich hinwollten) ist die Geschichte seiner früheren Liebe, Leonore. Und das ist eine ziemlich bemerkenswerte Geschichte. Wir könnten sie jetzt zur Gänze zitieren, aber für uns Ungeduldige hier das Wesentliche im Zeitraffer:
Also, Werther ist in der Schweiz unterwegs, und er wird von einer Familie auf Empfehlung hin gastfreundlich empfangen, beköstigt, untergebracht und unterhalten, wie das damals so üblich war. Es handelt sich um einen begüterten Haushalt, und man lebt in einer Art Großfamilie in der wunderschönen Schweizerischen Landschaft ein fröhliches Landleben, befreit vom steifen Zwang der Städte. Deshalb müssen auch die anwesenden jungen Leute abends nicht sich mit den Alten am Spieltisch langweilen, sondern man macht, alle zusammen, eine Art Partyspiel (und ja, das war nicht unüblich, gerade Pfänderspiele waren äußerst beliebt, es durfte dann geküsst werden). Der junge Werther hat sich schon ein wenig verguckt in eine der Töchter des Hauses, Leonore mit Namen; sie ist etwas kränklich, aber es ist eine „heilbare Krankheit“, und sie strahlt, man lese das genau: „eine unglaublich angenehme Gegenwart“ aus (Präsenz, würde man das heute nennen; oder Charme, bei Männern auch: Charisma). Werther ist aufgedreht, weil alles so nett und hübsch ist, das Wetter, das Haus, die Familie, die Landschaft; und er reißt alle mit seiner Fröhlichkeit mit, und speziell Leonore findet immer wieder einen Vorwand, an seine Seite zu kommen; es geht also durchaus eine Initiative von ihr aus!
Und dann spielt man das Heiratsspiel. Das geht so: Frauen und Männer schreiben ihren Namen in einen Zettel und werfen diese in geschlechtergetrennte Hüte; und dann wirft man, um es lustiger zu machen, noch Zettel mit den Namen von celebrities dazu. Und daraus werden nun Ehepaare gezogen; und dann muss die Gesellschaft auf jedes Ehepaar, das gezogen wird, ein Hochzeitsgedicht machen (ja, schwierig; aber damals gab es viele Gesellschaftsspiele, in denen man das Reimemachen geübt hat, es wurde auch noch mehr in der Schule gelehrt). Natürlich erweisen sich nicht alle als gleich willig und begabt, aber man hat schon ziemlich viel Spaß, und vor allem Eleonore brilliert mit ihren Versen. Dann kommt endlich auch Werther an die Reihe, sein Ehegespons wird gezogen, und es ist niemand anders als – die russische Kaiserin! (man kann sie gern auch durch Lady Gaga ersetzen, egal). Das findet Eleonore so komisch, dass sie fordert, darauf müsse nun jeder aus der ganzen Gesellschaft ein Gedicht machen, unbedingt; und sie greift selbst sogleich zur Feder, und auch die anderen „zerkauen“ ihre Feder im Dienste der guten Sache.
Als alle fertig sind, bestimmt Eleonore, dass ihr Gedicht als letztes an die Reihe kommt; alle tragen also ihre mehr oder weniger gelungenen Lobgesänge auf das Beilager von Werther mit der russischen Zarin vor, und dann kommt Eleonore. Und obwohl sie es doch darauf angelegt hatte, ist sie jetzt so verschüchtert, dass sie nicht mehr lesen kann, sondern nur noch „lispeln“ (der alte Vater beschwert sich, er habe kein Wort verstanden); aber Werther versteht, Wort für Wort, und er ist zutiefst erschüttert: „Ich war erstaunt, erschrocken; so bricht die Knospe der Liebe in ihrer größten Schönheit und Bescheidenheit auf! Es war mir, als wenn ein ganzer Frühling auf einmal seine Blüten auf mich herunterschüttelte“. Leonore hat Werther eine Liebeserklärung gemacht; sie hat ihm eine öffentliche, wenn auch nur: dahingelispelte Liebeserklärung gemacht. Verlegenheit allenthalben, jemand macht einen Scherz, dann gibt es Abendessen. Aber Leonore hat Werther eine Liebeserklärung gemacht.
Das Fragment nimmt dann eine andere Wendung, und darauf kommt es auch nicht an. Und wie gern hätte man Eleonores Gedicht gelesen, ihren Lobpreis auf Werther als würdigen Gattin einer großen Kaiserin! Aber es wird nicht mitgeteilt, das ist auch nicht nötig und taktisch nicht unklug. Denn man empfindet entweder in diesen kurzen Zeilen den Schauer, der auch Werther überströmt, als er sich so umworben sieht, oder man empfindet ihn nicht. Und es macht gar keinen Unterschied in dieser so fröhlichen und freien Geselligkeit, ob es der Mann oder die Frau ist, der seine Liebe erklärt; zwar ist es „nur“ ein Spiel, aber beginnt nicht jede Liebe wie ein solches Spiel? Und auch Werther, der diese Episode im Brief an seinen Freund mit den Worten eingeleitet hatte, er habe ein „liebes Abenteuer“ zu erzählen, nimmt diese Worte im nächsten Satz zurück: Denn es sei ja gar kein albernes Abenteuer, nein: „es ist nichts Abenteuerliches in einem sanften Zuge, der Menschen zu Menschen hinzieht“, und nur unsere komischen, albernen bürgerlichen Konventionen zwingen uns, das natürlichste Gefühl der Welt – zumal in der Jugend – in das Gewand eines albernen Spieles zu kleiden.
Oder das eines Romans. „Die Leiden der jungen Eleonore“ wären aber wahrscheinlich nicht zum Welt-Beststeller geworden. Wir hätten sie trotzdem gern gelesen; Eleonore ist zwar nicht Lotte, aber wahrscheinlich ihr gar nicht so unähnlich.
Hinweis in eigener Sache: Vom 12.-15.9. findet in Wetzlar eine Goethe-Akademie zum Werther statt!
Weitere Informationen bei der Thomas-Morus-Akademie Bensberg:
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