Über Hoch- und Trivialliteratur, in Fortsetzungen
Es gibt Metaphern, die so allgemein sind, dass man sie als eine Art Ur-Bilder der Sprache bezeichnen kann. Häufig gehen sie aus von ganz grundlegenden menschlichen Existenzerfahrungen: Natürlich ist der Verstand „kalt“ und das Herz „warm“, und wer sonnt sich nicht lieber im „hellen“ Licht als in der „dunklen“ Kälte zu frieren? Und da haben wir schon das nächste Paar: „Die Aufklärung“ ernannte sich nicht zufällig zur Verteidigerin des hellen Lichts, als „Verdunklung“ wäre ihr ein vergleichbarer intellektueller Triumph wohl kaum gelungen. Und auch wer von Hochkultur oder Hochliteratur spricht, verbindet damit selbstverständlich eine intuitiv positive Wertung: „Hoch“, oben im hellen Licht, da ist der Himmel, und tief „unten“, im düsteren Dunkel, die Hölle.
Es sind Ur-Polaritäten der Empfindung, die in unsere Sprache eingewandert sind, und alle Sprachkritik und -politik hat ihnen nicht den Garaus machen können. Erstaunlich ist es jedoch, im Blick auf die Literatur, dass das Gegenteil der Hochliteratur ja nicht die – Tiefliteratur? Niederliteratur? Bodenliteratur? ist. Zwar haben sich die Verteidiger der Hochliteratur durchaus einige recht wirksame Kampfbegriffe ausgedacht im Verlauf der Zeit: Man sprach von Trivialliteratur, Massenliteratur, Schundliteratur oder überhaupt von Kitsch, und die Trennung in eine E- (für ernsthafte) und U- (für unterhaltende) Literatur ist gegenüber diesen hochtoxischen Begriffswaffen noch die harmloseste Variante. Die Hochliteratur selbst jedoch bleibt von dieser Ausdifferenzierung der Gegner seltsam unberührt: Über allem residiert sie auf den Höhenkämmen des Geistes, der Zeitgeist flattert nur wie ein mildes Lüftchen über sie hinweg, und der Zahn der Zeit kann ihrer ewigen Klassizität nichts anhaben.
(I) Die leere Höhe des Geistes auf dem Höhenkamm
Was jedoch ist eigentlich genau Hochliteratur? Interessanterweise erbringt eine Recherche bei Wikipedia für den Begriff „Hochliteratur“ exakt einen Satz, der ziemlich nichtssagend ist: „Unter Höhenkammliteratur, auch Hochliteratur genannt, versteht man die anerkannte, in Schule und Wissenschaft als hochstehend.“ Hingegen gibt es ausführliche Artikel zu Trivial- oder Unterhaltungsliteratur, gute Artikel sogar. Was schlecht ist, ist leicht zu sagen, so zeigt sich einmal mehr, wir alle sind geborene Kritiker; was jedoch gut ist, ja vielleicht sogar: sehr gut, überdurchschnittlich gut, exzellent – da schweigt die Weisheit des Schwarmes wie die der Experten schamhaft. Denn: Um zu antworten, müsste man eine Wertung nicht nur vornehmen, sondern Werte benennen. Eine Skala erfinden. Kategorien benennen. Schulnoten verteilen. Zwar wird gerade in letzter Zeit allenthalben sehr gern über die Wichtigkeit von Werten gepredigt, wenig jedoch wird gesagt, um welche es sich eigentlich im Einzelnen handelt (außer natürlich, im Negativen). Ein ganzes literaturwissenschaftliches Handbuch zum Thema ‚Kanon und Wertung‘ schafft es auf mehreren hundert Seiten nicht, einen konkreten Wert zu benennen; es geht um die Entstehung von Werten, die Relativität von Werten, um Wertungsverfahren und -institutionen, natürlich auch um die Kritik von Werten – aber welche? Fehlanzeige. „Hoch“ erkennt man offenbar – mit dem Bauch (respektlose Spötter hingegen würden sagen: daran, dass man es nicht versteht. Ist auch was dran).
Das einzige Synonym zu Hochliteratur, das es in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch geschafft hat, ist „Höhenkammliteratur“, und wie bei so vielen wirklich guten Metaphern weiß man gar nicht so genau, wer sie erfunden hat (wer hat wohl zum ersten Mal „Wolkenkratzer“ gesagt?) – aber als sie da war, war sie plötzlich in aller Munde. Wahrscheinlich war es kein Literaturwissenschaftler, sondern ein Historiker, genauer: ein Begriffshistoriker. Begriffsgeschichte tut genau das, was das Wort sagt, sie erforscht nämlich die Geschichte von Begriffen, vorzugsweise Allgemeinbegriffen – großen Wörtern sozusagen, man könnte auch sagen: hohen Wörtern. Begriffe sind nämlich auch nur Menschen, und deshalb verändern sie sich, sie haben eine Kindheit in kurzen Hosen und wechseln dann mehrmals die Kleider, bevor sie endlich so alt und abgetragen werden, dass man noch nicht einmal die ursprüngliche Farbe mehr erkennt. Aber gerade bei hohen Wörtern kann man diese Geschichte natürlich gut rekonstruieren, indem man schaut, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten in schriftlichen Texten gebraucht wurden; und da es hohe Wörter sind, treiben sie sich gern, hohe Wörter sind nämlich auch nur Menschen, in hohen Texten herum. Hochliteratur strotzt von hohen Wörtern (vielleicht könnte man sie daran sogar erkennen?) Weshalb Begriffsgeschichtler sich gern auf dem Höhenkamm bewegen. Aus dem Tal kamen natürlich bald Anwürfe, man möge sich vielleicht doch auch mal in die Untiefen der Alltagssprache oder wenigstens die mittlere Höhe von Gebrauchstexten begeben; was gelegentlich geschah, nicht allzu häufig. Die Höhenkammliteratur jedoch ist seitdem aus dem Wissenschaftsdiskurs nicht mehr wegzudenken, sie ist sozusagen noch eine Zuspitzung von Hochliteratur: ein schmaler Weg, von einsamen Gipfel zu einsamen Gipfel, und nur ein Schritt daneben kann den Absturz bewirken, in die mittleren Höhen der Unterhaltungs- oder, Schrecken der Schrecken, gar die dumpfen Sümpfe der Trivialliteratur!
(II) Die drei Stilebenen und das Kriterium der Angemessenheit
Aber wenden wir den Blick vorerst ab von diesem schauerlichen Szenario und schauen ein wenig in die Geschichte der Wertung von Texten. Die Antike, das kann nur schwach verallgemeinernd gesagt werden, hatte keine Trivialliteratur. Oder sie hatte zumindest keinen Begriff davon, was ja nicht immer dasselbe ist. Was sie jedoch hatte, war die Rhetorik, die damals noch eine echte Grundlagenwissenschaft war (wenn ein Staat in öffentlicher Rede regiert wird und nicht in Medienspektakeln, macht das einen Unterschied). Und die Rhetorik hatte eine sehr grundlegende Unterscheidung, nämlich die der drei verschiedenen Stilebenen (das lateinische Wort ist „genus“, und schon wenn man das als Stilhöhe und nicht als Stilebene übersetzt, hat man sich den Höhen-Virus eingefangen). Es gab das genus humile oder subtile (humile: niedrig): einfacher Stil, nahe an der Alltagssprache, einfache Argumente, kein Schnick und kein Schnack – für den Alltagsgebrauch, auf dem Markt, mit einfachen Leuten. Darüber kam das genus medium oder mixtum: der mittlere bzw. gemischte Stil, ein wenig hoch, ein wenig tief, geeignet beispielsweise für den wissenschaftlichen Vortrag; und darüber das genus grande oder sublime, den großen oder erhabenen Stil, der tief in die Pathoskiste greift, oder in die enthusiastische Dichtersprache und dadurch den großen Effekt durch Affekt erzeugt (in Dichtung oder Politik, also da, wo am meisten mit Emotionen gearbeitet und professionell manipuliert wird). Natürlich hat das jetzt schon eine ganze Menge Höhenschichtung, aber was man sich vor Augen halten muss, ist: Der subtile, einfache Stil ist nicht einfach schlechter als der sublime, komplizierte: Er ist nur für eine andere Anwendung gedacht! Das, woraufhin es hingegen ankommt, ist das aptum, die Angemessenheit: Sie ist der zentrale Wert, sie stellt ein Verhältnis her und fest: Die Rede hat einen Zweck; und um diesen Zweck zu bestmöglich erreichen, sind geeignete Mittel zu verwenden. Dichtung ist nicht prinzipiell besser als Gerichtsrede oder der Streit im Symposion; sie ist nur anders. Aptum heißt: Es gibt Höhenunterschiede, und oben wird die Luft dünner. Aber Anpassung ist alles!
Fortsetzungen:
(III) Der Roman betritt die Bühne und untergräbt die Hochliteratur
(IV) Unterhaltend, populär, interessant – die Unterhaltungsliteratur nimmt Fahrt auf und wird verteidigt
(V) Avantgarde und Unverständlichkeit – die Hochliteratur koppelt sich ab
(VI) Wann ist trivial trivial? – von den Freuden des Kitsches
(VII) Gibt es hohe und niedrige Gedichte? Und was ist mit dem Theater?
(VII) Der Mensch ist ein Wesen, das Geschichten erzählt, oder: der Blog am Ende des Lektüre-Universums
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