„Um dem Leben auf die Spur zu kommen, muss man sich zuerst dem Tod zuwenden.“
Das schreibt Mary Shelley in ihrem berühmten Schauerroman Frankenstein oder der moderne Prometheus. Der Roman erscheint 1818 zunächst anonym, die endgültige Fassung schließlich 1831. Solange spukt dieses Wesen, dieses Monster, das zwischen Leben und Tod steht, in ihrem Kopf. Es ist die Geschichte von Victor Frankenstein, einem begabten Naturwissenschaftler, der am Geheimnis des Lebens experimentiert. Das Ziel: einen künstlichen Körper zum Leben zu erwecken. Es gelingt ihm schließlich, doch das geschaffene Monstrum ist nicht kontrollierbar. Shelleys Schauerroman brilliert durch die differenzierte Erzählweise und kreist um die Möglichkeiten der Wissenschaft und Forschung. Der Roman der britischen Schriftstellerin wurde vielfach nachgeahmt und trivialisiert – besonders im Film. Dabei ging der Name Frankenstein oftmals vom Schöpfer auf das Geschöpf über.
Die Idee zu Frankenstein kommt Mary Shelley bei einem Aufenthalt am Genfer See mit ihrem damaligen Geliebten, dem Schriftsteller Percy Shelley, Lord Bryon, John William Polidori und Claire Chairmont. Den Entstehungsprozess zu Frankenstein hat Cristin König als Hörspiel 2018 für den Deutschlandfunk aufgearbeitet. Dabei nutzt sie die Notizen von Mary Shelley und verbindet sie zu einem poetischen und ebenso schauerartigen Hörerlebnis, das voller Musikalität und Intensität ist. Es wurde vor wenigen Tagen auf SWR 2 ausgestrahlt.
Das Hörspiel Meine Erinnerungen zerreißen mich zu Mary Shelleys entstandener Idee des Schauerroman Frankenstein am Genfer See gibt’s
hier.
Leseprobe
„Aber diese Wissenschaftler, die scheinbar nur dazu fähig sind, mit den Händen im Dreck zu wühlen und mit den Augen ins Mikroskop oder in den Schmelztiegel zu starren, haben in Wirklichkeit Wunder verbracht, Sie dringen in die verborgensten Winkel der Natur vor und zeigen, wie sie im Geheimen am Wer sind. Sie steigen zum Himmel empor; sie haben entdeckt, wie das Blut zirkuliert und woraus sich die Luft, die wir atmen, zusammensetzt. Sie haben neue und beinahe unumschränkte Macht gewonnen; sie können himmlischen Donner auslösen, Erdbeben nachahmen und sogar die unsichtbare Welt mit eigenen Schatten narren.“
Das waren die Worte des Professors – oder besser gesagt, die Worte des Schicksals, die mich vernichten sollten. Während er fortfuhr, hatte ich das Gefühl, als ränge meine Seele mit einem greifbaren Feind; eine nach der anderen wurden die verschiedenen Saiten angeschlagen, die das Klangwart meiner Existenz in Schwingung versetzten; Akkord nach Akkord erklang, und bald war mein Wesen von einer einzigen Idee, einem einzigen Ziel erfüllt. So viel ist schon erreicht worden, rief Frankensteins Seele, aber mehr, viel mehr habe ich vor zu erreichen; über die vorgezeichneten Bahnen hinaus werde ich neue Wege einschlagen, unbekannte Kräfte erforschen und der Welt die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung offenbaren.
Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus, aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe
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