(III) Der Roman betritt die Bühne und untergräbt die Hochliteratur
Als die europäischen Gelehrten dann, gut tausend gemeinhin als „dunkel“ betrachtete Jahre später, daran gingen, das Wissen der Alten wieder hervorzukramen und etwas aufzufrischen, war die Situation auf dem literarischen Markt noch ziemlich entspannt. Genauer gesagt, gab es ihn nicht. Lesen konnte, bis weit ins Mittelalter und darüber hinaus, nur ein Bruchteil der Bevölkerung; selbst wenn mehr Menschen es gekonnt hätten, hätten sie die meisten Bücher nicht lesen können, die waren nämlich, beispielsweise in Deutschland (das es damals politisch noch nicht gab), auf Latein geschrieben, von gelehrten Männern für ihresgleichen (nein, keine gelehrten Frauen. Noch lange nicht, und das Lateinlernen blieb bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine der Haupthürden für die literarische und wissenschaftliche Betätigung von Frauen). Immerhin, man konnte bald schon Bücher drucken. Es wurden auch immer mehr gedruckt, und es wurden langsam, viel langsamer als man sich das heute vorstellen kann in unseren beschleunigten Zeiten, auch andere Bücher gedruckt: Nicht mehr nur wissenschaftliche Texte, nicht mehr nur Erbauungsbücher und Bibeln (die Bibel war das ABC-Buch fürs Volk über Jahrhunderte hinweg); nein, irgendwann tauchten auch Romane auf, eine völlig neue, unerhörte Gattung, die Antike kannte sie nicht, und was am allerschlimmsten war: Man hatte deshalb auch keine Regeln dafür! Für alle anderen literarischen Gattungen gab es Regeln ohne Ende, man wusste, wie ein regelmäßiges fünfaktiges Drama auszusehen hatte oder welches antike Versmaß man für welche Art von Gelegenheitsdichtung zu verwenden hatte. Ein Roman? Eine Geschichte, einfach so erzählt, in volkssprachlicher Prosa, der verachteten einfachen Alltagssprache, die doch eigentlich überhaupt nichts mit Dichtung zu tun hatte? Dichtung war gebundene Sprache, das wusste jeder; also geformte, sorgfältig mit rhetorischem Schmuck ausgestattete, in schöne, gleichmäßig hüpfende Versfüße gebändigte Sprache. Eine Geschichte in Prosa, das sollte jetzt Literatur sein, und zwar: schöne Literatur, wie man nun anfing zu sagen, um sie von der traditionellen, gelehrten Literatur abzusetzen? Ein Spalt war in die literarische Welt gekommen, und er begann sich schnell zu einem Abgrund auszuwachsen (man könnte auch sagen: der literarische Dilettantismus war geboren!)
Und das Schlimmste daran war: Die Leute begannen, dieses Zeug zu lesen, und sie hörten gar nicht mehr damit auf! Sogar Frauen, halbe Kinder noch, Ungebildete, Ungelehrte, das Kammermädchen wie die Herzogin, der kleine Hofbeamte wie der Prinz selbst! Wenn sie nicht Geld genug hatten, um Bücher zu kaufen (immer noch eine Sache ausschließlich der Bildungselite), gingen sie in Lesebibliotheken. Gründeten Lesekreise. Bücher wanderten von Hand zu Hand, man unterhielt sich über sie, die ersten Skandale kamen auf (junge Männer hatten sich umgebracht, weil sie Goethes Die Leiden des jungen Werthers gelesen hatten, wo sich der jugendliche Held aus unglücklicher Liebe erschießt!). Komischerweise war es genau die Zeit, wo die deutsche „hohe“ Literatur endlich den Eindruck hatte, sie habe mit Goethe und Schiller zur europäischen Literatur aufgeschlossen: Man hatte jetzt eine eigene Klassik, sie residierte in Weimar (na gut, das war weder Paris noch London, aber immerhin ein selbsternannter „Musenhof“) und wenn es die Metapher schon gegeben hätte, hätte bestimmt jemand gesagt: endlich auf Augenhöhe! (als wenn Lessing ein Dackel gewesen wäre, der sich nur an den Unterschenkeln der französischen Klassiker reiben konnte und gelegentlich zubiss….). Und ausgerechnet, genau zu dieser Zeit erreichte der neue Virus der „Lesesucht“ in Deutschland seinen Höhepunkt erreicht, man sprach auch gern von einer „Romanenschwemme“! Aber das, was die Deutschen lasen, als ihre Klassiker zweifellos hohe Literatur schrieben und sich von Gipfel zu Gipfel gern zuwinkten und gelegentlich besuchten – das waren Ritterromane, Schauerromane, Liebesromane, Gespenstergeschichten!
Wenn es eine Geburtsstunde der Trennung von E- und U gab, eine historischen Trennscheide, an der sich die Hochliteratur für immer trennte von der Unterhaltungs- oder gar der Trivialliteratur, dann liegt sie um 1800. Vielleicht kann man sie sogar noch genauer datieren: 1798 erschien Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Eine romantische Geschichte unseres Jahrhunderts von Christian Vulpius, Bibliothekar im klassischen Weimar, ausgerechnet, und späterer Schwager Goethes, der Christians Schwester Christiane irgendwann endlich heiratete, als sich die Weimarer genug das Maul über das uneheliche Verhältnis zerrissen hatten. August von Kotzebue, ebenfalls ein Weimarer Nicht-Klassiker und der Renner auf allen zeitgenössischen Bühnen, machte ein vielgespieltes Theaterstück daraus, es erschienen Übersetzungen in beinahe alle europäischen Sprachen, Neuauflagen über Neuauflagen, Nachfolgerromane; bis heute weiß jedes Kind, dass Rinaldo Rinaldini ein großer Räuber war.
(IV) Unterhaltend, populär, interessant – die Unterhaltungsliteratur nimmt Fahrt auf und wird verteidigt
Mit Rinardo Rinaldini betritt gleichzeitig auch der Antichrist der Hochliteratur die Bühne: Es ist der Bestseller, geliebt von den „Massen“ (deshalb auch: Massenliteratur), verschmäht von den Hohepriestern der Hochkultur, den Literaturkritikern. Und es ist auch kein Zufall, dass sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Literaturkritik als Profession (nicht als Nebenerwerbszweig der akademischen Veröffentlichungswelt wie bisher) entwickelte: Denn um künftig sauber unterscheiden zu können, was gediegene, klassische Hochkultur war und was Ramsch und Schund, den die Massen leider verschlungen, brauchte es offensichtlich einen Experten, Aufritt: der Literaturkritiker! Die Literaturkritik bildete sich parallel zum Aufstieg der Massenliteratur, die man aber noch nicht trivial nannte, das Wort hatte man noch nicht gefunden. Andere Begriffe kursierten in der Diskussion, noch erfreulich unbelastet: Selbst Schiller gab zu, dass der Mensch im Theater vor allem unterhalten werden möchte nach seinem langen, zunehmend entfremdeten Arbeitstag (denn auch das war durchaus eine Neuheit: die Entstehung von bürgerlicher Arbeit und ihrem Komplementär, der bürgerlichen Freizeit), und bereits der antike Poetiker Horaz hatte die Dichtung auf „prodesse et delectare“ (eine bittere Pille, in Honig verpackt, das ist das klassische Bild dafür, und welche Menschenkenntnis sieht man hier am Werke!) verpflichtet – und wenn man schon das „prodesse“, das Nützen, Verbessern, Aufklären, die bittere Pille dahinschwinden sah, konnte man ja wenigstens am Deliziösen der Literatur festhalten, ihrem Honigcharakter. Auch Popularität wurde gelegentlich gefordert, schon im 18. Jahrhundert: Es könne doch nicht sein, dass die schöne Literatur weiter eine Angelegenheit der Gelehrten bleibe in einer Zeit, die gerade die Menschenrechte und die Selbstbestimmung des Individuums erfand und die Bildung als Kernkompetenz des Bürgertums etablieren wollte (der Adel war schon immer gebildet, außerdem las er französische Literatur)! Populär sein, das war zu dieser Zeit kein Schimpfwort; es war ein durchaus emanzipatorisches und aufklärerisches Anliegen für jeden, der nicht nur gelesen, sondern: verstanden werden wollte.
Und auch in der Ästhetik bewegt sich etwas, genau zu dieser Zeit: Sollte denn immer nur das „Schöne“, das „Vollkommene“ (man könnte auch sagen: das Hohe, das Große) Gegenstand der Kunst sein? War denn nicht vielleicht viel interessanter – das Interessante? Der Unterschied zwischen dem „Schönen“ und dem „Interessanten“ jedoch ist: Inter-esse, das „Dabeisein“, ist immer individuell (deshalb ist englisch „interest“ zum Beispiel ein Wort für Zinsen, ein sehr persönliches und handfestes Interesse), jeder entscheidet für sich, was er interessant findet. Aber wenn er etwas interessant findet, richtet er seine konzentrierte Aufmerksamkeit darauf und nimmt nun ganz neu daran teil. Interesse, ästhetisches Interesse, ist etwas anderes, es ist vielleicht sogar das genaue Gegenteil von Kants Konzept des „interesselosen Wohlgefallens“, das eben nur das schöne Kunstwerk auslöst: Es gefällt um seiner selbst willen, wir wollen es nicht kaufen, essen, verführen, sondern nur: es anschauen und genießen, und zwar jeder und jede. Nicht so das Interessante. Es nimmt uns mit. Es ist, so Friedrich Schlegel (romantischer Chef-Ästhetiker), in einer seltsam ungelenken, aber sehr passenden Wendung, ein „provisorischer“ ästhetischer Wert (man könnte auch sagen: Die Zeiten der Klassik als ewiger Kunstwert sind vorbei).
nächste Woche:
(V) Avantgarde und Unverständlichkeit – die Hochliteratur koppelt sich ab
(VI) Wann ist trivial trivial? – von den Freuden des Kitsches
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