Gelegentlich, in meinen schwächeren Träumen, träume ich davon, eine Deutschlandreise auf den Spuren der braunen Schilder (korrekt heißen sie: „touristische Unterrichtungstafeln“, wirklich wahr, und es gibt einen Wikipedia-Artikel dazu, und gesetzlich geregelt sind sie in der StVO!) zu machen. Warum sich nicht einmal verleiten lassen, die „Waffenstadt Suhl“ zu besuchen (warum man ausgerechnet damit prahlt, wird mir sonst immer ein Rätsel bleiben)? Oder, Deutschland ist ja nicht nur das Land der meisten Brotsorten, allen kuriosen Museen einen Besuch abzustatten, vom Feuerwerk- und Röntgenmuseum bis hin zu Knopf- und Puppenstubenmuseum? Auch auf den Spuren der „Industriekultur“ ließe sich trefflich wandern, vor allem im eher weltkulturerbe- oder biosphärenfernen Westen der Republik; und zwischendurch ein Stopp in der Goethe-Chocolaterie oder der Viba Nougat Welt würde für die nötige Versüßung sorgen! Nun, ein neues Corona mag kommen, wir sind gerüstet, und es gibt angeblich sogar eine App, die alle braunen Schilder verzeichnet und erläutert!
An diesem einen braunen Schild nun waren wir bisher achtlos vorbeigefahren, doch am Wochenende sprang mich kurz vor Fulda die „touristische Unterrichtungsstafel“ an, die auf die „Hl. Lioba auf dem Petersberg“ hinwies. Wer um Himmelswillen war die Hl. Lioba, und womit hatte sie sich eine „touristische Unterrichtungstafel“ verdient? Und so vertiefte ich mich zwischen Fulda und Würzburg – die Hohe Rhön zog vorbei, mit diversen weiteren braunen Schildern, die ich heute leider ignorieren musste – in den entsprechenden Wikipedia-Artikel, der mich hinreichend zum Staunen brachte; das nächste Mal, wenn wir wieder waghalsig die Republik in dem Baustellen-Hindernis-Gekurve durchqueren, das sich „Autobahn“ nennt, werden wir ganz gewiss ihre Grabeskirche besuchen!
Heute aber ein paar Worte zum Gedenken an die Hl. Lioba (ihr eigentlicher Heiligengedenktag ist der 28. September, aber bis dahin haben wir alles wieder vergessen): Jungfrau, Gelehrte, Freundin großer Männer und Frauen, Lehrerin von Lehrerinnen, Klostergründerin und Managerin mittelständischer Betriebe! Denn Liobas Leben, überliefert in einer eigenen kleinen Heiligen-Vita, war alles andere als düster und mittelalterlich. Es hatte eine klare und profane Seite, das gelebte Leben nämlich; und es hatte eine angenehm mystisch-dunkel schimmernde, die es begleitenden Wunder und Legendengeschichten nämlich. Bleiben wir zuerst im vertrauten Medium des Klaren!
Lioba wurde geboren als Truthgeba (die Gottesgabe) in eine hochgestellte Familie, die bekannt war mit dem einflussreichen Bischof Bonifatius (dem „Missionar der Deutschen“). Ihre Mutter soll vor der Geburt geträumt haben, dass eine Kirchenglocke in ihrem Schoss zu läuten begann, weshalb das lang erwartete Einzelkind folgerichtig der Kirche gewidmet wurde. Als „Lioba“ (die Liebende) wurde sie zur Ausbildung nach England ins Kloster geschickt, und schon früh erwies sie sich als Muster aller Tugenden und als besonders bildungs- und lesehungrig. Lioba machte einen steilen Aufstieg in der Klosterhierarchie, und schließlich forderte Bonifatius sie nach längerer persönlicher Korrespondenz direkt zur Unterstützung seines weiteren Missionswerkes in Thüringen an. Lioba wurde Äbtissin, gründete weitere Klöster, richtete eine Lehrerinnenschule ein, die für den pädagogischen Nachwuchs der neugegründeten Klöster sorgte, und blieb bei all dem, ihrer Vita zufolge – demütig, immer heiter, ein reiner Sonnenschein an Freundlichkeit und ein Wunder an (weiblicher!) Gelehrsamkeit in der Schrift. Sie wurde an Königshöfe als Politikberaterin berufen und schloss Freundschaft mit Hildegard, einer der Ehefrauen Karls des Großen; und sie förderte die Beteiligung von Frauen am Missionswerk, wo sie nur konnte. Wohl auch deshalb übertrug ihr Bonifatius vor seiner Abreise ins heidnische Friesland die Fortführung eben dieses Missionswerks; und er bestimmte, dass sie gemeinsam ihm bestattet werden sollte, auf dass sie dereinst gemeinsam den großen Tag der Auferstehung erleben würden.
Bonifatius starb, erwartungs- und plangemäß, seinen Märtyrertod im fernen Friesland; Lioba aber wurde älter und kränker und verlor an politischem Einfluss. Immerhin durfte sie sein Grab im Dom-Kloster in Fulda aufsuchen, der Zutritt war Frauen sonst verboten. Aber an seiner Seite, im gleichen Grab nämlich, wurde sie dann doch nicht bestattet; das ließen die Nachfolger nicht zu, angeblich aus Pietät. Immerhin kam sie neben ihn in den Dom. Doch dann musste auch ihr Grab verlegt werden; denn inzwischen hatte sich ihr Ruf verbreitet, viele Frauen kamen, um zu ihr zu beten – und hatten wiederum keinen Zutritt zur Mönchsklausur des Fuldaer Doms. Und deshalb wurde ihr Leichnam in die Kirche St. Peter auf dem Petersberg verlegt, wo sie heute (nach einigen postmortalen Irrfahrten wieder) liegt und wohin ein braunes Unterrichtungsschild uns weist.
Nun zur dunklen, mystischen Hälfte; dafür nur kurz die beste Geschichte aus dem üblichen Wunder-Repertoire. Sie nimmt von einem interessanten Traum ihren Ausgang und etabliert eine interessante Metapher. Denn eines Nachts träumte Lioba auf ihrem sicherlich kargen und keuschen Klosterbett, dass ihr ein Purpurfaden aus dem Mund herauswachse, der immer länger und länger wurde und sich schließlich nicht mehr zu einem Knäuel wickeln ließ. Das hört sich nun eher nach einem Alptraum an und hinterlässt ein fusseliges Gefühl in der Kehle, aber wir haben natürlich nicht die Deutungshoheit der weisen Klosterältesten, die mit der Gabe der Weissagung ausgestattet war. Und sie kommentierte: Der Purpurfaden sind die guten und weisen Lehren, die aus dem Herzen Liobas hervorquellen (deshalb wahrscheinlich purpurrot?). Dass sie zu einem runden Knäuel sich fügen, demonstriere den notwendigen Zusammenhang der Höhe der Gottseligkeit mit der Tiefe des menschlichen Mitleidens, wie er im aus Lioba entweichenden göttlichen Wort gegeben sei! Etwas verknäuelt, fürwahr; zudem scheint das göttliche Wort am Ende ja derart überwältigend gewesen zu sein, dass es sich nicht mehr knäueln wollte? Aber egal, wir wollen uns keinesfalls unziemlich erheben, weder über weissagende Träume (ach, wenn wir doch gelegentlich auch welche hätten und nicht immer nur den Zug verpassen würden!), noch über die Notwendigkeit menschlicher Orientierung am Leitfaden kluger und weiser Worte (notfalls auch anhand von „touristischen Unterrichtungstafeln“). Zudem hegen wir den Verdacht, dass die Faden-Legende – nun, vielleicht eine spezifisch weibliche Bildlichkeit abspult? Irgendwie schwer vorzustellen, dass dem Hl. Bonifatius Bindfäden aus dem Mund gewachsen wären und er daraus Wollknäuel gedreht hätte. Ach ja, und außerdem legten verzweifelte Frauen gern kranke Kinder in Liobas leeren Steinsarkophag nach der Umbettung; der deshalb im Volksmund auch der „Schreistein“ hieß. Und in Tauberbischofsheim, einer ihrer wesentlichen Wirkungsstätten, verehrt man sie nach einem Gelöbnis des Stadtpfarrers vom 23. September 1945 als Patronin für ihren Beistand beim Fliegerangriff am 21. Juli 1944 mit einem Liobatag: Die Geschäfte sind geschlossen, und in den Kirchen werden Liobabrötchen verteilt.
Ende der Umleitung. Aber: Solch Honig kann man aus einer braunen „Unterrichtungstafel“ saugen!
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