Unter Literaturwissenschaftler*Innen ist gelegentlich umstritten, ob es überhaupt so etwas wie einen reinrassigen „Bildungsroman“ gibt; eigentlich, so wird argumentiert, sei das doch eher eine Untermenge des größeren Genres „Entwicklungsroman“, und „Bildung“ sowieso ein derartig deutsches Konzept, dass es in andere Kulturen kaum übertragbar sei. Das alles ist akademisches Tagesgeschäft und wenig interessant, hätte es nicht auch eine kleine gender-pointe: Denn der einzig wirklich und wahrhaft als solcher anerkannte Bildungsroman ist eindeutig männlich. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre – im Übrigen ein großartiger Roman und zu jeglicher Zeit der Lektüre wert – schildert die Sozialisation eines jungen Mannes aus dem Kaufmannsstand, der reichlich schwärmerische Ideen über sich selbst und seine Zukunft als Theaterdichter im Kopf hat, und damit in die Welt geht, die ihm den Kopf zurechtrückt; vorher hat er auch noch unwissend ein uneheliches Kind mit seiner Theater-Liebschaft Mariane produziert, und es wird eine wesentliche Rolle für seine vollendete Bildung spielen, dass er am Ende die Vaterschaft akzeptiert, nicht nur in einem juristischen Sinne. Aber keine junge Frau hätte in dieser Zeit etwas Ähnliches unternehmen können; und ihre Bildung wäre schon deshalb eine andere gewesen, weil sie die unehelichen Kinder bekommt, was eine ziemlich wissentliche Angelegenheit ist. Wie aber, und damit kommen wir endlich zu unserem eigentlichen schoengeistinnen-Thema; wie aber „übersetzt“ man ein solches Romanschema – man könnte durchaus einmal in einem wörtlichen Sinne von einem „Narrativ“ sprechen; wie übersetzt man ein solches männliches Narrativ zum einen ins Weibliche, und zum zweiten: in andere Kulturen fern des spezifisch deutschen Bildungs-Begriffs?
Dass das nicht nur möglich, sondern sogar aufschlussreich, interessant und packend zu lesen ist, zeigt ein schon vor einigen Jahren erschienener Roman einer Autorin mit ziemlich hybriden familiären und kulturellen Wurzeln: Sujata Massey, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, wurde geboren in den Vereinigten Staaten; in ihrem späteren Leben brachte sie lange Jahre in Japan zu und unternahm viele Reisen nach Indien. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Krimis, der Japan-Reihe um Rei Shimura, Hobby-Detektivin und Antiquitäten-Kennerin im zeitgenössischen Tokio, und der Indien-Reihe um die indische Anwältin Perveen Mistry, angesiedelt in den frühen Übergangszeiten von der britischen Kronkolonie zur Unabhängigkeit Indiens (dazu demnächst weiter unten im zweiten Teil). Dazwischen jedoch hat sie die Zeit gefunden, einen multikulturellen weiblichen Bildungsroman zu schreiben, der – vielleicht als Parallellektüre zu Wilhelm Meisters Lehrjahre? ‑ nicht genug empfohlen werden kann. Er trägt den auf den ersten Blick rätselhaften Titel The Sleeping Dictionary, der aber schon elegant auf die beiden Elemente dieser sehr besonderen weiblichen Bildungsgeschichte hinweist. Die Hauptfigur durchläuft ihre Sozialisation vom Waisenkind nach einem Tsunami hin zur emanzipierten (Ehe-) und berufstätigen Frau im Kalkutta der frühen Unabhängigkeitsphase Indiens im Wesentlichen anhand zweier Leitmotive: ihrer sexuellen Ausbeutung als Prostituierte – was aber gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil ihrer Erziehung ist – und ihrer frühen Begeisterung für das Lesen, speziell: europäischer (weiblicher) Autoren wie George Eliot oder Virginia Woolf. Wie das zusammengeht? Es geht!
Erzählen wir einfach kurz die Geschichte, auch wenn es ein wenig ein spoiler ist; aber wir bleiben genug an der Oberfläche der Dinge, und die eigentliche Geschichte spielt sowieso auf einer viel tieferen Ebene. Also: Der Roman beginnt mit einem Satz, der es verdient, in die ewige hall of fame berühmter Anfangssätze aufgenommen zu werden, gleich neben Call me Ishmael (Moby Dick): „You ask form my name, the real one, and I cannot tell. It is not for lack of effort“. Größer könnte der Gegensatz zu Wilhelm Meister kaum sein, dessen Namen sein Schicksal schon konzentriert vorhersagt. Denn „Wilhelm“ ist nicht nur zu dieser Zeit ein klassisch deutscher Name, sondern durchgängig bis ins 20. Jahrhundert einer der häufigsten männlichen Vornamen überhaupt; er stammt aus dem Althochdeutschen und trägt den „willio“, den Willen und die Entschlossenheit, ebenso wie den „helm“, den Schutz, im Gepäck. Er ist verbreitet in Herrscherdynastien (z.B. bei den deutschen Hohenzollern), aber ist gleichzeitig, seiner großen Verbreitung wegen, eine Art Durchschnittsname; genau wie Wilhelm Meister selbst eigentlich ein nur etwas ambitionierter und mäßig privilegierter Durchschnittstypus ist, der eben erst durch seine „Lehrjahre“ zum „Meister“ gemacht werden muss.
Unsere Hauptfigur jedoch wird geboren in einem bengalischen Dorf, als Mädchen ist man dort von so geringer Bedeutung für die Familie, dass es kaum für einen eigenen Namen reicht; aber man nennt sie „Pom“, und sie ist glücklich, trotz alledem. Als der Tsunami – für den sie natürlich keinen Namen hat – ihr gesamtes Dorf einfach ausradiert, ihre bisherige Existenz von Grund auf vernichtet – Entwurzelung (im Falle Wilhelm Meisters: Mutterlosigkeit) ist der Boden, auf dem alle Bildungsromane wachsen –, kommt sie als Hilfskraft in eine britisch-katholische Schule; und weil sie, selbst als Dienstmagd, nur einen christlichen Namen haben darf, wird sie „Sarah“. Und während sie putzt und Böden schrubbt und den morning tea serviert, stiehlt sie ihre Bildung; lernt heimlich Lesen, und zwar anhand der britischen Romane, die eine (offensichtlich auch ambitionierte, aber man braucht diese Glücksfälle von Erziehergestalten im Bildungsroman) Lehrerin den eher uninteressierten Schülerinnen präsentiert: Mrs Dalloway in Bengal unter britischer Kolonialherrschaft, man stelle sich das vor; oder Jane Austenim Chaos von Kalkutta. Doch Sarah darf nicht Sarah bleiben; sie wird entlassen, landet mittellos und nur mit ihrer Kenntnis der britischen Romanliteratur ausgestattet, in Kalkutta, dem großen, blühenden und armen Kalkutta, das das Herz des britischen Kolonialreiches war. Und sie bekommt ihren neuen Namen: Als „Kamala“ wird sie zur Edel-Prostituierten gemacht, deren „Unschuld“ an den Meistbietenden der – natürlich ausschließlich britischen – Kunden versteigert wird. Das sind harte Lehrjahre, aber Kamala lernt bei all dem wirklich Entsetzlichen, dem sie täglich ausgesetzt ist, die nächste wichtige Lektion: wie man Menschen „liest“ nämlich; vor allem Männer. Und sie bekommt ein Kind, natürlich unehelich, natürlich verstoßen und allein, unter erbärmlichsten Umständen. Und als sie dann, wiederum: mit der für den Bildungsroman typischen Mischung aus persönlicher Resilienz und äußeren Glücksfällen, ihre wahre Liebe, ihre wahre Identität und ihre Zukunft findet, da verdankt sie das genau der Mischung aus all dem: ihrer Sprachenkenntnis, ihrem enzyklopädischen Bildungshunger, ihren ganz handfesten Literaturkenntnissen (sie wird Bibliothekarin) und ihrer ausgebildeten Menschenkenntnis.
Und während Indien seine politische Unabhängigkeit erstreitet, mit einer Mischung aus Blut, Schweiß und Tränen, aber auch: mit Selbstbildung, mit Entschlossenheit, mit Witz und Originalität; während dessen erstreitet Kamala ihre persönliche, innere wie äußere Unabhängigkeit, mit genau der gleichen Mischung. Und es ist wunderbar und zutiefst aufschlussreich, wie die englischen und die indischen Elemente sich dabei gegenseitig anziehen, abstoßen, wieder anziehen; wie aus all dem, und zwar nicht einfach: in Ablehnung der fremden, übergestülpten Kultur, sondern in ihrer produktiven „Übersetzung“ ins Eigene, ihrer gelingenden Aneignung, etwas ganz unverwechselbares erwächst: die eigene Identität, ein Kompositgebilde aus den verschiedensten Elementen, zusammengehalten durch eine besondere Persönlichkeit. Eben das ist Bildung!
Das sleeping dictionary, um zum Titel zurückzukommen, ist ein durchaus zweifelhafter Begriff aus dieser Zeit: So nannte man die einheimischen indischen Frauen, die Vertretern der britischen Kolonialmacht – die vor allem eine Bürokratie war, und zwar monströsen Ausmaßes – in sexuellen Beziehungen die indischen Sprachen und die indigene Kultur nahebrachten; was oft genug auch zu gemischten Ehen und ehelichen oder unehelichen Kindern führte, die jedoch gesellschaftlich keinesfalls akzeptiert waren. Ein sleeping dictionary – das ist aber auch Poms/Sarahs/Kamalas Aufstieg durch Lesen, Lernen und Bildung in einem umfassenden Sinn: Sie lernt nicht etwa im Schlaf, aber unsystematisch, aus gestohlenen Gelegenheiten, heimlich, undercover sozusagen; keine wohlwollende Turmgesellschaft (das ist die etwas dubiose Instanz, die Wilhelms Bildung im Hintergrund leitet und sanft zum rechten Ende steuert) bewacht sie, aber sie trägt die indische Dichtung (Rabindranath Tagore) nahe beim Herzen, gleich neben Jane Austen, und sie sucht Zuflucht bei ihren eigenen indischen Göttern. Und am Ende – aber jetzt ist genug gespoilert! Belassen wir es dabei: Am Ende ist das sleeping dictionary erwacht; und vielleicht ist das auch eine Metapher für den multikulturellen weiblichen Bildungsroman schlechthin?
Der Roman ist bisher nur auf Englisch erschienen. Weitere Informationen:
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