Im Übrigen kann man auch Krimis unter gender-Perspektiven lesen, und das ist sogar ziemlich interessant. Auch dazu zuerst eine kurze literaturwissenschaftliche Abschweifung. Der Krimi leidet nämlich manchmal ein wenig unter seinem schlechten Ruf, und als Krimi-Junkie sieht man sich gelegentlich in die Defensive gedrängt; Unterhaltungslektüre, mag ja gut gemacht sein, aber immer nur das gleiche Muster! Denn der Krimi hat in extremer Form das, was nach Aristoteles eigentlich gute Literatur ausmacht: ein Anfang (meist: ein Mord), eine Mitte (meist: die detektivische Ermittlungsarbeit) und ein Ende (meist: die Auflösung des Falls). Aber, um nun die Verteidigungsarbeit zu beginnen: Menschen lieben Muster nicht nur, sie brauchen sie. Muster erlauben Variationen; erst durch die Variation wird das Muster erkennbar und lebendig. Grenzen-lose Freiheit wird in der Literatur, wie so oft auch sonst, überschätzt: Jeder literarische Text orientiert sich, mehr oder weniger, an Mustern; und, um ein bekanntes Zitat über die Philosophiegeschichte abzuändern, könnte man sagen: Die schöne Literatur besteht aus Fußnoten zu Homer (na gut: vielleicht noch Ovid. Und Shakespeare, natürlich).
Krimis aber sind die literarischen Variationsweltmeister. Mit Krimis lernt man das eigene Land und fremde Länder kennen, und zwar von innen, über ihre Bewohnerinnen wie ihre Landschaften, ihre Sitten, Denkweisen und Macken, ihre kulinarischen und kulturellen Vorlieben. Mit Krimis reist man auch durch die Geschichte: Gemordet wird immer, ob in der Antike oder in der schönen neuen Millennial-Welt. Mit Krimis lernt man Milieus kennen, von innen und von außen; sie spielen häufig in Mini-Welten (vom Amateur-Theaterclub bis zum Zoo). Und sie zeigen ganz nebenbei, wie soziale Zirkel interagieren, funktionieren, entarten und sich wieder einfangen: Sozialdynamikund Systemtheorie bei der Arbeit, sozusagen. Mit Krimis lernt man nicht nur logisch denken und auf Details zu achten, auf den Spuren von Denk-Größen wie Sherlock Holmes oder Miss Marple; man absolviert ebenso ein Emotionstraining (Leute morden nicht aus rationalen Gründen) und eine Einführung in die Entwicklungspsychologie (Täter, Opfer, Detektive). Wer es am Ende gewesen ist, whodunnit: Darauf kommt es oft gar nicht an, auch wenn die Auflösungsspannung ein wesentlicher Lektüremotor ist; aber der eigentliche Lesegenuss liegt im Dazwischen, im Fleisch sozusagen, nicht im kargen Handlungs-Skelett.
Nun ist eine der wesentlichen Variations-Muster, man kann sogar sagen: sein grundlegendstes überhaupt, die Wahl der Ermittler-Figur: angestellter Kriminalbeamter, Privatdetektiv, Hobby-Ermittlerin und alles dazwischen (es gibt sogar Katzen oder Schafe). Und vielleicht kommt gleich danach die ebenso grundlegende Entscheidung, ob die Ermittlerfigur männlich, weiblich oder alles dazwischen ist. Und selten wird das deutlicher als in Krimis, die in Zeiten und Räumen angesiedelt sind, wo Frauen mit erheblichen Einschränkungen und Handicaps zu kämpfen hatten, ob im ganz normalen Leben oder wenn sie auf die Idee kommen, Kriminalfälle lösen zu wollen. Es fehlt ihnen möglicherweise an Bildung und Ausbildung, weil sie keine Schulen besuchen durften; es fehlt ihn an gesellschaftlichem Zugang zu bestimmten Räumen, weil sie vielleicht nur in sehr begrenztem Umfang überhaupt am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen; es fehlt ihn der Zugang zu bestimmten Berufen, die sich mit Kriminaldelikten befassen; es fehlt ihnen an politischem Einfluss oder gesellschaftlicher Anerkennung, weil sie einem niederen Stand angehören, der falschen Kaste, einer unterdrückten Ethnie.
Aber, und das ist wirklich interessant zu lesen und zu erkennen: All diese Nachteile können auch Vorteile sein! Denn sie ermöglichen nicht nur einen anderen Blick auf gesellschaftliche Phänomene oder die Netzwerke der Macht; sie gewähren auch Zugang zu den Milieus und Netzwerken der Ausgeschlossenen, der Eingeschränkten, der Unterdrückten. Und so kämpft Sujata Masseys Perveen Mistry, gestaltet nach den Vorbildern der ersten historischen Anwältinnen Indiens in der Schlussphase des britischen Kolonialreichs um 1920/1930 im damaligen Bombay, zwar immer wieder mit hartnäckigen Statusproblemen (sie darf beispielsweise als Anwältin nicht persönlich vor Gericht erscheinen, sondern braucht immer einen männlichen Avatar, sozusagen); gleichzeitig aber entwickelt sie ihr eigenes Ermittlungsverfahren und ihr weibliches Ermittlungsnetzwerk von Informantinnen, Gehilfinnen, gelegentlich auch: Frauen mit einem gewissen Einfluss oder einer zweifelhaften Vergangenheit. Und wer weiß schließlich besser als Frauen, was Männer so treiben in ihren dunklen Stunden?
Noch stärker eingeschränkt ist die Hauptfigur der Kriminalromane von Ovidia Yu aus dem Singapur der 1930/1940er Jahre: Sun Lin leidet an den Spätfolgen einer Polio-Erkrankung in der Kindheit; sie ist Waise, mittellos und erkämpft sich ihre Stellung durch ihre scharfe Beobachtungsgabe ebenso wie ihr unglaubliches Beharrungsvermögen und ihre Durchsetzungskraft. In gewisser Weise (wie so oft) ist sie durchaus eine Spiegelfigur ihrer Autorin: Ovidia Yu (die Ovid schon im Namen trägt) ist geboren in Singapur und leidet an Epilepsie. Nach einem Medizinstudium, das ihr mehr oder weniger von ihren Eltern aufgezwungen wurde, widmete sie sich aber immer mehr ihren literarischen Interessen; bevor sie literarisch erfolgreich wurde, schrieb sie Bedienungshandbücher oder Skripte für Video-Trainings. In den Sun-Lin-Krimis sieht man nicht nur das historische Singapur mit seiner Mischung von Kulturen, Kolonialherren und Kriegsgräueln wie einer Zeitkapsel, sondern eben auch: eine Art weibliche Emanzipation durch Detektivarbeit.
Das gilt schließlich auch für Kaveri, die im indischen Bangalore ermittelt und die Heldin der Reihe um den Bangaloore Detectives Club ist, geschaffen von Harini Nagendra. Ähnlich wie Yu ist auch Nagendra auf Umwegen zum Krimischreiben gekommen: Hauptberuflich arbeitet sie nach einem Biologie-Studium, das sie mit einer Promotion mit ökologischem Schwerpunkt abschloss, als Professorin in Bangalore. Nagendra beschäftigt sich mit einer Reihe aktueller ökologischer Themen wie Biodiversität, Nachhaltigkeit städtischer Entwicklungen oder der Rolle von Wäldern in Städten; sie war Gastprofessorin in mehreren angesehenen Universitäten und hat eine reiche wissenschaftliche Publikationsliste vorzuweisen. Ihre Heldin Kaveri könnte davon nur träumen: Von ihrer Familie verheiratet (aber zum Glück mit einem sehr verständnis- und liebevollen Ehemann), ist sie eigentlich auf ihren Haushalt eingeschränkt und hat keine formale Bildung oder gar Ausbildung erhalten; doch wie sie ihr eigenes persönliches Netzwerk spinnt und ihre Einflussmöglichkeiten schrittweise weiter ausdehnt und dabei auch andere Frauen mitnimmt, bis hin zu ihrem eigenen kleinen, natürlich informellen Bangaloore Detectives Club – auch das ist eine Emanzipations- beinahe mehr als eine Kriminalgeschichte, und eine Lektion in historischer und kultureller Differenz dazu.
Also, für die Krimi-Begeisterten unter unseren schoengeistinnen hier die Lese-Liste (leider liegen zu den meisten noch keine deutschen Übersetzungen vor):
Sujata Massey
The Widows of Malabar Hill (2018); The Satapur Moonstone (2019); The Bombay Prince (2021); The Mistress of Bhatia House (2023)
Ovidia Yu
The Frangipangi Tree Mystery (2017); The Betel Nut Tree Mystery (2018); The Paper Bark Tree Mystery (2019); The Mimosa Tree Mystery (2020); The Cannonball Tree Mystery (2021); The Mushroom Tee Mystery (2022)
Harini Nagendra
The Bangalore Detectives Club (2022); Murder under a Red Moon (2023); A Nest of Vipers (erscheint 2024)
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