Von Anfang an war sie ein verkappter Heldenjüngling aus den heroischen Zeiten der Menschheit gewesen, der nur irrtümlich in diese Welt der Missverständnisse und Kompromisse geraten war, einen Kerker für eine wahrhaft freie und poetische Seele; und ihr selbstgewählter Freitod nach kurzem Leben war ihre Befreiung zu einem wahren, anderen, längeren Leben. Aber beginnen wir mit der kurzen Geschichte, mit dem Irrtum und: mit dem Leben als schreibende Frau.
Karoline von Günderode (1780-1806) ist von altem Adel, die Familie verarmt jedoch nach dem frühen Tod des Vaters. Mit 17 Jahren kommt Karoline deshalb in ein Damenstift: eine soziale Einrichtung geboren aus dem Geist von christlichem Sendungsgeist und nobler Barmherzigkeit zur Versorgung von in finanzielle Not geratenen Frauen des lokalen Adels. Das ist nun eigentlich gar nicht so schlimm, wie es sich anhört: Es wurde zwar ein moralisch vorbildlicher Lebenswandel erwartet, aber die geistlichen Pflichten waren gering, und Karoline kann sich offensichtlich mit Muße ihren literarischen und philosophischen Studien widmen. Der junge Schelling vor allem ist ihr ein Geistesverwandter, aber auch Schillers Spuren sind unverkennbar: Idealismus, in jeglicher Form, gern auch hochdosiert philosophisch, das ist Karolines Lebenselement.
Doch noch gibt es ein Gegengewicht: Sie freundet sich an mit Bettine aus der kinderreichen, wohlsituierten Kaufmannsfamilie Brentano, obwohl die Gegensätze kaum größer sein könnten: eine strenge Stiftsdame mit sorgfältig geheim gehaltenen dichterischen Talenten und philosophischen Leidenschaften – und ein Naturkind, in dessen Kopf die Ideen so übereinander purzeln wie die wilden schwarzen Locken an dem mädchenhaft kleinen Kopf. Doch gemeinsam erobert man sich das Reich der Poesie: Versüßt sich den dunklen Frankfurter Winter durch phantastische Weltreisen, liegt gemeinsam in der Wüste unter den Sternen mit den Pferden in der Nacht und macht sich über die Frankfurter Philister lustig; erwägt sogar die Gründung einer privaten Religion, eine Schwebereligion soll es sein, zwischen Himmel und Erde schillernd.
Auch Clemens, Bettines kaum weniger wilden Bruder, lernt Karoline kennen. Clemens verliebt sich sogar in die beste Freundin seiner Schwester – aber er verliebte sich leicht und schnell, das hat keinerlei tiefere Bedeutung; und wenn er Karoline poetisch-erotische Briefe schreibt, deren Entdeckung ganz sicher zu ihrem Verstoß aus dem Damenstift geführt hätten, ist das kaum mehr als eine Schreibübung. Nun muss Karoline sich zwar auch verlieben – das ergibt sich geradezu mit logischer Notwendigkeit aus ihrer Situation, aus der fatalen Mischung von äußerer Disziplinierung, innerem Idealismus und noch gebremsten, aufgestautem Schaffensdrang; der einzige Ausweg aus dieser Malaise ist, sich möglichst schnell zu verlieben, ein Objekt zu finden, das man bis in den Himmel hoch idealisieren kann, an das man all seinen Enthusiasmus hängen kann – und das einem verwehrt bleibt, natürlich (sonst wäre der Idealismus schnell am Ende). Aber dass der Wirrkopf Clemens nicht der Richtige ist, dass weiß Karoline dann doch; und im schnell entstehenden Dreiecksverhältnis zwischen ihr, Bettine und Clemens wird sie immer die Vernünftige bleiben. Friedrich von Savigny hingegen, er verkehrt ebenfalls im Brentano-Kreis, ist geeigneter für ihre Zwecke: ein aufstrebender Jurist, schon mit 21 Jahren promoviert, ein Hochbegabter von allgemein anerkannter Brillanz, Geistesschärfe und Bildung; ein ruhender Pol in diesem wirbligen Kreis, vielleicht sogar: sein geheimes Zentrum? Aber Savigny wird, wenig später, ausgerechnet Gunda heiraten, Kunigunde Brentano, die blasseste der schillernden Brentano-Schwestern; und sie wird ihm, als er noch vor dem dreißigsten Lebensjahr die erwartete Professur bekommt, eine würdige Professorengattin werden. Nein, hatte er an Karoline geschrieben, die ihm – für ihre Verhältnisse – eher zahme Liebesbriefe schreibt, es wäre ihm nicht recht, wenn sie ihn »Du« nenne.
Beim zweiten Versuch klappt es besser, am Anfang zumindest. Friedrich Creuzer ist ebenfalls ein akademischer Frühstarter, doch entschieden romantischer gesinnt: Er ist Philosoph, er wird als Mythenforscher reüssieren, und schon das verbindet ihn mit Karoline, die sich gern als Ossianischer Heldenjüngling sieht und in der Vergangenheit die Vorbilder für ihr eigenes, allzu wenig weibliches Empfinden sucht, die sie im Damenstift nicht finden kann. Aber Creuzer ist, nun ja, verheiratet; natürlich ist die Ehe nicht glücklich, natürlich verspricht er ihr die baldige Trennung und ewige Liebe, selbstverständlich sie ist die Einzige, und irgendwann, ganz sicher, irgendwann – das reicht Karoline, vorerst. Allerdings mag er Bettine und den ganzen wirren Brentano-Haufen nicht recht und empfiehlt ihr Abstand zu dieser gefährlichen Person zu halten. Vielleicht hat Karoline ein wenig gezögert; immerhin, man war einmal BFF gewesen. Aber Bettine wird immer anstrengender. Sie schreibt Briefe, tage- und seitenweise, endlose phantastische Monologe, die von einem Bild zum anderen tanzen, Gedanken und Ideen versuchsweise durchspielen, sie aber schnell, bevor sie zum Begriff zu werden drohen, wieder freilassen, ins Offene, Unbestimmte – und Bettine schaut ihnen nicht einmal nach, wie sie fallen, sie hat schon wieder eine neue Idee geerntet, eine neue Blume gepflanzt, einen neuen Menschen ein wenig abseits von den anderen, allzu bekannten Philister-Gesichtern gefunden. Und irgendwann lässt Karoline den Briefverkehr einfach einschlafen. Hatte sie selbst nicht inzwischen, zum Erstaunen aller, ihren ersten Gedichtband veröffentlicht? Er erschien unter dem Autornamen ›Tian‹: tian, das ist der Himmel im Chinesischen, wahrscheinlich wusste sie das von Creuzer; der fiktive Name mutet zudem vage androgyn an, und was hätte ein passenderer Name für einen aus dem Sagenhimmel verstoßenen Heldenjüngling sein können? Dem Himmel nähert sich Karoline jetzt sowieso immer mehr, auch in ihren Gedichten, ihren kurzen Dramenentwürfen und Prosastücken, die mit virtuoser Formenstrenge und philosophischer Gedankenschwere brillieren. Als die Welt lernt, wer sich hinter Tian verbirgt, will sie es nicht glauben: Niemals, so gibt Clemens, der selbst poetisch Hochbegabte, aber viel zu wenig Disziplinierte zu, hätte er gedacht, dass eine Frau so schreiben kann, so formen, so denken. Sogar Goethe ist des Lobes voll. Was hätte noch aus diesem Talent werden können?
Doch Karoline ist dem Himmel schon viel zu nahegekommen. Als Creuzer schwer erkrankt, pflegt ihn seine Ehefrau treusorgend gesund, und der genesene Ehemann verpflichtete sich ihr erneut, sei es nun aus Dankbarkeit oder weil er bereits erkannt hatte, dass er mit dem Götterjüngling sowieso nicht würde mithalten können: Er schreibt den Abschiedsbrief. Man will ihn Karoline noch vorenthalten, aber aufgrund unglücklicher Umstände liest sie ihn doch. Sie reagiert gefasst. Sie entschuldigt sich, sie müsse kurz auf ihr Zimmer gehen, alle sind erleichtert, man hatte Schlimmeres befürchtet. Karoline jedoch kommt nicht wieder. Sie ist in ihr Zimmer gegangen, hat den kleinen silbernen Dolch geholt, für dessen Benutzung sie sich von einem Chirurgen hatte instruieren lassen, diszipliniert, planvoll, souverän wie immer; wahrscheinlich hatte sie ein poetisches Interesse vorgetäuscht, eine Heldin, die den Heldentod sterben sollte auf der Bühne, was auch immer. Und dann geht sie hinab an den Fluss, den Rhein, und erdolcht sich, ein gezielter Stoß ins Herz, in Winkel am Rhein, 26jährig. Welche Kraft dazu gehörte, den Dolch zu führen und zuzustechen und zu treffen, niemand kann es ermessen. Oder war es ihr doch ein Leichtes, endlich diesen irdischen Kerker zu verlassen, in der Gewissheit, dass danach der Himmel kam, tian, das bessere Leben, das ideale und poetische? »Meine Ansicht vom Sterben ist die ruhigste«, das hatte sie schon einige Zeit zuvor geschrieben, aber das schreibt sich unendlich viel leichter, als man es tut – und die meisten Romantiker schreiben nur romantisch vom Sterben (sie tun sich ein wenig schwer mit dem Leben, aber das ist nun wirklich kein Grund tatsächlich zu sterben).
In ihrem Nachlass fand man ein Gedicht, das zu den schönsten romantischen Gedichten überhaupt gehört; es erinnert an den anderen Heldenjüngling der Romantik, an Novalis, Friedrich von Hardenberg mit seinen androgynen Zügen, für den das Sterben ebenfalls der ultimative Beweis eines wahrhaft romantisch gelebten Lebens war. »Einstens lebt ich süßes Leben«, beginnt Karolines Gedicht; und wir sehen das Ich davonschweben in ein tiefes blaues Meer, wo es von der Somme umarmt wird und geküsst von den farbigen Himmelslichtern, weil es heimgekehrt ist; es sieht die ewigen Götter auf ihren Thronen, es sieht die Helden kämpfen gegen gewaltige Tiere – wie gern hätte Karoline diesen Kampf gekämpft, im Leben nicht nur in der Dichtung! –, und über all dem schwebt eine Jungfrau, eine heilige Jungfrau. Aber sie kann nicht zu ihr kommen, zur heiligen Jungfrau, wo der ewige Frieden wäre – denn die Erde, die schwere Erde zieht sie immer noch an, die Erde ist die Mutter von allem, und unter Schmerzen verlässt das schwebende Ich den heiligen Äther mit den ewigen Göttern und den farbigen Lichtern, um zur Erde zurückzusinken, in ihren mütterlichen Schoß. Durfte Karoline selbst einziehen bei den ewigen Göttern, durfte sie wohnen neben der himmlischen Jungfrau, oder ist sie in den mütterlichen Schoß heimgekehrt, endlich heimgekehrt? Oder schwebt sie vielleicht zwischen beiden, bis heute?
[Einstens lebt ich süßes Leben]
Einstens lebt ich süßes Leben,
denn mir war, als sey ich plötzlich
nur ein duftiges Gewölke.
Uber mir war nichts zu schauen
als ein tiefes blaues Meer
und ich schiffte auf den Woogen
dieses Meeres leicht umher.
Lustig in des Himmels Lüften
gaukelt ich den ganzen Tag,
lagerte dann froh und gaukelnd
hin mich um den Rand der Erde,
als sie sich der Sonne Armen
dampfend und voll Gluth entriß,
sich zu baden in nächtlicher Kühle,
sich zu erlaben im Abendwind.
Da umarmte mich die Sonne,
von des Scheidens Weh ergriffen,
und die schönen hellen Strahlen
liebten all und küßten mich.
Farbige Lichter
stiegen hernieder,
hüpfend und spielend,
wiegend auf Lüften
duftige Glieder.
Ihre Gewande
Purpur und Golden
und wie des Feuers
tiefere Gluthen.
Aber sie wurden
blässer und blässer,
bleicher die Wangen,
sterbend die Augen.
Plötzlich verschwanden
mir die Gespielen,
und als ich traurend
nach ihnen blickte,
sah ich den großen
eilenden Schatten,
der sie verfolgte,
sie zu erhaschen.
Tief noch im Westen
sah ich den goldnen
Saum der Gewänder.
Da erhub ich kleine Schwingen,
flatterte bald hie bald dort hin,
freute mich des leichten Lebens,
ruhend in dem klaren Aether.
Sah jetzt in dem heilig tiefen
unnennbaren Raum der Himmel
wunderseltsame Gebilde
und Gestalten sich bewegen.
Ewige Götter
saßen auf Thronen
glänzender Sterne,
schauten einander
seelig und lächelnd.
Tönende Schilde,
klingende Speere
huben gewaltige,
streitende Helden;
Vor ihnen flohen
gewaltige Thiere,
andre umwanden
in breiten Ringen
Erde und Himmel,
selbst sich verfolgend
ewig im Kreise.
Blühend voll Anmuth
unter den Rohen
stand eine Jungfrau,
Alle beherrschend.
Liebliche Kinder
spielten in mitten
giftiger Schlangen. –
Hin zu den Kindern
wollt ich nun flattern,
mit ihnen spielen
und auch der Jungfrau
Sohle dann küssen.
Und es hielt ein tiefes Sehnen
in mir selber mich gefangen.
Und mir war, als hab ich einstens
mich von einem süßen Leibe
los gerissen, und nun blute
erst die Wunde alter Schmerzen.
Und ich wandte mich zur Erde,
wie sie süß im trunknen Schlafe
sich im Arm des Himmels wiegte.
Leis erklungen nun die Sterne,
nicht die schöne Braut zu weken,
und des Himmels Lüfte spielten
leise um die zarte Brust.
Da ward mir, als sey ich entsprungen
dem innersten Leben der Mutter,
und habe getaumelt
in den Räumen des Aethers,
ein irrendes Kind.
Ich mußte weinen,
rinnend in Trähnen
sank ich hinab zu dem
Schooße der Mutter.
Farbige Kelche
duftender Blumen
faßten die Thränen,
und ich durchdrang sie,
alle die Kelche,
rieselte Abwärts
hin durch die Blumen,
tiefer und tiefer,
bis zu dem Schooße
hin, der verhüllten
Quelle des Lebens.
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