Man ist geneigt, sich akademische Philosophen als geruhsame Persönlichkeiten vorzustellen. Vom Normalmenschen unterscheiden sie sich allein dadurch, dass sie denken, und zwar beruflich. Aber da wir alle denken, mehr oder weniger, ist man auch geneigt anzunehmen, dass sie sich nicht besonders stark unterscheiden vom Normalmenschen (wir alle haben einen inneren Normalmenschen. Sonst könnten wir ja keine Abweichungen davon erkennen). Sie führen ein eher geruhsames Leben in geschützten Universitätsräumen, fliegen gelegentlich zu philosophischen Kongressen und schreiben Bücher, die, mehr oder weniger, niemand liest. Nur einige von ihnen bringen es zu einer gewissen Berühmtheit, meist mit einem einzelnen Begriff, der handlich kam, oder mit einer steilen These, die einen kleineren shitstorm anfachte. Und wenn man sich diese Ausnahmen genauer anschaut, sieht man (das gleiche gilt im Übrigen für Autoren und schreibende Frauen): Das sind gar keine Normalmenschen, sondern Persönlichkeiten! Sie haben ein Leben, und nicht nur eine Veröffentlichungsliste! Na gut, keine große Erkenntnis. Aber ab und zu muss man auch das Selbstverständliche entdecken und begründen.
Und so entdeckte ich also Martha Nussbaum. Martha Nussbaum ist eine Bilderbuchphilosophin; also ein Ideal, ins Leben versetzt so weit das eben möglich ist mit Idealen. Die Frau ist 75 Jahre alt, gertenschlank, mit strahlend blauen Augen in einem Gesicht, das immer noch umrahmt wird von blonden Wellen, was aber gar nicht falsch aussieht. Sie ist stets sorgfältig gekleidet, sie kann sowohl sportlich-leger als auch klassisch-weiblich; sie hat Lieblings-Designer, sie geht shoppen, sie trägt High Heels oder barfuß. Sie kann all das, kein Problem; sie ist Sex and the City, für die intellektuell anspruchsvolle und reifere Frau. Alle Fotos von ihr im Internet sind gekonnt gestylt; viele davon sind von berühmten Fotografen gefertigte Personality-shots und ausstellungsreif. In den dazu gehörigen personality peaces, auch von ihnen stellt das Internet eine große Menge zur Verfügung, gesteht sie sorglos, dass sie sich Botox in die Denkerstirn spritzen lässt und kleine Altersdefekte auch chirurgisch entfernen lässt. Sie will, das sagt sie deutlich, eine attraktive Frau bleiben, das ist sie vor allem sich selbst schuldig, und Alter sollte nichts sein, womit man sich rausredet. Sie läuft und hebt Gewichte, jeden Morgen eine Stunde; dann singt sie Opernarien, gekonnt, geschult. Wenn er sie wirklich kennenlernen wolle, so lässt sie einen personality-Reporter wissen, dann solle er kommen und sie singen hören. Es ist ihr Weg, Emotionen zu zeigen; denn Emotionen –
– aber nein, kommen wir noch nicht zu ihrer Philosophie, obwohl alles bisher Gesagte natürlich schon Philosophie ist. Aber wer nun meint, das sei doch typisch, bei einer Frau als Philosophin so lange über das Aussehen zu reden – spricht Jürgen Habermas über seinen Friseur? Prahlt Peter Sloterdijk mit seinem Rennrad-Training? (na gut, gelegentlich) -, hat noch nichts von weiblicher (Bilderbuch-)Philosophie verstanden, sondern plappert die üblichen feministischen Phrasen daher, die unsere Bilderbuchphilosophin publikumswirksam zerrissen hat; wofür sie natürlich angefeindet wurde. Aber Martha Nussbaum ist überzeugt, dass genau das die Aufgabe der Philosophie, und vor allem: der Moralphilosophie, ihres akademischen Spezialfaches, sein sollte: öffentliche Diskurse anzuregen und zu steuern; Widersprüche zu ertragen und in einer echten Diskussion auszutragen; für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen, und zwar konkret, hier und jetzt und vor allem dort, wo es bitterer nötig ist als im Luxusmilieu staatsfinanzierten Luxusdenkens (Feminismus ist Bekämpfung von Genitalverstümmelung und Bildungsnotständen, nicht sprachlich verkleisterte Identitätspolitik von weiblichen Eliten).
Aber natürlich ist Martha Nussbaum selbst ein Produkt genau dieses Milieus. Sie ist in einem elitären Haushalt in einer elitären Gegend aufgewachsen, hat Eliteschulen und Eliteuniversitäten besucht und so ziemlich jeden akademischen und philosophischen Preis erhalten, den man nur erhalten kann; wenn es jedes Mal einen Orden dafür gäbe: Das Kleid ist noch nicht erfunden, dass diese Last tragen kann. Sie war die Musterschülerin, von früher Jugend an, der Augenstern des intellektuell ambitionierten Vaters, die Lieblingsschülerin großer Männer und gelegentlich sogar Frauen. Und sie hat es wahrscheinlich gewollt und genossen, in jeder Minute eines rigoros durch organisierten Lebens, das geprägt ist von einer über alles hinweggehenden Disziplin des Machens, Könnens und Wollens. Jedes Jahr schreibt sie ein Buch, in einem leichten, eleganten und doch präzisen, packenden, mitnehmenden Stil fern des akademischen Jargons; das Feuilleton liebt sie dafür, zu Recht. Hier ist eine, die niemals sagt: Ich bin ein Opfer – obwohl sie gelegentlich durchaus sexistischer Anmache und Benachteiligung ausgesetzt war. Die Anekdote, die dazu allenthalben kolportiert wird, ist so schön und tief-sinnig, dass sie auch hier erzählt werden muss: Bei ihrer Aufnahme als erste Frau also in die „Society of Fellows“ in Harvard habe ein Fellow vorgeschlagen, da nun einmal keine weibliche Form von „Fellow“ existiere und offensichtlich auch keine erdenklich war, sie doch als „hetaira“ zu benennen – und das war wahrscheinlich als Kompliment gemeint: Denn Martha Nussbaum war und ist eine schöne, sexuell attraktive Frau von hohem Unterhaltungswert für gebildete Männer. Aber ihre Rache ist subtiler, sie sucht sich nämlich selbst gezielt Männer mit hohem Unterhaltungswert als erotische Objekte; und die illustre Reihe ihrer Lebenspartner dokumentiert, dass die Schwelle dabei ziemlich hoch hängt.
Sagten wir schon, dass sie nicht nur Philosophie studiert hat und den gesamten akademischen Kanon klassisch-abendländischer Autoren nicht nur gelesen, sondern auch verstanden und in gewisser Weise: modernisiert hat? Sie kann Aristoteles und Platon (die meisten Männer-Philosophen können entweder Aristoteles oder Platon); die Stoiker liegen ihr am Herzen und formen ihr Leben und Schaffen, aber auch zeitgenössische Denker werden bedacht (in strengerer Auswahl: Dekonstruktivisten insgesamt hält sie für durchaus entbehrliche Professoren der Parodie, insgesamt, eine selbsternannte Elite im schlechtesten aller möglichen Sinne). Sie hatte aber zunächst in Altphilologie promoviert und nicht nur die griechischen Tragödien gelesen und weitergedacht, sondern anschließend auch Schauspielerei studiert (das ist praktische Philosophie, yep!). Sie ist, anlässlich ihrer ersten Ehe, zum Judentum konvertiert und bleibt ihm bis heute treu; natürlich ist sie eine Atheistin. In dieser Ehe wurde ihre einzige Tochter geboren – in einer außerordentlich leichten Geburt, die sogar die Ärzte in Verwunderung versetzt haben soll; sie wollte aber nur möglichst wenig Arbeitstage verlieren. Und es gehört zur schwach ausgeprägten, aber dann doch unerlässlichen Tragik ihrer Existenz, dass diese einzige Tochter, eine engagierte Tierrechtlerin, die auch ihre Mutter von der Dringlichkeit dieses Themas überzeugen konnte, vor ihr starb, an einer Krankenhausinfektion.
Sie ist weit gereist in ihrem Leben, und nicht nur zu Philosophenkongressen. Eine Liebesbeziehung zu einem indischen Philosophen öffnete ihr die Augen für die sehr realen Probleme der anderen Welten auf diesen Planeten; seither arbeitete sie mehr als jemals zuvor an der praktischen Beseitigung von Ungerechtigkeit und Benachteiligung, wo auch immer und gegen wen auch immer sie sich äußert. Von Anfang an war ein Generalthema ihrer eigenen Philosophie die Rolle von Emotionen im Denken; starker Emotionen, handlungsleitender Emotionen wie Scham und Ekel, Ärger und Wut, die man nicht verleugnen darf, weil sie da sind, moralische Urteile des Körpers vor aller Reflexion, deshalb aber nicht: jenseits der Rationalität einer Analyse. Sie denkt Philosophie immer vom Körper her, aber es ist kein „wildes“ Denken, keine Verleugnung der Vernunft, sondern: die Rekonstruktion einer anderen Vernunft. In ihr haben auch positive Emotionen eine wichtige Funktion: das Staunen, das Mitgefühl, die besser handlungsleitende Empörung, die den Funken mitbringt, der nötig ist, damit Philosophie wirklich praktisch wird. Und damit ist nicht gemeint, dass nur darüber geredet wird, dass Philosophie nun endlich praktisch werde: Nein, es meint, dass sich die Philosophin auch in Gremien, Funktionen, Organisationen begibt, in denen Gerechtigkeit gemacht wird. Und gemacht wird sie, auch das ist ihr praktisch wichtig, in Rechtssystemen; weshalb man auch hier als praktische Philosophin mitspielen muss, wenn man gefragt wird, und urteilen, in einem ganz konkreten Sinn.
Wenn sie aber über Gerechtigkeit spricht, dann meint sie nicht, wie so oft in akademischen Menschenrechts-Diskursen, eine Art Generalanspruch auf einklagbare Grundrechte hoher Abstraktionsebene (Menschenwürde, Meinungsfreiheit und dergleichen, was sich Intellektuelle halt unter Freiheit vorstellen, die noch nie gehungert haben). Oder eine Garantie auf Lebensglück und immerwährenden Wohlstand in einer kommoden Demokratie. Nein, ihr zentraler Begriff ist der der „Fähigkeit“, und das ist etwas anderes als ein Recht. Eine Fähigkeit ist eine Möglichkeit; eine Anlage, die entwickelt werden kann, unter verschiedenen äußeren Bedingungen; und Gerechtigkeit heißt, dafür zu sorgen, dass diese äußeren Bedingungen – so gut wie eben möglich gegeben sind, und das für alle gleichermaßen. Der Mensch will leben und essen, er will wohnen und sein Eigentum geschützt sehen; sie will aber auch spielen und sich ausdrücken und mit seinesgleichen zusammenkommen; er und sie wollen sich, vielleicht ist das das beste Wort: entfalten, zu einer möglichst intensiven wie extensiven Pracht und Fülle, zu Lebensfreude und Wohlstand gleichermaßen. Und das für alle, inzwischen sogar: für Tiere. Inklusiver kann man nicht werden.
Das aber führt uns zu dem, was Martha Nussbaum vielleicht am meisten antreibt, von innen heraus; man könnte es ihr Lebensthema nennen, und wie immer wurzelt es in einen einem Trauma (wenn auch einem eher leichten, zugegeben). Denn wenn unsere Bilderbuch-Philosophin an irgendetwas leidet (natürlich leidet sie an vielen Dingen, wie jeder vernünftige Mensch; aber sie jammert nicht, sondern macht Philosophie daraus), dann ist es das wohl: ihre Privilegierung. Die unendliche Eliten-Schuld. Das Trauma der ewigen Musterschülerin, die es immer guthatte, die alle ihre Fähigkeiten entfalten durfte, unendlich gefördert, vielfach gelobt, sogar, allem Anschein nach: sehr geliebt. Und deshalb muss man arbeiten, diszipliniert, in allem, was man anfängt und dann weitermacht, aus Überzeugung und aus Können. Man hat all diese Fähigkeiten, und sie sind – eine Fähigkeit und eine Verpflichtung. Man will und man kann und man soll Joggen und Opernarien singen, Designer-Kleider kaufen und Philosophie-Preise gewinnen und für die Rechte der Frauen, der Tiere und der Andersmeinenden eintreten. Aber man muss arbeiten dafür, jeden Tag, damit man: das, was man ererbt hat von seinen Müttern und Vätern, am Ende besitzen darf (eines derjenigen Goethe-Zitate, das einen als junger Mensch in den Wahnsinn treibt: Wovon redet der Mann eigentlich? Und irgendwann hat man es dann erworben und besitzt es. Das nennt man ‚kulturelle Aneignung‘). Man muss weiter das Richtige tun, weil man es als das Richtige erkannt hat, auch wenn, seien wir ehrlich: man dafür selten geliebt wird. Man bekommt allenfalls Preise.
Warum eine Philosophin jemals in Rente gehen sollte, ihren öffentlichen Beruf niederlegen, das tägliche Denken einstellen – das will Martha Nussbaum nicht zu Kopfe gehen; wo man doch jeden neuen Tag älter, anders, neuer denken kann? Man hört doch auch nicht auf zu singen, nur weil die Stimme verstummt. Schauspielerin, Altphilologin, Moralphilosophin, Hetäre, Menschenrechtsanwältin, Tierrechtsadvokatin, Humanistin, Feministin, Jüdin, Mutter – Martha Nussbaum ist all das und wahrscheinlich noch vieles mehr – eine und meine ganz persönliche Bilderbuch-Philosophin eben.
Demnächst bei schoengeistinnen.de. eine Rezension ihres neuen Buchs: Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung.
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