Eine mythologische und eine sprachhistorische Abschweifung
Ich hatte mir geschworen, dieses Mal nicht zur kleinen Meerjungfrau zu gehen. Von einem jugendlichen Kopenhagen-Besuch hatte ich sie als traurigen Tiefpunkt eines verregneten Sightseeing-Tages in Erinnerung und als Inbegriff einer geradezu verzweifelten Melancholie: Sie schien mir damals weder besonders groß noch künstlerisch besonders wertvoll geraten, zudem unglücklich platziert an einer leeren Uferpromenade, wo das Meer weder besonders weit noch besonders erhaben war – nein, das war einfach wieder mal nur ein Trick, um nackte Frauen darzustellen und es „Kunst“ zu nennen. Und so bogen wir dieses Mal rechtzeitig von der Uferpromenade ab und entdeckten dabei eher zufällig die andere, wirklich imposante Jungfrau, die Kopenhagen zu bieten hat: Gefion nämlich aus dem Geschlecht der kriegerischen Asen, die über dem gleichnamigen Brunnen in Kopenhagen thront. Mit herrischer Gebärde, wehendem Haupthaar und einem Körperbau, der sehr wenig von weiblicher Anmut hat und eher regelmäßige Besuche im Fitness-Center assoziieren lässt, schwenkt sie die Peitsche über vier wilde Stiere, die sich widerwillig unter ihrem Griff hinwegbeugen. Sie steht ganz oben auf dem Brunnenfels, das Wasser sprüht in Stufen hinunter, und auf der untersten Stufe sind an beiden Seiten männliche Oberkörper angeordnet, die Wasser nach oben auspusten, ein wenig so, als wollten sie das herrische Heldenweib anspucken. Und einmal war ich der modernen Selfie-Sucht dankbar, denn die japanische Touristin in ihrem Designer-Kleid mit Hut und teurem Handtäschchen dazu (ein Hauch von Coco Chanel wehte daher), extrem zierlich natürlich, bildete den maximal vorstellbaren Kontrast zur wilden Gefion, die jedes Handtäschchen mit einem verächtlichen Blick und einem kleinen Schlag der Peitsche hinwegbefördert hätte, vielleicht in Richtung des männlichen Spuckers? –
Mein Mann schaute ein wenig eingeschüchtert und fragte, was es denn nun eigentlich auf sich habe mit dieser komischen Fixierung auf Heldenjungfrauen, die ja außerdem ziemlich wenig jungfräulich aussähen? Was mich auf die Rückfrage lenkt, ganz schoengeistinnen-gemäß, warum es denn eigentlich keine Helden- nun ja: Jünglinge? gebe, also jugendliche Personen männlichen Geschlechtes, die ihre Unschuld noch nicht verloren haben? Warum haben wir kein Wort dafür, und warum gibt es auch+ kein, ach ja, nennen wir es ruhig so: kein Narrativ dazu? Das waren nun mehrere verschiedene Fragen auf einmal, aber Kopenhagen hat die wunderbarsten Cafés der Welt und die Internet-Verbindung ist zumeist fabelhaft und frei. Deshalb, nun der Reihe nach:
Gefion, oder: Heldenjungfrauen, die mit Stieren pflügen
Also, Gefion war eine Asenjungfrau, und Wikipedia belehrt uns, dass das ein generell ziemlich kriegerisch gesinntes Heldengeschlecht der nordischen Mythologie war. Wie immer sind die mit Gefion verbundenen mythologischen Anekdoten nicht ganz konsistent, aber so kann man sich schamlos die fabelhaftesten Details hinauspicken. Also, Gefion, Beschützerinnen der Jungfrauen, Göttin der Familie und des Glücks und „rein wie der Morgentau“, konnte offenbar auch hinreißend singen. Deshalb schenkte ihr ein schwedischer Monarch, betört von ihrem – wilden? aufreizenden gar? oder doch eher jungfräulich-schamhaften? – Gesang so viel Land, wie vier Ochsen in einem Tag und einer Nacht pflügen könnten. Vielleicht war ihm das mit der Asenjungfrau nicht ganz klar, denn Gefion konnte nicht nur pflügen mit Ochsen; nein, sie hatte – zufällig wohl – vier gewaltige Ochsen zur Hand, ihre eigenen Söhne nämlich von einem Riesen (nein, wir fragen jetzt nicht, wie das wohl zugegangen sein mag und warum sie trotzdem eine Jungfrau blieb?), und die spannte sie ein, und sie pflügten in einem Tag und einer Nacht einen so tiefen Graben, dass er einen ziemlichen Happen Land von Schweden fortriss – das heutige Seeland nämlich, die größte Insel Dänemarks; und dort lebte fortan die Heldenjungfrau Gefion, aber da sie ihren Job getan hatte, durfte sie sich verheiraten, und fortan leben sie – jaja, das übliche. Die Schweden erzählen die Geschichte übrigens etwas anders. Die Dänen aber sind stolz auf Gefion und haben ihr einen gewaltigen Brunnen gebaut, er ist gar noch nicht so alt, sondern wurde erst 1908 eingeweiht und im Wesentlichen finanziert von der Carlsberg-Stiftung. Es sprudelt trotzdem Wasser und kein Bier im Brunnen, und er trägt, den Asen sei Dank, auch kein Werbebanner.
Jeanne d’Arc, oder: Heldenjungfrauen, die sich als Männer kleiden
Die weitaus berühmtere Heldenjungfrau ist aber natürlich Jeanne d’Arc, die französische Bauerntochter mit den Visionen vom Heiligen Michael, die Frankreich im Hundertjährigen Krieg retten und dafür ihr Leben geben sollte. Die Geschichte wird jetzt nicht erzählt hier, sie ist ein paar Nummern zu groß. Aber sie zeigt recht hübsch, welche Vorteile allgemein mit dem Status einer „Heldenjungfrau“ verbunden sind: Denn wer sich derart starrköpfig den Freuden des Geschlechts- und Ehelebens verweigert, der muss es ziemlich ernst meinen mit der Sache, der er sich nun gerade verschrieben hat. Jungfräulichkeit ist also, unter anderem, eine Legitimationsstrategie; und die mit ihr verbundenen Attribute von Reinheit und Unberührtheit verschaffen wenigstens in gläubigen Zeiten den für Frauen nötigen Schutzraum vor männlicher Gewalt in der Öffentlichkeit (und nun gar im Krieg!). Natürlich wird dann medizinisch untersucht, ob das wirklich stimmt mit der Jungfräulichkeit (die weibliche Kommission bestätigte, im Falle Jeanne d’Arcs: ja, stimmt). Das, was Jeanne d’Arc jedoch auf den Scheiterhaufen brachte, war ihre Neigung zum – in moderner Deutung: cross dressing. Denn sich als Mann zu kleiden und das wallende Jungfrauenhaar zu einer männlich-praktischen Kurzhaarfrisur zu stutzen – das war nun wirklich Häresie und Teufelswerk!
Die kleine Meerjungfrau, oder: Heldenjungfrauen, die nicht lieben dürfen
Den Fehler machte Gefion nicht. Sie pflügt mit offenem Haupthaar, das nur über der Stirn in einen dekorativen Kranz gebunden ist; und ihr im weiten Bogen um sie herumfliegendes, eindeutig weibliches Gewand würde jede Arbeitssicherheitskommission zur Verzweiflung bringen. Es gibt eben verschiedene Heldenjungfrauen; und vielleicht ist ja sogar die kleine Meerjungfrau, wie sie da so sitzt auf ihrem Stein, nackt allen Blicken ausgesetzt, die Vergnügungsschiffe fahren an ihr vorbei und der Küstenschutz und das Militär, vom Ufer klingt Carlsberg-beschwingte Hafenromantik herüber und niemand, niemand liest mehr Märchen – vielleicht ist sie ja auch eine Heldenjungfrau? Eigentlich hatte sie sich ja, soweit ganz rollenkonform, in einen Königssohn verliebt und sogar ihren recht schmückenden Fischschwanz und die eigene Unsterblichkeit dafür geopfert. Aber ihre Liebe wird nicht erfüllt, und am Ende stirbt sie, unberührt, für ihren Geliebten und wird dafür zum Luftgeist erhoben (heute liest man das Ganze gern als Parabel für Hans-Christian Andersens versteckte Homosexualität, aber das ist nun wieder eine ganz, ganz andere Geschichte).
Jungfrauen beiderlei Geschlechts, Junker, Junggesellen und Spinster: Sprach-Geschichten
Der Königssohn aber darf natürlich ein erfülltes Liebesleben führen, ohne Meerjungfrau, und damit zurück zur Frage, warum es keine unberührten Heldenjünglinge gibt, und noch nicht einmal ein Wort dafür! Die Etymologie, eine beinahe so schwankende Wissenschaft wie die Mythologie, belehrt uns immerhin, dass ganz früher (also: ungefähr mittleres Mittelalter) „Jungfrau“ der geschlechtsneutrale Terminus für keusche Jugendliche beiderlei Geschlechts war – ein generisches Femininum, man denke und staune! Dann war eine Zeitlang „Junkher“ auch als Parallelbildung zur „Jungfrow“ möglich, wenn auch nicht sehr verbreitet. Der „Junker“ entwickelte sich im Verlauf der Sprachgeschichte dann erst zur Bezeichnung für jugendliche Adlige männlichen Geschlechtes, und von da aus – man könnte vermuten: mit Gründen? – zur abwertenden Bezeichnung einer bestimmten Mentalität, die von Dummheit, Prasserei und genereller Überheblichkeit gekennzeichnet war (das eindeutig negativ assoziierte „Junkertum“). Dafür gibt es nun wieder kein weibliches Äquivalent. Ebenso übrigens wie für „Junggeselle“, den unverheirateten Mann jeglichen Alters. Die „alte Jungfer“ liegt ja (ausnahmsweise: mit Recht) auf dem Müllhaufen der Sprachgeschichte und wurde auch sprachlich nicht ersetzt. Hingegen haben die Engländer noch ältliche „spinster“; das Wort ist abgeleitet von Frauen, die spinnen (also wörtlich: ein Spinnrad bedienen, und damit unter Umständen auch ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten). Nun gut, keine jungfräulichen Männer, aber dafür auch keine alten Jungfern mehr – das muss an Sprachgerechtigkeit für heute reichen!
Wir aber schließen mit einigen Goethe-Worten, die recht schön das Wesen von jugendlichen Geschlechterverhältnissen in Reime fassen („Gift“ meint hier übrigens, in einem altertümlichen Sinne verwendet: Geschenk; und die Wortbildung „gebärdig“ ist ein würdiges Kind der Vereinigung von „Jungfrown“ und „Junkhern“ in ihrer Blüte):
„Denn das ist Gottes wahre Gift,
wenn die Blüthe zur Blüthe trifft;
deszwegen Jungfern und Junggesellen
im Frühling sich gar gebärdig stellen.“
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