Zur Bioethik der französischen Philosophin Corinne Pelluchon
Unter dem Titel Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt liegt jetzt der mittlere Teil der bioethischen Trilogie der 2020 mit dem Günter-Anders-Preis für kritisches Denken ausgezeichneten französischen Philosophin Corine Pelluchon vor. Im ersten Teil, Éléments pour une éthique de la vulnérabilité (2011), hatte sie eine Ethik der Verwundbarkeit skizziert, die auf Phänomenen wie Krankheit, Schmerz, Alter, Depression und Tod beruhte. Der dritte Teil Éthique de la considération (2018) ist inzwischen ebenfalls unter dem Titel „Ethik der Wertschätzung“ in deutscher Sprache erschienen. Der mittlere Teil trägt im Französischen den sehr viel aussagekräftigeren Originaltitel Les Nourritures. Philosophie du corps politique. Denn für Peluchon ist „nourriture“ Nahrung in einem umfassenden Sinn, nicht nur Ernährung; „Umwelt“ meint die globale Biosphäre und eine zoopolis aller Arten; und die genuin politische Einbindung dieses radikal bioethischen Konzepts wird in der eher verharmlosenden deutschen Übersetzung nicht einmal angedeutet. Pelluchon geht es jedoch in all ihren Schriften, darunter auch einem Manifeste animaliste (2017) und eine bisher nicht übersetzte philosophische Fabel (Comment va Marianne? Conte philosophique et républicain, 2012), durchaus um konkrete politische Wirksamkeit im großen Maßstab und nicht etwa um Ernährungsreform:
„Wir werden Vorschläge unterbreiten, die die Demokratie erneuern können […]. Wir werden Aussagen darüber machen müssen, was dieser Wandel der politischen Kultur auf der Ebene der Bildung der Individuen und der öffentlichen Meinung erfordert, und welchen Sinn der Kosmopolitismus haben kann, wenn man weiß, dass die Natur weder die Rolle des Fundaments spielen, noch als Dekor der Geschichte betrachtet werden kann.“
Das ist nicht Umwelt- oder Bioethik als modischer Beipack; das ist, wie Pelluchon selbst sagt, Grundlagenphilosophie, die mit einer Art kopernikalischer Blickwende einhergeht: Im Zentrum steht nicht mehr der Mensch (oder: Gott, die Vernunft, der Geist, die Freiheit, die Subjektivität); im Zentrum steht die Biosphäre des Lebendigen in all ihren körperlichen, erlebbaren Ausdrucksformen. Die hier präsentierte „Philosophie der Körperlichkeit“ bietet insgesamt nicht weniger als eine neue große Erzählung jenseits der klassischen philosophischen Themen und vor allem jenseits der geradezu philosophisch tiefenverwurzelten Dualismen von Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, Verstand und Gefühl an. Das gender-Thema als weiterer „großer Dualismus“ spielt dabei keine besondere Rolle; es lässt sich jedoch im Subtext dieses Werks als weibliche Perspektive durchaus mitlesen.
Ein wenig abschreckend bei der Lektüre ist der gelegentlich intensive und jargonbeladene philosophische Fachdiskurs sowie der zugrundeliegende, starke Anspruch auf eine systematische Grundierung einer Theorie einer ökonomischen Vernunft. Liest man jedoch das Buch in kleinen Portionen und unter Ausblendung seiner hardcore-akademischen Anteile, so erhält man eine Art bioethische Enzyklopädie auf dem aktuellen Stand der Diskussion: Es geht im ersten Teil („Phänomenologie der Nahrung“) um Genuss und Geschmack, um Wohnen und Haustiere, um Vegetariertum ebenso wie um Anorexie und Bulimie oder eine gerechtere und ökologischere Landwirtschaft. Der zweite, politische Teil („Eine Welt aufbauen“) behandelt dann die Grundlagen für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“, also einer Art Modernisierung von Rousseaus aufklärerischem Grundlagenwerk. Im Einzelnen, und sehr summarisch thesenhaft zugespitzt:
Nichts ist im Verstand, was nicht vorher im Körper erfahren wurde oder erfahren werden kann. Bioethik macht nur Sinn als Philosophie des Materiellen: Der Mensch ist, wie alle anderen Tiere, ein Wesen, das geboren wird, leidet und stirbt; das eine gemeinsame Welt bewohnt, das sich von seiner Umwelt und im Austausch mit ihr ernährt. Das sind keine Nebenaspekte einer Philosophie, sondern ihre (einzigen) Grundlagen.
Kein Mensch ist eine Insel. Die menschliche Existenz kann nur in Zusammenhängen gedacht werden; deshalb macht die akademische oder innerphilosophische Disziplinentrennung keinen Sinn: Alles in der Philosophie des Körpers ist ethisch, politisch, pädagogisch, ästhetisch und ökonomisch zugleich, weil der Körper nicht teilbar ist, ohne sein Leben zu beenden. Oder, konkret im Blick auf die „Nahrung“: „Essen heißt, jede Trennung zwischen den Disziplinen zu bestreiten und sich mitten ins Leben zu stellen, es heißt, von vornherein in der Ethik und in der Politik zu sein“ (25). Klassische Dualismen sind dabei nicht nur nicht wenig hilfreich, sie sind unangemessen und irreleitend. Beispiele für solche Zusammenhänge sind der umfassende oikos (die Biosphäre), die zoopolis (das gerechte Zusammenleben aller Arten) oder auch der überzeitliche Generationenzusammenhang: „denn wir gehören zu einer gemeinsamen Welt, auch mit den Ahnen und den zukünftigen Generationen“. Daraus ergibt sich schließlich die Forderung nach einem neuen bioethisch fundierten, aber lokal verwurzelten Kosmopolitismus als Fernperspektive.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Nahrung, als genuin lustvoller Austausch mit der Umwelt; der Geschmack als Vermögen, „die Würze der Dinge, ihre Schönheit und alles, was an ihnen förderlich ist“ (20) zu goutieren; die „Liebe zum Leben“ schließlich als kollektives und vergemeinschaftendes Urprinzip sind die Fundamente einer Philosophie der Körperlichkeit, die keine abstrakten Aprioris mehr kennt oder anerkennt: „‘Leben von‘ – das heißt von einer guten Suppe ebenso leben wie von Luft und Licht, vom Kino, vom Spazierengehen, von Arbeit, von Liebe, vom Schlaf, von der Stadt und vom Land“.
Von den Tieren lernen. Die Leistungsfähigkeit dieser Philosophie der Nahrung und der Körperlichkeit zeigt sich vor allem am Umgang mit den Tieren: Im gerechten Umgang mit seinen Artverwandten in der zoopolis kann der Mensch zu einer neuen Humanität auf der Basis eines echten, empfundenen Mit-Leidens jenseits des üblichen anthropozentrischen „egoistischen Altruismus“ finden. Er kann darüber hinaus in der Kommunikation mit ihnen einen nicht-sprachlichen Zugang zu seinen verschütteten emotionalen Kompetenzen (wieder-)entdecken: „Die Tiere humanisieren uns in dem Sinne, dass wir uns im Kontakt mit ihnen wieder mit unseren Emotionen verbinden, auf der Ebene des Fühlens kommunizieren und die Wahrheit einer empathischen Begegnung und einer Kommunikation mit der Welt spüren, die ‚älter ist als alles Denken‘“.
Bildung tut not. Das Erbe der Aufklärung muss reaktiviert werden, indem sich alle Mitglieder einer demokratischen Ordnung kontinuierlichen Bildungsprozessen unterziehen: Nur so ist gewährleistet, dass Experten in einen produktiven Austausch mit Bürgern und Politikern treten, der nicht zu einer „Expertokratie“ führt, sondern „wissenschaftlichen Daten in den politischen Debatten Gehör zu verschaffen“. Konkret schlägt Pelluchon beispielsweise eine dritte Kammer speziell für Umweltprobleme vor; die als „Versammlung für die Natur und die Lebewesen“ beispielsweise Zusammenfassungen von aktuellen wissenschaftlichen Studien und Debatten erarbeiten soll. Diese würden auch Bürgerinnen und Bürgern zu besser informierten und mündigen Teilnehmer an notwendig immer komplexer werdenden politischen Debatten werden lassen. Das erzieherische Ideal ist deutlich aufklärerisch imprägniert. Es soll mittelfristig eine deutliche Verbesserung der Debattenkultur und der politischen Redeweise herbeiführen: „Die Idee ist dabei, dass sich die Bürger nach und nach einer gehobenen Argumentation annähern und sich an Diskussionen gewöhnen, in denen jeder seinen Standpunkt rechtfertigt und die plebiszitäre Rhetorik durch eine deliberative ersetzt wird“ – Beratung und Erörterung statt Überredung und Verführung. Die aktuelle Dimension dieser Vorschläge zeigt sich bis hinein in den Sprachgebrauch: Es geht Pelluchon um eine „Einimpfung“ der Bürgerinnen in den Geist der partizipativen Demokratie (Impfgegner wird es immer geben…)
Du kannst dein Leben ändern! Alle theoretische Einsicht, auch alle Bildung nützt nichts, wenn es keine Motivation gibt, gewohnte Lebensweisen zu ändern. Echte Antriebe funktionieren nur, indem man die positiven Aspekte eines radikal anderen Welt- und Selbstverhältnisses hervorhebt, ihren Genuss- und Lustcharakter; indem man den „Appetit“ auf Leben weckt und spielend seine „Großzügigkeit“ erfährt (trotz oder: gerade wegen der Verletzbarkeit alles Lebendigen): „Die Liebe zum Leben ist das Prinzip, auf dem der Gesellschaftsvertrag aufbaut“. Damit erreicht wird laut Pelluchon auch so etwas wie eine „erneute Verzauberung des politischen Lebens“, wie sie sich in den Utopien und Möglichkeitsentwürfen aller Zeiten geäußert hat.
Die Philosophie der Nahrung ist nicht nur eine Philosophie der Nachhaltigkeit. Die Natur ist ein Lebensraum, auf dem unser aller Existenz beruht und der schöpferisch gestaltet, nicht im Interesse menschlichen Fortschritts, wie nachhaltig auch immer, ausgebeutet werden sollte: „Das Subjekt einer Phänomenologie der Nahrung wünscht sich, dass die Welt bewohnbar bleibt und die künftigen Menschen, seien es eigene Kinder oder Enkel oder nicht, über Mittel verfügen, sich ehrenhaft zu verhalten, indem sie schöne Landschaften gestalten, dauerhafte Städte bauen und sich fähig erweisen, eine Kultur hervorzubringen, die bezeugt, dass sie den Geschmack nicht verloren haben“. Der ästhetische Aspekt rückt damit in besonderer Weise ins Zentrum der Ethik; auch dies trägt durchaus zu ihrem Verzauberungscharakter bei.
Die Bücher von Pelluchon sind in deutscher Übersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erhältlich. Dort kann man auch ein interessantes Interview mit ihr nachlesen:
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