Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.
Saša Stanišić erzählt in seinem Roman Herkunft von seiner Heimat Jugoslawien, von wo aus er zusammen mit seinen Eltern 1992 nach Deutschland flieht. In dem autobiographisch gefärbten Roman ist der Autor auf der Suche nach sich selbst, stets begleitet von den drängenden Fragen, wie Herkunft unser Leben bestimmt, was Zuhause sein bedeutet und wie verdammt zufällig das Leben ist, in das wir hineingeboren werden.
Was Erlebtes ist und was Erdichtetes, bleibt für die Leser weitestgehend unklar. Das ist verständlich. Würden wir selbst von unserer Kindheit, unserer Jugend, vom Studium und Beziehungsgeflechten berichten, so wären es im Heute nur noch bruchhafte Erinnerungsstücke: subjektive Wahrnehmungen, eindimensionale Blickwinkel, ausgeschmückt oder mit dem Mut zur Lücke. Vieles in Stanišić‘ Text mag konstruiert sein, so wie unser Selbst immer konstruiert ist. Wir befinden uns im Zeitalter des Individualismus und damit im ewigen Ringen um die eigene Identität. Wer bin ich – und wenn ja, wie viele, so nannte Richard David Precht bereits seinen philosophischen Bestseller aus dem Jahr 2007, der Titel wurde zur gern zitierten Ich-Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Stanišić ist ebenfalls Viele und versucht seine vielen Persönlichkeitsschattierungen in ein Ich zu schreiben. Stanišić selbst formuliert: „Fiktion, wie ich sie mir denke, (…) ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt.“ Eben diese Konstruktion des eigenen Ichs, das Herkunft der Eltern, Sozialisation, Flucht aus dem Herkunftsland (Bosnien), Sprache, Ängste, Freuden, Anpassung und das Anderssein impliziert, macht seinen Text so spannend. Sein Ich findet sich zwischen zwei Kulturräumen wider, zwischen zwei Sprachen; Deutschland wird sein neues Zuhause, aber es ist nicht seine Heimat. Seine Heimat Jugoslawien befindet sich im Krieg.
Saša Stanišić beschreibt, wie er 1992 mit seinen Eltern nach Heidelberg flieht. Die Familie ist seitdem zerrissen, denn die an Demenz erkrankte Oma bleibt zurück. Stanišić schildert Erinnerungen an seine Oma sowie sein schlechtes Gewissen, sie im Stich gelassen zu haben. Der Großmutter sind zahlreiche Kapitel gewidmet, die besonders stark sind. Die Großmutter umrahmt die Geschichte Stanišić‘ – ist Anfang und Ende zugleich. Sie ist der Kitt, der die Familie zusammenhält. Sie verkörpert für ihren Enkelsohn Heimat, Altes und Bewährtes, während sie selbst ihre Erinnerungen verliert und wieder in ihrer Kindheit und Jugend lebt. Ebendiese Parallelität von Erinnerung und deren Verlust machen einen besonderen Reiz des Textes aus.
Die einzelnen Kapitel Stanišić‘ sind mal witzig, mal selbstironisch, mal traurig, mal tiefgründig, mal poetisch, sie beweisen die eigene Verwundbarkeit genauso wie den Mut, für sich selber einzustehen. In manchen Kapiteln findet sich sogar alles gleichzeitig. Es sind Texte, die das Leben einfangen in all seinen Aufs und Abs, seinen Schattierungen – mal schwarz, mal weiß, mal mit einem großen Farbklecks grau, nämlich dem Dazwischen. Leben ist kein linearer Verlauf nach Plan, sondern die Summe von Erlebnissen, Erfahrungen und Erinnerungen, die wir in einer selektiven Auswahl im Nachgang als unser Leben anerkennen. Wir konstruieren unsere Lebensgeschichte also zu einem gewissen Teil selbst. Diesem Ansatz verleiht Saša Stanišić in der Form seines Schreibens Ausdruck. Er macht Zeitsprünge in seinen Erinnerungen, lässt weg oder schweift ab: „Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten. Nur noch eine! Nur noch eine! Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifungen wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens. My own adventure. (…) Das Nebensächliche bekommt Gewicht.“
Biographisches und Auszeichnungen
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad, einer kleinen Stadt in Bosnien, geboren. Seine Mutter war Politikprofessorin, sein Vater serbischer Betriebswirt. Im Jugoslawienkrieg fliehen die Eltern mit Saša 1992 nach Heidelberg zu einem Onkel, der dort als Gastarbeiter lebt. Beide Eltern hängen mit der Flucht ihre Karrieren an den Nagel – seine Mutter kommt in Deutschland in einer Wäscherei unter, sein Vater ist auf dem Bau tätig. Die Eltern haben Probleme mit der deutschen Sprache, leben sich nicht ein und wandern 1998 in die USA aus. Saša hingegen bleibt in Deutschland, er entdeckt als Jugendlicher die Liebe zur deutschen Literatur, studiert nach dem Abitur Deutsch als Fremdsprache und Slawistik und darf wegen seines literarischen Talentes in Deutschland bleiben: mit einem Verlagsvertrag in der Tasche, der ihm einen Job als Autor bescheinigt. Die Frau bei der Ausländerbehörde drückt beide Augen zu, als es um seine Aufenthaltsgenehmigung geht.
Saša Stanišić bleibt Schriftsteller – Gott sei Dank! Sein Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert wird in 31 Sprachen übersetzt, sein Text Vor dem Fest wird zum Spiegel-Bestseller; Saša Stanišić wurde und wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt mit dem Preis des Deutschen Buchhandels 2019 für seinen Roman Herkunft. Das Urteil der Jury lautete: „Unter jedem Satz dieses Romans wartet die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens ist […] Mit viel Witz setzt er den Narrativen der Geschichtsklitterer seine eigenen Geschichten entgegen.“
Persönliches und Politisches
Bei der Dankesrede zum Deutschen Buchpreis erklärte Saša Stanišić, der Literaturnobelpreis an Peter Handke habe ihm den eigenen Preis vermiest. Stanišić wirft Handke vor, sich in den 1990er Jahren mit seinem literarischen Schreiben auf die Seite der Serben geschlagen zu haben – und zwar, weil er in seiner Literatur nicht die tatsächliche Situation in Jugoslawien geschildert habe. Stanišić macht Handke also das Weglassen von realen Situationen zum Vorwurf. Darüber hinaus sprach Handke die Grabesrede beim Tod des Diktators Slobodan Milošević. Stanisic regt mit der Kritik an der Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke eine wichtige Debatte an: Wo verläuft die Grenze zwischen Autor und Text? Muss Literatur politisch korrekt sein? Ich gestehe, dass es mir auch schwerfällt, Text und Autor klar voneinander zu trennen, wie das in der Literaturwissenschaft bis heute gelehrt wird. Diese Trennung funktioniert nicht. Inwieweit Handke für seine Literatur hätte besser recherchieren sollen, kann ich nicht beurteilen, da ich seine Texte aus den 1990er Jahren nicht ausreichend kenne. Wie die Wahrnehmung eines Österreichers vor Ort in den 1990er Jahren hätte sein müssen, ist gewiss auch schwer zu sagen, wenn man selbst nicht da war. Seine Grabesrede bei Milošović lässt jedoch deutlich die politische Verwirrtheit erkennen. Die Vergabe eines Literaturpreises ist in unserer heutigen Zeit auch ein Politikum! Dass man über die Preisvergabe diskutiert, finde ich richtig.
Saša Stanišić. Herkunft. Luchterland. Gebundene Ausgabe. 22 Euro
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