Hätte man mich gefragt, wer den Literatur-Nobelpreis wirklich verdient hätte, und zwar als deutsche/r Autor/in, ich hätte spontan und ohne eine Sekunde Nachdenken „Peter Handke“ gesagt (Christa Wolf ist tot, Ingeborg Bachmann ist schon lange tot, und Siri Hustvedt keine deutsche Autorin). Lassen wir dabei die unergiebigen Auseinandersetzungen über seine angeblichen politischen oder moralischen Verfehlungen beiseite; man kann das diskutieren, und man kann darüber mit Gründen unterschiedlicher Meinung sein. Unbestreitbar sind jedoch die Qualität seiner literarischen Texte, seine unermüdliche Produktivität und Wandlungsfähigkeit als Autor, seine – vielleicht kann man am besten sagen, auch wenn es ein wenig prätentiös klingt und er es vielleicht deshalb nicht mögen würde: literarische Integrität?
Peter Handke schreibt, vom Anfang an bis heute, ohne Netz und doppelten Boden. Jeder seiner Text ist existentiell verankert, ist erlebt, erfahren, ergangen, und mit jedem gibt er sich deshalb eine persönliche Blöße. Ewig ist er auf der Suche nach dem einverstandenen Leser, der mit-existierenden, mit-gehenden, mit-schwingenden, mit-atmenden Leserin, die erst einen Text zu einem lebendigen Etwas machen; und ewig muss er damit scheitern. „Brüderlichkeit“ hat Peter Handke dieses Lektüre-Ideal genannt (der nicht in politisch korrekten Kategorien denkt, sondern in existentiellen, auch gern in körperlichen); und wenn ich denn auch eine Schwester sein darf, dann bin ich es, eine mit-schwingende, mit-gehende, mit-atmende, hoffentlich auch: mit-verstehende Leserin. Ein Freund und Kollege, wie ich dem Handke’schen sound auf eine gewisse Weise verfallen, erzählte mir einmal, was ihm nach einer intensiven Handke-Lektüre widerfahren war. Er war über eine Eisfläche gegangen (also damals, als es noch kalte Winter gab); und er hatte ein wenig beunruhigt auf die Risse geschaut, die sich durch die allerdings beruhigend dicke Eisschicht zogen. Dieses Mal, unmittelbar nach der Handke-Lektüre, jedoch war es anders. Er sah nicht nur Risse im Eis, er sah Linien, die zu ihm sprachen, die Muster bildeten, Strukturen, Zeichen, die ihn auf eine Art und Weise an- und einbezogen, die, wie er beklagte, schwer sprachlich zu vermitteln sei. Das war aber gar nicht nötig, weil ich ihn auch so verstand; brüder- oder schwesterlich.
Wirklichkeit und Wiederholung
Genauso geht man nämlich durch die alltägliche Welt, wenn man Handke gelesen hat: Man sieht Spuren, Zeichen, Zusammenhänge. Die Natur spricht (es kann aber auch ein Feldweg sein, sogar eine Eisenbahnkurve kann sprechen), wie sie es früher einmal in der Romantik tat. Aber sie spricht keine geheime Sprache, die man lernen muss (und die, wie in der Romantik, eine göttliche Botschaft transferiert), sondern eine einfache, unverstellte, unmittelbare Sprache. Sie spricht Worte, die wirken: „Wirklichkeit“ ist ein Handkesches Haupt-Wort. Die Welt in Sprache wirklich machen; die gegenständliche, für sich seiende Welt, von der uns die Medien ablenken, die uns unsere eigene Unaufmerksamkeit und Voreingenommenheit entziehen, die Schlagwörter und Redeschablonen für uns vorsortieren und bewerten. Die Welt wirklich machen, indem sie man sie beschreibbar macht; sie „wieder-holen“ (auch eines der Handkeschen Hauptwörter) aus der Verlorenheit, Unaufmerksamkeit, Verborgenheit, Verstelltheit. Wer mit Handke durch einen Wald geht, geht durch einen wirklichen Wald. Es ist kein neuer, es ist kein aufregender, es ist weder notwendig ein wilder noch notwendig ein gepflegter Wald – es ist ein Wald, wie er überall stehen könnte, aber nunmehr als existentiell einzigartiger erlebt werden kann.
Dazu verzichtet Handke auf all die literarischen Tricks und Finessen, die uns als LeserInnen in gewisser Weise spätestens seit der Romantik korrumpiert haben. Seine Romane haben keine Handlung; sie erzählen keine aufregenden Geschichten, die wir mit Spannung verfolgen, immer schon den Ausgang im Blick und alles dazwischen schnell überspringend. Sie haben keine Figuren, mit denen wir uns identifizieren können, um das Herz bei der Stange zu halten (eine krude Metapher, aber vielleicht gerade in ihrer Krudität erhellend). Sie locken nicht mit prächtigen großen Worten, es gibt kein artistisches Schauturnen der Begriffe und Konzepte, sondern sie holen einfache Worte aus der Versenkung hervor und halten sie dem Leser entgegen, wie eine Monstranz: Und auf einmal weiß man wieder, was ein Kind ist, ein Pilz, ein Tag. Es gibt auch keine „Gesellschaftskritik“ (das Mantra und der Fluch des modernen Romans), keine „Relevanz“, kein moralisches Schulterklopfen. Das Böse ist anwesend in Handkes Texten, oh ja, durchaus; aber es ist jenseits der Moral, es existiert einfach, so wie die Kinder, Pilze und gute und schlechte Tage, es ist „beschreibbar“ und damit „wirklich“ geworden. Es gibt schließlich kein Bildungsspiel, obwohl Autoren und Künstler häufig in Handkes Versuchen auftauchen, gern auch aus der Populärkultur: Marilyn Monroe findet sich neben Augustinus von Hippo, und Don Quijote gibt John Ford die Hand. Aber all die nicht einfach herbei Zitierten, sondern in den Text integrierten Gestalten sind – „wieder-geholt“; gesehen und gelesen vor einem neuen Hintergrund, in dem sie auf einmal ungeahnte Zusammenhänge aufscheinen, Linien unter dem Eis unserer gefrorenen Wahrnehmung.
Zwischenraum und Zusammenhang
Denn Zusammenhänge sind, man kann das wohl so sagen, eine Obsession von Handke. Zusammenhänge, Übergänge, Schwellen – in vielfacher Variation ziehen sie sich durch Handkes Werke, der, so in einer eingängigen Formulierung in einem Interview, „nur von den Zwischenräumen lebt“. Zwischenräume, das ist auch so ein unscheinbares, verborgenes Wort. Es hat die „Räume“, die für Handke ebenfalls ein Schreibelixier sind – und wer lernen möchte, eine Landschaft geologisch zu lesen und gleichzeitig existentiell zu verstehen, der lese die Lehre der Sainte-Victoire: ein Berg und ein Maler und eine Lehre, alles zusammen. Aber genauso entscheidend ist das „Zwischen“. Wie kommt man von einem Wort zum nächsten? Wie folgt ein Satz auf den anderen? Wie entwickelt sich eine Erzählung, wenn man doch immer nur einzelne Dinge, getrennte Ereignisse, isolierte Wahrnehmungen erzählen kann, eines nach dem anderen wie auf einer Perlenschnur, aber was ist mit dem Dazwischen, den Knoten? Das ist ein auf den ersten Blick unscheinbares Problem, und doch kennt es jede, die einmal nach einem gelungenen ersten Satz den kaum minder schweren zweiten suchte. Kafka kennt es, der unzählige Male Erzählungen beginnt, mit einem Satz, aber dann ändert er ihn wieder, ganz leicht, man merkt es kaum, aber dann versucht er es noch einmal, und wenn er es endlich fertig hat, folgt der zweite – aber wie folgt er, folgerichtig, mit einem Sprung, in einem Kreis, einem Widerspruch?
Der Übergang muss, so hat es eine Figur in Handkes Lehre der Sainte-Victoire formuliert, fließend und trennend zugleich sein. Ein Paradox, aber es ist das Grundparadox allen Erzählens schlechthin, das eine Einheit des Erlebens nur fingieren kann, sich in Wirklichkeit aber von Satz zu Satz hangelt, ohne Netz und ohne doppelten Boden, und dazwischen gähnt der Zwischenraum. Kein Romanheld trägt uns über diesen Abgrund, keine Handlung vertuscht die Gräben durch die Behauptung eines finalen Zwecks und Ziels, kein Begriff nimmt uns bei der Hand und sagt: Ist doch alles nicht so schlimm, wenn man mal ein wenig abstrahiert und das große Ganze sieht! Nein, nicht bei Peter Handke. In den Zwischenräumen findet das Leben statt, in dem kurzen Anhalten zwischen Ein- und Ausatmen, an den Nähten, auf den Schwellen. In seinem Versuch über die Müdigkeit findet sich eine Stelle, die wohl dem Ideal eines gleichermaßen zusammenhängenden und trennenden Erzählens am nächsten kommt. Es ist nicht etwa ein Kunstgriff eines besonders raffinierten Autors, kein Zaubertrick des Illusionisten, nein: Im Zustand der „klaräugigen Müdigkeit“ (ein Paradox, was sonst) „erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos sich selbst“.
Wer dieses Schweigen lesen könnte – aber man kann es lernen. Ansatzweise, niemals ganz. In Zwischenräumen. Unter dem Eis, im Wald, bei den Kindern, sogar im Kino und von der Jukebox. Angesichts der Montaigne Sainte-Victoire, in Pariser Vorortzügen oder in den Bergen einer erträumten slowenischen Heimat. Bei Peter Handke.
Er weiß, daß in jedem mystischen Augenblick ein allgemeines Gesetz beschlossen ist, dessen Form er zum Vorschein bringen soll und das nur in seiner gemäßen Form verbindlich wird; und er weiß auch, daß die Formenfolge eines solchen Augenblicks freizudenken, das schwierigste Menschenwerk überhaupt ist. (Kindergeschichte)
Lektüreempfehlung:
Peter Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt mit Herbert Gamper. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1990.
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