Die Sache mit der Jungfrauengeburt habe ich nie so recht verstanden. Warum ist es einigen Religionen so wichtig, dass ihre Gründerfiguren keinen menschlichen Vater hatten, sondern nur eine sterbliche Mutter, die von einem Gott – wie immer man sich das auch vorstellen mochte –geschwängert wurde? Das mühsame Geschäft der Geburt wurde ihr dadurch auch nicht erspart, und für immer steht der Adoptivvater daneben und guckt – naja, wie man halt guckt, wenn man immer danebensteht, aber hinterher den Unterhalt bezahlen muss (metaphorisch gesprochen). Na gut, kein Sex, und das mag auch Vorzüge haben. Aber angesichts der durch Jahrtausende gefestigten Dominanz des männlichen Geschlechtes hätte Gott doch auch gleich einen Mann befruchten können, oder?
Aber das sind Gedankenspielereien, und man sollte nicht zu leichtherzig spielen mit religiösen Überzeugungen. Worauf ich eigentlich hinauswill, ist etwas anderes nämlich: Minerva (oder, griechisch: Athene, aber Minerva klingt schöner, finde ich), Minerva also wurde auf ähnlich undefinierte Weise gezeugt bei einem der üblichen Seitensprünge von Zeus, ja sogar: dem allerersten, angeblich. Die Mutter war aber auch eine Göttin, nämlich Metis; und Metis war, das ist wenig bekannt, aber gut zu wissen, die Göttin des Scharfsinns, des klugen Rates und des besseren Wissens, eine Tochter des Meeresgottes Okeanos und wandelbar wie das unendliche Meer. Als Zeus, der Unermüdliche, sie also geschwängert hatte, mit Zwillingen gleich, prophezeite ihm das Orakel, der noch zu gebärende Sohn würde ihn stürzen, die Tochter jedoch sei ihm gleichrangig. Worauf Zeus zu einem etwas drastischen Mittel der Geburtshilfe griff: Er ließ sich von seinem Götterkollegen Hephaistos seinen dicken Donnererschädel mit einem Hammer aufschlagen, und flugs entsprang daraus Minerva: in voller Rüstung, heißt es in den alten Geschichten, und nicht etwa vom Geburtsschleim bedeckt, sondern mit einem spitzen Speer in der Hand und vom ersten Moment an: ihm, dem Herrscher der Götter, gleichrangig (der Sohn hingegen erblickte niemals das Licht der Welt, es interessierte auch keinen so recht, was mit ihm geschah oder nicht geschah, er ist so eine Art Josef, der immer in der Geschichte untergeht).
Die besondere Weisheit dieses griechischen Mythos hat mir im Unterschied zur religiösen Jungfrauengeburt sofort eingeleuchtet. Ist es nicht tatsächlich so, dass das wahre Wissen – zwar im Körper ausgebrütet wird, in langen, zweifelhaften, noch längst nicht verstandenen Prozessen, dann aber, von einem Moment zum anderen, flugs dem Kopf entspringt und sich in der Welt behauptet, mit Schild und Speer, wenn es sein muss? Ist es nicht ein erhellender Gedanke, dass das Wissen, genauer: das weibliche Wissen, so in die Welt kommt? Erspart uns die dunkle Kindheit, die Schrecken des Nichtverstehens, die Mühen der Befreiung von den ererbten und allesamt falschen oder für uns unpassenden Weisheiten unserer Väter! Gebt uns die Rüstung, das Schwert und lasst uns losziehen gegen all die Dummheit in der Welt! Es gibt Gemälde, da steht Minerva da, eine imponierende Frau, kein Weibchen, hochaufgestreckt, eine Kämpferin; und unter ihrem Fuß windet sich eine Figur mit einem dämlichen Gesicht (ja, meist ist es männlich, ist das meine Schuld?). Wenn ich jemals eine Gewaltphantasie hatte, dann war es diese. Aber es ist ja nur ein Bild, und das Besondere an dem Bild ist, dass es einen frontal anspringt, ohne Entschuldigung und Getue, eben genau – wie Minerva dem Haupt ihres Vaters entsprang; und anschließend schloss sich der Götterschädel wieder und Hephaistos ging nach Hause, um seine Ehegattin Venus mal wieder bei einem Liebhaber zu erwischen. Minerva aber ging schnurstracks los, um die Künste und die Wissenschaften zu beschützen, immer an vorderster Front kämpfend (das besagt einer ihrer Beinamen, Promachos, die Vorauskämptende); sie schaute mit ihren großen und hellen Augen in die Welt (das besagt ein anderer ihrer Beinamen, Glaukopis, die Helläugige), die nicht getrübt waren von geschlechtlichen Rücksichten oder allzumenschlichen Anfechtungen. Minvera war unermüdlich und unüberwindlich und ihr Leben lang (also für immer) blieb sie Jungfrau (Parthenos); wie hätte sie, die aus dem Kopf Geborene, Ebenbürtige, denn Kinder gebären sollen? Weisheit, das war ihr Beruf, der Kampf, die Klugheit, aber auch: der Schutz der Arbeitenden, der Handwerker und Handarbeiterinnen. Und ihr Wahrzeichen war die Eule: ein großäugiges Tier, das den Kopf nach allen Seiten wenden kann und unerschrocken alles mit ihrem starren Blick fixiert; kein Ziervögelein, ein Jäger und Flieger, der die Nacht durchstreift.
Dieses Detail nun hätte mir Minerva fast vermiesen können. „Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Dämmerung“, so unkte Hegel sehr viel später; und ich war nicht einverstanden: ein Nachttier? Eine Weisheit, die sich im Schutz der Dunkelheit verbreitet? Und die Geschichte mit Medusa natürlich. Denn Athene (wir nennen sie jetzt einmal Athene, so lange sie ein wenig in Ungnade gefallen ist bei mir) ist nicht lieb und nett und menschenfreundlich. Sie hat ihre Favoriten, und sie hat ihre Eigenheiten; und wehe, jemand kommt der Unermüdlichen, Unbesiegbaren, Ebenbürtigen zu nahe! So führt sie beispielsweise ihren Liebling Odysseus (immerhin, Odysseus, einen der wenigen homerischen Helden, den man beinahe mögen könnte, wenn auch nur beinahe) durch seine ein wenig hirnverbrannten Abenteuer und springt für ihn ein, wenn es einmal kritisch wird. Medusa hingegen – die Geschichte ist kompliziert: Medusa also wurde, so will es der Mythos, wegen ihrer gewaltigen Schönheit von Poseidon verführt, nein: vergewaltigt; was eigentlich nur das ist, was griechische Götter ständig machen; er hätte es aber nicht im Tempel der Athene, der großäugigen unüberwindlichen Jungfrau tun sollen. Athene, die Eigensinnige und Unberechenbare, nimmt ihm das übel und bestraft – nicht den Vergewaltiger, den Götterkollegen höchsten Ranges, sondern das Opfer: Medusa (ungestraft ist keine zu schön, scheint sie sagen zu wollen!). Und sie tötet sie nicht etwa, sondern sie macht sie, was viel klüger und bitterer ist, zu einem wahren Abgrund an Hässlichkeit und Scheußlichkeit: Schlangen winden sich statt lockiger Haare auf ihrem Kopf, und ihr Blick lässt jeden fortan zu Stein erstarren (war das die höhere Weisheit? die wahre Strafe an den Männern? Vielleicht, vielleicht). Dann jedoch, etwas später, überlegt sie es sich anders und gibt Perseus, einem weiteren ihrer Favoriten, einen Spiegelschild; so dass Perseus beim Kampf mit Medusa nur ihr Spiegelbild erblickt, nicht zu Stein erstarrt und der armen Medusa endgültig den Kopf mitsamt allen Schlangen abhacken kann (ist das das Ende aller Leidenschaft? kosten sie den Kopf? vielleicht, vielleicht). Medusa ist damit endgültig dahin, ihrem Leib aber entspringt, als Nachgeburt, der mit dem Vergewaltiger Poseidon gezeugte Sohn: Pegasos, mit Pferdeleib. Damit, und das ist wenigstens eine gelungene ironische Wendung, ist die Dichtung in der Welt (ein Vergewaltigungsopfer; ist es das, was die Dichtung mit der Wirklichkeit tut? vielleicht, vielleicht). Allerdings, und das mag Athene nicht bedacht haben, kann seitdem die Leidenschaft niemals mehr besiegt werden: Man kann ihr die Haare abschneiden, den Kopf abhacken und den Leib zerstören, sie bleibt unverwundbar und ewig im Lied. Das Gorgonenhaupt hingegen schmückt von nun Minervas Schild – damit ein jeder versteinern möge, der wenigstens dieser Jungfrau zu nahe kommt und ihr nicht ins Gesicht, sondern auf den Schild schaut!
Vielleicht ist das der Preis der weiblichen Weisheit, genau wie die Nächtlichkeit? Meine Eule fliegt aber trotzdem am Tag. Sie steht sehr früh auf am Morgen, und dann macht sie einen kleinen Erkundungsflug vor dem Frühstück, und dann beginnt sie ihr Tagwerk. Ihre großen Augen sind schon ein wenig trüb geworden vom Lesen der vielen Bücher, aber sie kann sie auch fest verschließen; und wenn sie die Augen schließt, ist es, als hörte die Welt für einen Moment auf zu sein. Sie ist ein würdiger Vogel, wenn sie fliegt, erhebt sie sich schwer mit ihren weiten Schwingen – aber welch ein Anblick, wenn sie dann beinahe schwerelos und geräuschlos durch den Himmel gleitet, den ihre großen Augen spiegeln! Nicht immer kommt sie von ihren weiten Flügen rechtzeitig zurück, es mag gelegentlich schon die Dämmerung eingesetzt haben, die ersten Sterne sind am dunkelblauen Himmel zu sehen, und da, da kommt meine Eule zurück, und jetzt spiegeln sich die Sterne in ihren Augen. Ich muss nicht immer wissen, wo sie gewesen ist und was sie alles gesehen hat; sie wird es mir erzählen, wenn es an der Zeit ist, oder sie wird es mir verschweigen. Denn meine Eule ist so weise, dass sie sogar weiß, dass es gelegentlich besser ist, Dinge zu nicht wissen (Dinge, die man wissen könnte; nicht Dinge, die man sowieso nie wissen kann und über die deshalb alle Welt plappert). Dann versteckt sie sich hinter meinem Schild und hält ein kleines Zwiegespräch mit Medusa, die natürlich nur von vorn gesehen eine Furie und schrecklich ist; von hinten gesehen ist sie sanftmütig, versteckt sich aber trotzdem sicherheitshalber vor Männern, was man ihr nicht verdenken kann. Minerva aber schläft nie, weil ihr Kampf niemals aufhört – auch wenn sie manchmal lieber zurück in den Kopf ihres Vaters springen würde, so als sei niemals etwas gewesen.
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