Niemand weiß, wie sie ausgesehen hat. Doch wenn man sucht, findet man viele Bilder von ihr. In ihren eigenen Büchern hat sie sich verewigt, nicht nur im Wort, sondern auch im Bild, und man erkennt sie sofort: Immer trägt sie ein schlichtes, aber leuchtend blaues langes Kleid und eine strahlend weiße Witwenhaube auf dem Kopf. Ihr Gesicht sieht man kaum, aber ihre Hände fallen auf: Sie halten eine Feder oder ein Buch; oder sie zeigen den Menschen, die sie umgeben, etwas, mit erhobenen Fingern, aber nur sanft hinweisend, nicht streng belehrend. Zu ihren Füßen sitzt, man merkt es kaum, ein Hündchen, es schaut zu ihr hinauf. Ihr Ehemann hat sie verlassen, lange schon, die Kinder sind erwachsen, aber ein treues Hündchen ist geblieben, es wacht über die Frau und über ihre Bücher und ihre Schriften im Gehäus. Denn immer sitzt Christine im Gehäus: in einem engen Gemach mit gotischen Bögen, die Witwenhaube stößt mit den Spitzen fast an die Decke. Es hat zwar Fenster, aber man sieht nichts von einer Landschaft oder einem Himmel; nein, es ist eine Schreib- und Lesestube, oder es ist das intime Gemach einer fürstlichen Gönnerin, einer hohen Frau, der man das neueste Buch gewidmet hat und es nun überreicht. Wir befinden uns nämlich zu Beginn des 15. Jahrhunderts; im Gehäus ist Christine de Pisan, die erste bedeutende Autorin des Mittelalters, und das Gehäus ist geistiger Freiraum und Gefängnis zugleich. Sie wird es erweitern im Laufe ihres Lebens, sie wird immer neue Gemächer anbauen, so viele, dass es schließlich eine ganze Stadt der Frauen geworden ist – ein Frauenhaus, das erste der Geschichte, und die Männer müssen draußen bleiben, aber vielleicht darf ein Hund mit hinein.
Christine de Pisan wurde in Venedig geboren, einer reichen, hoch kultivierten Stadt; ihr Vater war ein berühmter Wissenschaftler, bald würde er an den Hof nach Paris berufen werden, als Leibastronom und Mediziner des Königs Karl V. Von ihrer Mutter weiß man – eigentlich nichts, und Christine hat ihr kein Denkmal gesetzt. Denn sie war, so viel kann man aus ihrer autobiographischen „Vision“ schließen, zweifellos auf den Vater fixiert: auf den Gelehrten mit all seinen Büchern, seinem Wissen von den Sternen und vom menschlichen Körper – ach, wenn man nur kein Mädchen gewesen wäre! Aber Christine ist klug, lebensklug, sie lebt von den Brosamen des Tisches der Weisheit, sie sammelt und stiehlt ihr Wissen zusammen, wo sie es findet; und man möchte gern denken, dass vielleicht, irgendwann, ihr kluger Vater gemerkt hat, dass er eine kluge Tochter hatte und was das für ein Geschenk war. Wahrscheinlicher ist aber, dass es immer nur das Hauptziel gewesen ist, Christine gut zu verheiraten – das einzige Lebensziel der Frau (nicht nur im dunklen Mittelalter, auch in der von der Vergangenheit gelegentlich allzu hell verklärten Antike war das so), ihr Sinn und Zweck, und nicht zuletzt: ihre Versorgung. Christine wird mit 15 Jahren verheiratet, das war üblich so; sie hat sich nicht gewehrt, sie hat drei Kinder geboren, und sie wird später nur Gutes über ihre Ehe sagen. Aber sie war kurz, und vielleicht (das klingt jetzt nicht schön) war es ein Segen für sie, als der königliche Sekretär, dem man sie angetraut hatte, an der Pest stirbt. Ihr Vater war bereits zuvor gestorben, und nun ist Christine eine kaum 25jährige Witwe, allein mit ihren Kindern, in einer ungeklärten Rechtslage im Blick auf ihre Erbschaft, sofort verwoben in juristische Streitereien, verfolgt von Männern, die ihre Notsituation auszunutzen wollten; nicht vorbereitet, nicht bevollmächtigt, überfordert. Aber Christine krempelt die Arme des schlichten blauen Kleides auf, reißt sich zusammen und regelt nicht nur all ihre finanziellen und juristischen Angelegenheiten, sondern beschließt, aus ihrem Wissensdurst und ihrer verstreuten Lektüre ihren Lebensunterhalt zu machen. Natürlich braucht man dafür Mäzene, das ist klar; es gibt keinen Literaturmarkt, es gibt keine öffentliche Förderung, und die Buchproduktion ist teuer: Die Manuskripte müssen abgeschrieben werden, jedes einzelne, oft arbeiten Frauen daran mit, und Christine selbst soll gelegentlich Hand angelegt haben. Sie müssen, wenn sie schön und respektabel für den Mäzen sein sollen, mit wertvollen Illustrationen verschlungenen Initialen verziert werden; und dabei entwickelt Christine, von Anfang an, ihr eigenes Autorinnenbild, ihr Markenzeichen sozusagen: Es trägt ein blaues einfaches Gewand und die weiße Witwenhaube, und es sitzt im Gehäus und schreibt.
Christine aber wagt sich, Schritt für Schritt, immer weiter aus dem Gehäus heraus. Sie beginnt mit Balladen, eine leichte Gattung der mittelalterlichen Unterhaltungsliteratur; sie verarbeitet dabei auch ihren eigenen Liebesschmerz, ihre kurze Liebeserfahrung, und sie hat damit Erfolg. Und dann wagt sie sich noch ein Stück weiter hinaus, und nun passiert schon das, was ihr einen Platz in der ewigen Literaturgeschichte aller Zeiten sichern wird: Christine ärgert sich nämlich. Sie selbst hat die Szene beschrieben: Sie sitzt also mal wieder in ihrem Gehäus, bei der Arbeit, sie liest all ihre geliebten und verehrten Autoren von Aristoteles bis Augustinus, aber zwischendurch, zur Entspannung, auch einen zeitgenössischen Bestseller, den endlosen Rosenroman nämlich, einen der größten mittelalterlichen Bestseller (‚Bestseller‘ in einem sehr weiten Sinne genommen). Es ist die Geschichte eines Ritters, der seinen ideale Geliebte sucht, die unerreichbare Rose; und dabei erlebt er viele Abenteuer und lernt viele Frauen kennen und die Geschichte nimmt und nimmt kein Ende; denn nachdem der erste – natürlich männliche – Autor die Feder niedergelegt hat, ergreift sie der nächste und strickt neue Geschichten hinzu. Dieser aber, der Nachfolger, ist ein Misogyn, wie er im Buche aller Zeiten steht: von Grund auf und aus Prinzip frauenfeindlich, und die Frauen, die er schildert, werden immer schlimmer, charakterloser, verworfener. Und Christine liest und ärgert sich immer mehr: Es kann doch nicht sein, dass die Frauen wirklich so sind, wie sie hier geschildert werden? Sie kennt doch die Frauen, sie kennt jedenfalls genug Frauen, die nicht so sind. Warum aber schildert der Autor, der ja wohl ein gebildeter und gelehrter Mann sein muss, schließlich ist er ein Autor und hat ein berühmtes Buch geschrieben – warum also schildert dieser Mann die Frauen auf diese herablassende, boshafte, hämische Art und Weise? Und warum, so steigert sich Christine weiter in ihren Ärger hinein, hat sie diese Geschichte, mit nur etwas anderen Worten, schon so oft gelesen? Es kann doch nicht sein, dass Gott – und Christine ist von der Existenz und Güte des höchsten Wesens so durchdrungen wie man nur sein kann –, dass dieser allmächtige und allgütige Gott die Frauen böse und falsch erschaffen hat? Nein, das kann nicht sein. Und gerade, als Christine bereits an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln beginnt – denn woran soll sie sonst zweifeln? an den verehrten Autoren? an Gott etwa? – hat sie eine Erscheinung: In strahlendem Lichterglanz erscheinen drei edle Frauen. Sie sprechen zu Christine mit all der Autorität strahlender Erscheinungen aus dem Nichts und sagen, wie noch jeder kluge Engel vor ihnen, wenn er sich einer Frau genähert hat, als erstes: ‚Fürchte dich nicht!‘ Aber danach beginnt ein sehr rationaler Dialog. Du hast begonnen zu zweifeln, sagt die eine von ihnen (und wir übertragen ins Moderne, was jedoch nicht besonders schwerfällt), das ist keine schlimme Sache an sich – aber du darfst nicht an dir zweifeln, an deinem eigenen Verstand! Du bist doch sonst eine kluge Frau, sagt die hohe Erscheinung, also glaub gefälligst nicht blind, was irgendwelche Männer gesagt haben, es waren halt Männer! Denk nach, und zwar selbst! (sapere aude!, würde Kant knappe vierhundert Jahren später sagen, und das ist in die Geschichte eingegangen; aber die meisten lebensklugen Dinge haben Frauen schon vorher gesagt)
Und Christine beginnt mit dem Denken, zögernd anfangs, unsicher; immer wieder fragt sie nach, bittet die erleuchteten Damen um weitere Erläuterungen, lässt nicht locker. Die Damen lassen sich nicht lange bitten: Die erste, sie wird Vernunft genannt, fordert Christine auf, mit dem Bau einer Stadt zu beginnen – einer Stadt allein für die Frauen, einen eigenen Raum, in den sie sich zurückziehen können (a room of one’s own, würde Viriginia Woolf knapp fünfhundert Jahre später sagen, braucht die Frau; aber es hätte sie sicherlich nicht erstaunt, dass das schon eine Frau vor ihr gesagt hat). Die zweite, Rechtschaffenheit genannt, stattet mit Christine zusammen die Stadt aus; und die Dritte, die Gerechtigkeit, verleiht ihr ihren metaphysischen Rahmen: Die Mutter Gottes nämlich, Maria selbst, zieht an der Spitze aller Heiligen und Märtyrerinnen ein, und es wird ein Leben sein wie im Himmel fortan – aber ohne Männer. Aber nicht nur die Heiligen werden dort leben, sondern viele, viele Frauen aus der Geschichte, vergessen beinahe, aber doch nicht ganz: Denn Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit erzählen Christine die Geschichten all dieser mutigen, entschlossenen, selbstbewussten Frauen vor ihr. Zu ihnen gehört Minerva (denn Minerva war auch nicht mehr als eine besonders kluge und tatkräftige und wissbegierige Frau in Athen, leider Heidin) ebenso wie die legendäre Dichterin Sappho. Zu ihnen gehören die legendären Amazonen, die sich eine Brust abhackten, um besser kämpfen zu können, und was haben sie gekämpft und wie waren sie gefürchtet! Zu ihr gehören, schließlich, Fürstinnen und Herrscherinnen von der Königin von Saba an bis hin zu den edlen Frauen der eigenen Zeit. In diesen Geschichten purzeln Mythologie, Religion und Geschichte munter durcheinander, aber darauf kommt es gar nicht an, und ob man Dichtung und Wahrheit im Einzelnen so genau auseinanderhalten kann, wie es eine männliche Logik fordert, ist sowieso umstritten. Worauf es ankommt ist, dass Frauen eine Geschichte haben – und wenn sie nur in Fetzen überliefert ist, muss man halt hier und dort anflicken. Aber am Ende wird man nicht mehr herkunftslos, allein, verunsichert sein, sondern ein Glied in einer langen Kette, zusammengehalten und gefestigt im Vertrauen auf sich selbst von der klugen und tatkräftigen Weiblichkeit aller Zeiten.
Das Buch von der Stadt der Frauen ist Christines berühmtestes Werk; mit ihm hat sie das enge gotische Gehäus zu einer von hohen Mauern umgebenen Stadt mit in den Himmel wachsenden Türmen erweitert, einem Inbegriff von Frieden, Geborgenheit, Ruhe. Und dann, versichert durch diese Stadt im Rücken, schreibt sie weiter, Schritt für Schritt: schreibt politische Texte und fordert endlich Frieden, schreibt eine Herrscherbiographie (eine Frau! ein Skandal!), schreibt weiter über die Liebe und das lange Lernen und wie beides zusammenhängt. Aber sie wird schon undeutlicher; irgendwann, keiner weiß mehr genau, wann und wie, geht sie ins Kloster (und was sind Klöster anders als Städte der Frauen, unter der Herrschaft der Himmelskönigin, und die Klosterzellen ein Gehäus, und das schlichte blaue Kleid mit der weißen Haube könnte genauso gut ein Nonnenhabit sein). Am Ende noch ein Lichtblick: Sie erlebt Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, die neue Amazone Frankreichs, und sie schreibt ein Lobgedicht auf sie, bevor sie schließlich ein letztes Mal den Wohnsitz wechselt und eingeht in die ewige Stadt der Frauen, ihre eigene Schöpfung und ihr Vermächtnis.
Leseprobe:
Das Buch von der Stadt der Frauen (1405)
HIER BEGINNT DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN, DESSEN ERSTES KAPITEL ERZÄHLT, WESHALB UND AUS WELCHEM ANTRIEB DIESES BUCH VERFASST WURDE.
Als ich eines Tages meiner Gewohnheit gemäß, umgeben von zahlreichen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten in meiner Klause saß und mich dem Studium der Schriften widmete, war mein Verstand es zu jener Stunde einigermaßen leid, die bedeutenden Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandersetzte, zu durchdenken. Ich blickte also von meinem Buch auf und beschloss, mich stattdessen bei der Lektüre heiterer Dichtung zu zerstreuen. Auf der Suche nach irgendeinem Bändchen fiel mir ganz unerwartet ein merkwürdiges Buch in die Hand. Ich öffnete es, entnahm dem Titelblatt, dass es sich Matheolus nannte und lächelte, denn bislang hatte ich es zwar noch nie einsehen können, aber schon oft gehört, es verbreite, im Gegensatz zu anderen Büchern, Gutes über die Frauen.
Ich fing also an, darin zu lesen und kam auch ein Stück voran. Da mir aber sein Inhalt für all jene, die an Verleumdung wenig Gefallen finden, nicht sonderlich erheiternd schien und es außerdem anstößige Ausdrücke und Themen enthielt, blätterte ich nur ein wenig darin herum und legte es, nach einem Blick auf den Schluss, beiseite, um mich anspruchsvolleren und nützlicheren Studien zuzuwenden. Aber so unbedeutend dieses Buch im Grunde auch war, es lenkte meine Gedanken doch in eine neue Richtung: In meinem Inneren war ich verstört und fragte mich, welches der Grund, die Ursache dafür sein könnte, dass so viele und so verschiedene Männer, ganz gleich welchen Bildungsgrades, dazu neigten und immer noch neigen, in ihren Reden, Traktaten und Schriften derartig viele teuflische Scheußlichkeiten über Frauen und deren Lebensumstände zu verbreiten. Und zwar nicht nur jener Matheolus, der in literarischer Hinsicht völlig unbedeutend ist und Lügengewäsch verbreitet, nein: allerorts, in allen möglichen Abhandlungen scheinen Philosophen, Dichter, alle Redner (ihre Auflistung würde zu viel Raum beanspruchen) wie aus einem einzigen Munde zu sprechen und alle zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, dass nämlich Frauen in ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise zu allen möglichen Formen des Lasters neigen.
Aber obwohl ich äußerst gründlich beobachtete und prüfte, fand ich keinerlei Anhaltspunkte für solche abschätzigen Urteile über meine Geschlechtsgenossinnen und die weiblichen Stände. Dennoch bezog ich Position gegen die Frauen und meinte, es sei völlig unvorstellbar, dass so bedeutende Männer – berühmte Gelehrte von beträchtlichem intellektuellen Format, scharfsinnig in jeder Hinsicht, wie jene es zu sein schienen – dass diese Männer Lügen über die Frauen verbreitet hätten; und dies an so vielen Stellen, dass ich kaum einmal einen Band moralischen Schrifttums fand (ganz gleich, aus welcher Feder), ohne bereits nach kürzester Zeit auf frauenfeindliche Kapitel oder Aussprüche zu stoßen! Schon daraus schloss ich, dies müsse stimmen – auch wenn ich selbst in meiner Einfalt und Unwissenheit unfähig war, meine eigenen schlimmen Schwächen und die der anderen Frauen zu erkennen. Und so verließ ich mich mehr auf fremde Urteile als auf mein eigenes Gefühl und Wissen. In diesen Gedanken steigerte ich mich dermaßen hinein, dass ich in einem Zustand der Lethargie verharrte.
Literatur:
Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. Übersetzt von Margarete Zimmermann. dtv Verlag, 1999.
Régibe Pernoud: Christine de Pizan: Das Leben einer außergewöhnlichen Frau und Schriftstellerin im Mittelalter. dtv Verlag 1997.
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