Nach dem Gedicht-Appetizer von neulich nun ein vollwertiges Lektüremenü (es wird mehrteilig werden) und die versprochene Antwort auf die Fragen: Wer war Sylvia Townsend Warner, und warum sollte sie endlich mehr gelesen werden?
I. Weder eine Taube noch eine Seemöwe: Sylvia Townsend Warners Leben
(mit Virginia Woolf im Hintergrund)
Die biographischen Fakten sind schnell erzählt. Es war ein Leben, das sicherlich von den Zeitabständen gebeutelt war, aber auch seine beschaulich-ländlichen Phasen hatte, die beinahe einer Idylle nahekamen. Es spielte eine Zeitlang im London von Virginia Woolf, aber über weitere Strecken auf dem Lande von Jane Austen, und es hatte eine Menge Ambition und eine gleichgroße Menge – Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfolg (warum das nicht befremdlich, sondern wichtig ist: kommt später!). Geboren wurde Sylvia Townsend Warner knapp zehn Jahre später als Virginia Woolf, deren Ruhm sie nie ganz erreicht hat. Auch Warner war stark beeinflusst von ihrem Vater, einem Rektor auf dem Lande, gebildet und geschichtsbegeistert; die Mutter hatte ihre Kindheit im kolonialen Indien verbracht, was eine gewisse multikulturelle Färbung in die kleine Familie brachte. Sylvia war ein Einzelkind, sehr im Gegensatz zu Woolf, die lebenslang enge und/oder problematische Beziehungen zu ihren Geschwistern hatte; sie wurde teilweise zu Hause erzogen. Wenig ist überliefert über Jugend und Schulzeit, und wir begegnen der erwachsen werdenden Sylvia erst wieder, als sie den durchaus ambitionierten Vorsatz fasst, in Wien bei Arnold Schönberg Musik zu studieren. Offensichtlich musikalisch begabt und sehr gut ausgebildet, hat sie später bei musikhistorischen Projekten mitgearbeitet und dazu auch einiges Wissenschafliche veröffentlicht; und Leserinnen mit feineren, musikhistorisch geschulten Ohren mögen das in ihrer Sprache spüren. Was aber dazwischen kam, war der erste Weltkrieg, und Sylvia „did her bit“ (das war die offizielle englische Formulierung für „einen patriotischen Beitrag zum Kriegsgeschehen leisten, egal wie und wo“) in einer Munitionsfabrik und bei der Flüchtlingsarbeit.
Nach Kriegsende trat sie für eine kurze Zeit in Kontakt mit dem Bloomsbury Circle. Ich würde mir gern vorstellen, dass sie auch Virginia Woolf dort traf, aber es wäre möglich, dass sie sich nichts zu sagen gehabt hätten zu dieser Zeit. Mit verwegener Phantasie könnte man sich sogar eine Liebesbeziehung ausmalen; denn beide liebten Frauen, und Warner trifft in dieser Zeit Valentine Ackland, mit der sie eine lebenslange Beziehung eingehen wird, die man wohl, obwohl sie von gelegentlichen Krisen und Eifersuchtsphasen erschüttert war, als gelungen bezeichnen kann. Auch Ackland war Autorin, und gemeinsam veröffentlichten sie beide einen Gedichtband mit dem wunderbar gleichgültigen Titel Whether a Dove or a Seagull. Es spricht ganze Bände über die schlechte Gleichgültigkeit der Literaturwelt, dass das Buch nur noch antiquarisch zu erhalten ist und der Text des Titelgedichts im großen und weiten Internet nicht zu finden – was immerhin Raum zum Phantasieren lässt, zumal es einen großen Unterschied macht, ob man eine Taube ist oder eine Seemöwe, vor allem für die Taube und die Seemöwe, die das Meer von oben sehen kann und schrille Schreie ausstößt und immer schaut, als ob sie Emma hieße (und damit vorerst genug dieser flüchtigen Digression; wir kommen später auf die Vögel und die Gedichte zurück). Es kam aber keine Friedenstaube, es kam der zweite Weltkrieg, es kam das politische Engagement des Paares, wir streifen das nur im Durchflug; es kamen Alter und Krankheit, ließen sich wie Staub nieder, Valentine starb 1969 an Brustkrebs, und Sylvia schrieb noch weiter, bis zu ihrem Tod im Jahr 1978. Sie schrieb insgesamt sieben Romane, und jeder ist sehr anders als der vorige, und auf Mr. Fortune’s Maggot folgte The True Heart, und auf After the Death of Don Juan der Mittelalterroman, der mich als nächstes gefangennahm, trug und aufrichtete: The Corner that held them. Dazu kamen Gedichte, Erzählungen, Essays, eine Biographie. Die Zusammensetzung des Oeuvres gleicht wiederum der von Virginia Woolf bis in Details, bis auf das letzte bit, nämlich einer Fantasy-Phase am Schluss (aber das wäre eine neue Digression, deshalb: später!)
Aber wissen wir jetzt wirklich mehr über Sylvia Townsend Warner, die Person hinter und in den Texten? Und leider hat sie keine Autobiographie hinterlassen (wie Virginia Woolf, im Übrigen). Warner hat jedoch eine Reihe von autobiographischen Essays verfasst, die kleine funkelnde Nuggets sind, jeder für sich; sie erschienen zu ihren Lebzeiten im New Yorker und nach ihrem Tod unter dem nicht unpassenden Titel Scenes of Childhood. Man kann wohl davon ausgehen, dass sie, wie alle vernünftigen autobiographischen Texte, eine wohlabgewogene Mischung von Dichtung und Wahrheit sind, und um ehrlich zu sein, will man auch meistens nur etwas über die Kindheit wissen; als Kinder sind wir bekanntlich alle originell, erst später werden wir Abziehbilder – unserer Verpflichtungen, unserer Rollen, unserer Selbstbilder, take your pick! Und es war, es ist ein Genuss, diese Kindheitsskizzen zu lesen. Sie sind geschrieben von einer reifen Autorin und ihrem großen, erwachsenen Autoren-Können, aber sie haben das Kind in sich offensichtlich nicht vergessen, es schaut immer noch mit den gleichen sachlich-altklugen Augen in die Welt und sieht kleine Dinge und große Dinge, nebeneinander und gleich-berechtigt, wie das Alte Testament und Großtante Salome. Was Sie dort alles verrät – berichten wir nächste Woche, gleicher Ort, gleiche Zeit!
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