Bekanntlich beginnt jeder ordentliche Bildungsroman mit den Eltern. Über die Eltern von Sylvia Townsend Warner findet sich in einer ihrer nach ihrem Tod veröffentlichten Kindheitsgeschichten ein Satz, der ein ganzes umständliches Persönlichkeitsprofil ersetzt, er heißt:
„My mother was infallible. My father made no such claim, but he had a fine assortment of irrefutable doubts” (Meine Mutter war unfehlbar. Mein Vater erhob keine solche Ansprüche; aber er hatte eine exquisite Zusammenstellung von unwiderlegbaren Zweifeln).
Wie kann ein einziger Satz so gekonnt, so auf einen ironischen Kern eingekocht, das zweifelhafte Verhältnis von Wissen und Zweifeln ausdrücken? Man muss es einmal nachbuchstabieren, das zerstört zwar bekanntlich das Schillern des Mehrdeutigen, aber es gibt schließlich unterschiedliche Arten von Lesegenüssen. Die Mutter war unfehlbar – das kann man nur statuieren, Mütter sind auf die gleiche Art unfehlbar wie der Papst, nämlich: im Modus des alternativlos anerkannten Dogmas. Der Vater hingegen – ist ein wenig ein komplexerer Charakter, deshalb bekommt er zwei syntaktisch und semantisch luxuriöser ausgestattete Sätze. Zum ersten erhebt er keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit – womit gleichzeitig, im kurzen Rückblick, geklärt ist, dass Unfehlbarkeit immer ein Anspruch ist, den man erhebt – und als solcher zweifelhaft in Bezug auf seinen Wahrheitsstatus, oder auch nur: seine Richtigkeit. Dafür hat ihr Vater etwas vorzuweisen, was vor dem inneren Leserinnen-Auge in Form einer wohlsortierten Schachtel englischer Toffees (Fudges?) sich entfaltet: Ausgesuchte Zweifel, von der feinsten Sorte, und deshalb: unwiderlegbar. Man verschluckt sich kurz an der ausgesuchten Praline und hustet etwas verwirrt hervor: Können Zweifel denn – unwiderlegbar sein? Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst? Alle Kreter lügen, sagt die Kreterin. Alle Zweifel sind zweifellos unwiderlegbar, sagt der Zweifler. Daran hat man zu kauen, jaja, es bleibt auch immer etwas zwischen den Zähnen kleben.
Deshalb zwischendurch, zur Lese-Entspannung, zu einem kleinen Seitenblick in die Kindheit unserer Heldin und der schon angekündigten Frühstücksei-Anekdote. Die englische Kernfamilie – also: unfehlbare Mutter, zweifelnder Vater, bissiger Pudel, vorwitzige Tochter und dazu ein generischer ehemaliger Schüler des Vaters, no love story involved, obwohl beide wohl ungefähr in der Pubertät – macht sich auf in den typisch englischen Kurzurlaub an der seaside (die Geschichte heißt übrigens ‚Fried Eggs are Mediterranean‘, was offensichtlich eine der unfehlbaren Wahrheiten der Mutter ist und so bizarr jeder Erfahrung widersprechend, dass es einfach urkomisch ist). Die englische Kernfamilie ist von bescheidenem Wohlstand, immerhin ist der Vater Schulleiter einer Landschule, und hat deshalb auch bescheidene Mengen von Personal; das bleibt aber zuhause, weil die Mutter in diesem Jahr beschlossen hat, dass Kochen „the most succulent of human pleasures“ sei (das saftigste? fleischigste? nahrhafteste? ausgereifteste? – egal, man sehe eine von Wasser vollgesogene Sukkulente vor dem inneren Lese-Auge – aller menschlichen Vergnügungen). Weshalb sie es für diese Ferien – erstmals, wird insinuiert – selbst tun wird. Kaum in der Küche angekommen, fällt ihr Blick auf eine Sanduhr, die, aus welchen Gründen auch immer, die Versuchung des Selber-Kochens noch potenziert und geradezu nach dem perfekten Frühstücksei schreit, als erster Stufe selbsterzeugter fleischlich-nicht-fleischlicher Genüsse! Vorhang auf für den ersten Morgen, die Mutter gibt die Eier ins Wasser, lässt die Sanduhr nicht eine Sekunde aus den Augen, und präsentiert der erwartungsfrohen Familie – viel zu weich gekochte Eier (viel zu weiche gekochte Eier sind vielleicht eher mediterran, auf jeden Fall: nicht englisch). Nächster Morgen, zweiter Versuch, doppelte Sanduhr: Die Eier sind in ihrer Konsistenz „like hot marble“ (wie heißer Marmor). Starker Vertrauensverlust, man könnte geradezu sagen: unwiderlegbare Zweifel an der Sanduhr-Methode sind die Folge, dafür fällt der Mutter ein, sie habe irgendwo gelesen, dass die Leute früher – also: vor der allgemeinen Verfügbarkeit von Uhren oder auch nur Sanduhren auf dem Lande – die optimale Kochzeit der Eier anhand der Lesung eines Psalms bestimmt hätten. Es sei, genau gesagt, der 51. Psalm gewesen (kurze Einblendung des Bildungs-Frühstücks-Fernsehens: „Ein Psalm, David vorzusingen“, 21 Verse in der Länge, und im Wesentlichen ein großes Sünden-Lamento des Propheten Nathan, nachdem David Bath-Seba im Bade gesehen und nach ihr gelüstet und allerlei unzüchtige Gedanken gedacht hatte, mit aparten Details wie Reinwaschen mit Ysop, Errettung vor Blutschuld, dem Anpreisen eines geängsteten Geistes und eines zerschlagenen Herzens als Symbole der ultimativen Reue und einem geopferten Farren auf dem Altar am Ende; nein, niemand hat gesagt, dass das Alte Testament einfach zu verstehen oder familienfreundlich ist, auch nicht Großtante Salome, die sich auskannte damit). Das Experiment am nächsten Morgen wird durch einen klingelnden Postboten unterbrochen, der Pudel greift an, und die Kinder fallen geistesgegenwärtig auf die Knie, um das Ganze als Gott wohlgefällige Morgenlesung und nicht als frivoles Experiment mit Frühstückseiern darzustellen. Die Eier sind – nun, schon deutlich besser, aber genügen immer noch nicht den Perfektionsansprüchen der Mutter. Aber nun bewährt es sich, in einem bildungsnahen Haushalt zu sein, denn die Frage kommt auf, in welcher Sprache man denn wohl die Lesung vorzunehmen habe? Denn lange Zeit lang, also: in der Zeit, wo die Leute noch keine Uhren hatten, war die Bibel ja nicht etwa in der Volkssprache verbreitet, sondern vielmehr als Vulgata – so der korrekt verwendete Begriff, der lustigerweise völlig in die Irre führt: also in lateinischer Standardübersetzung. Und siehe da, der in sicherlich perfekt intoniertem Latein vorgetragene Psalm 51 der Vulgata – erzeugt das perfekte Frühstücksei! Und die Geschichte endet mit einer letzten Wendung der erzählerischen Sanduhr, die die Dinge gern vom Kopf auf die Füße stellt:
„Timed by the Vulgate, the eggs came out just as they should, and we went on boiling them in Latin until my mother found that she knew by nature when they were ready.” (Mittels der Vulgata bemessen, waren die Eier genauso, wie sie sein sollten, und wir kochten sie solange in Latein, bis meine Mutter herausfand, dass sie von Natur aus wusste, wann sie fertig waren).
Sie hatte es einfach im Gefühl, mit mit dem unsterblichen Loriot zu sprechen. Wollte man mit dieser Familie Urlaub machen, sogar mit bissigem Pudel und den Kapriolen des Wetters an der englischen Kanalküste? Ich hätte es gewollt, ganz sicher; auch wenn ich wahrscheinlich nicht geistesgegenwärtig genug wesen wäre, beim Anblick des Postboten spontan auf die Knie zu fallen. Es wäre ein geradezu sukkulentes Vergnügen gewesen, und wir hätten auch noch die Luther-Übersetzung testen können!
Nächste Woche geht es dann weiter mit einer philosophischen Kindheitserinnerung!
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