Ein Anhang zu Flauberts ‚Wörterbuch der Gemeinplätze‘
Heute mal kein Frauenthema, sondern Bildungsfernsehen, philosophisch! Wenn die Verfasserin jedoch wagen würde, eine Vermutung auszusprechen, die mal wieder männerfeindlich klingt, aber eigentlich nur analytisch-empirisch ist: Die größten Bullshitter sind Männer. Und die meisten. Das mag mit den Sphären zu tun zu haben, wo der bullshit besonders blüht (business, Marketing, Verkaufsgespräche aller Art, und natürlich: Politik; und die Metapher ist mit Absicht schief). Oder mit einer genetischen Veranlagung zum Prahlen, die einfach zum Paarungsspiel gehört, wie jede weiß, die sich mal in der Natur umgeschaut hat. Oder mit der schönen Neigung zum mansplaining (grandioses Wort, kommt nächstes Mal im Bildungsfernsehen). Whatever! Hier geht es im Folgenden einfach nur darum, was bullshit eigentlich ist, woher er kommt, und wie frau/man ihn erkennt (die Bekämpfung ist leider ziemlich schwierig). Also:
Warum man „bullshit“ nicht übersetzen kann
Bullshit könnte frau ins Deutsche übersetzen als: „Geschwätz, Gerede, Geschwafel, Gefasel, Geschwurbel“ – die deutsche Sprache ist zwar reich an Präfixen und anderen schönen Wortbildungstricks, aber manchmal fehlt ihr einfach die Kürze, die Handgreiflichkeit (na gut, vielleicht nicht die schönste Metapher im Zusammenhang mit bullshit…), die Angriffslust. Dafür sind wir groß im Definieren! Deshalb im Folgenden eine kleine gründlich-deutsche Lektion in Geistes- und Sprachgeschichte des bullshit (seit der Antike, wie es sich gehört), samt Stammbaum in seinen feineren Verzweigungen. Was also ist bullshit jenseits der ursprünglichen wörtlichen Bedeutung (wer einmal reingetreten ist, vergisst das nie), und warum war er nie so nervig wie heute?
Definition in Anlehnung an Flaubert
Bullshit ist: prätentiöses, inhaltsleeres Gerede, das nicht auf Wahrheits- oder Informationsvermittlung abzielt, sondern dazu dient, die eigentliche Hohlheit des Sprechers und sein mangelndes Wissen sowie sein minderes Reflexionsniveau zu verbergen. Das Wort ist eine Zusammensetzung von Englisch bull für Bulle, Stier und shit, Scheiße (im Deutschen zu übersetzen als ‚Bockmist‘, wenn man es deftig mag); sein Erfinder, der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt, bezog sich auch auf eine veraltetete englische Wortbedeutung von to bull im Sinne von ‚täuschen‘ oder ‚Unsinn reden‘. Der bullshit hat einen durchaus ehrenhaften Vorgänger und eine ganze Schar weniger gut beleumdeter Verwandter. Ersterer ist der ‚Gemeinplatz‘ (von lat. locus communis), zu letzterer gehören die ‚Binsenweisheit‘, die ‚Floskel‘, die ‚Phrase‘ oder die ‚Plattitüde‘. Ein frühes Standardwerk der bullshit-Literatur ist das Wörterbuch der Gemeinplätze (frz. Dictionnaire des idées reeues, wörtlich zu übersetzen ungefähr als ‚Wörterbuch der überlieferten Ideen‘.) von Gustave Flaubert. Er verfolgte das Projekt lebenslang sah es und als einen substantiellen Beitrag zu einer Universalgeschichte der Dummheit; einem Freund gegenüber erläutert er: „Es wäre die historische Glorifizierung all dessen, was allgemein als richtig gilt. Ich würde demonstrieren, dass die Mehrheiten immer recht und die Minderheiten immer unrecht haben“ (Triggerwarnung: Das ist ein Gedanke, dem man länger nachsinnen kann, und wenn man fertig ist, ist man zwar klüger, aber nicht glücklicher!). Das Dictionnaire versammelt in alphabetischer Ordnung Stichwörter aller Art, versehen mit konventionalisierten Phrasen oder Bildungsfetzen, die in jede Konversation gehören und denjenigen, der sie fallen lässt, als klug und originell erscheinen lassen (z.B.: „Deutschland. Immer ‚blond‘, ‚verträumt‘; aber was für eine militärische Organisation!“)
Was jedoch macht bullshit zu bullshit? Wie konnte die ehrenhafte, philosophisch wie pädagogisch wie juristisch wertvolle Tradition des locus communis zum social-media-Dorfplatz absteigen? Was vereint Binsenweisheiten, Floskeln, Phrasen und Platitüden außer ihrer wesensmäßigen Leerheit? Dazu ein kleines, stark selektives Wörterbuch der Arten und Formen des dummen Geschwätzes samt Anwendungsbeispielen à la Flaubert!
‚Gemeinplatz‘: Immer abgegriffen. Locus communis sagen und dabei humanistisch schauen! Ein Gemeinplatz war ursprünglich ein Satz, der zu Recht für allgemeingültig gehalten wurde und deshalb von Rhetorik-Schülern (also: angehenden Juristen, Philosophen und Politikern) auswendig zu lernen war. Er war ein Bestandteil, der Topik, die schon Aristoteles eingeführt hatte. Die Lehre von den argumentativen und rhetorischen topoi, den Räumen des Denkens sozusagen, geht davon aus, dass es zu jedem einzelnen Sachverhalt nur eine begrenzte Anzahl von allgemeinen Gesichtspunkten gibt, unter die er zu subsumieren ist. Das Universum mag unbegrenzt sein, das menschliche Denken und die menschliche Sprache sind es nicht: Irgendwie sagt man meist mehr oder weniger das gleiche, manchmal sogar mit den gleichen Worten. In diesem Fall ist es ein echter locus communis geworden: eine vorgestanzte Allzweckwahrheit, mit der sich gern der ‚gesunde Menschenverstand‘ oder die ‚öffentliche Meinung‘ brüsten. Der Gemeinplatz hat immer Recht, schon weil die Mehrheit ihn bevölkert. Das ist sein Problem. Er kann in einer bestimmten sprachlichen Formulierung auch zur Floskel werden (‚Floskel‘: immer leer oder unverbindlich sagen. War mal eine Blume der Rede (flora), wurde aber überdüngt und produziert nur noch Scheinblüten).
‚Binsenweisheit‘: Immer abgedroschen. Leute strotzen gern vor ihnen. Auch die Binsenweisheit stammt bereits aus der griechischen Antike. Ovid überliefert in seinen Metamorphosen die Geschichte vom phrygischen König Midas, der in einem Künstlerwettstreit zwischen Pan und Apoll den Preis nicht dem schönen Gott der Künste zuerkannte, sondern dem hässlichen Pan mit seiner Hirtenflöte. Für diese exemplarische Dummheit strafte ihn der Gott mit einem Paar Eselsohren, die Midas fortan unter einer Mütze verbarg. Der König macht jedoch den dummen Fehler, sein Herz ausgerechnet seinem Barbier auszuschütten; der wiederum erzählte die Geschichte, da er auf absolute Verschwiegenheit verpflichtet worden war, einem Erdloch. Und die umstehenden Binsen hörten die Geschichte und nahmen sie in ihr Rauschen auf, und da es überall Binsen gibt (anspruchslose Gräser, sie halten sich gern in sumpfigen Gegenden auf und rauschen vage vor sich hin), wusste bald alle Welt die Binsenweisheit, dass König Midas – ein Dummkopf sei. Verwandt ist die Binsenweisheit oder auch -wahrheit mit der Worthülse (Worthülse: immer leer sagen).
‚Weaselword‘: Wiesel sind immer flink. Nicht zu verwechseln mit Mardern, die sind diebisch und sitzen unter Autos! Das weaselword ist eigentlich nur ein entfernter Verwandter in der großen Bullshit-Familie, aber zu schön und noch zu wenig bekannt, um es zu übergehen. Es wurde 1816 von dem amerikanischen Präsidenten Theodore (immer Teddy sagen!) Roosevelt erfunden, natürlich zur Diffamierung eines politischen Gegners. Am besten erläutert hat es Friedrich von Hayek: „So wie das kleine Raubtier, das auch wir Wiesel nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind die Wiesel-Wörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort ‚sozial‘. Was es eigentlich heißt, weiß niemand“. Friedrich von Hayek wird in Wikipedia als „Sozialphilosoph österreichischer Herkunft“ vorgestellt. Es hätte ihm nicht gefallen. Das Besondere des Wieselwortes ist, dass es eine Art Wort-Virus ist: Es infiziert ganz ordentliche Substantive mit seiner eigenen Inhaltsleere (wie der folgende bullshit pflegt es außerdem eine enge Beziehung zur Political Correctness).
‚Bullshit‘: Steht für sich allein und stinkt. Führt zur mentalen Klimakatastrophe. In einem Interview hat der Worterfinder Frankfurt (immer mit Würstchen verbinden. Main-Metropole!), ein an Wittgenstein geschulter analytischer Philosoph im Übrigen (kein Sozialphilosoph), bündig die nicht geringen Gefahren des bullshitting und seiner ebenfalls epidemischen Verbreitung (besonders in Marketing-nahen Habitaten wie Werbung, Coaching oder Politik) erläutert: „Respekt vor der Wahrheit und ein Interesse an der Wahrheit gehören zu den Fundamenten der Zivilisation. Schon lange Zeit hat mich der Mangel an Respekt für die Wahrheit, den ich beobachtet habe, verstört. Bullshit ist eine Entstellung dieser Werte“. Es ist nicht nur für die Philosophie oder die Kommunikationshygiene gefährlich, wenn die Wahrheit unter die Hufe von Massenmeinungen gerät; es ist für die menschliche Zivilisation ein Problem! Eine der wesentlichen Ursachen dieser Fehlentwicklung sieht Frankfurt im Übrigen in der urdemokratischen, wenn auch ein wenig naiven Überzeugung, dass jeder und jede zu jedem Thema, es sei wissenschaftlich, komplex oder auch nur kompliziert, eine Meinung zu haben habe und auch ermutigt werde, diese zu äußern: Letztlich macht uns das alle zu potentiellen Bullshittern. Besonders schlimm wird es jedoch, wenn der Bullshitter dazu neigt, aus der mangelnden Faktenlage und einem eher respektfreien Verhältnis zu Wahrheitsansprüchen auch noch eine moralische Bewertung des Sachverhaltes abzuleiten, was zu einer weiteren Verflüssigung von Sinngehalten und Wahrheitsansprüchen (vornehm gesprochen) führt. Wobei Frankfurt als analytischem Philosophen durchaus klar ist, dass die Sache mit der Wahrheit und der Objektivität nicht gar so einfach ist. Aber anstelle die Welt mit bullshit zu verpesten, könnte auch jeder beschließen – einfach mal den Mund zu halten, oder gelegentlich sogar auf ein besseres Urteil von informierteren Personen zu vertrauen? Denn bullshit ist nicht identisch mit fake news, bewussten Täuschungsversuchen oder gar Lügen (Lügen erfordern eine gewisse Konsistenz); er ist einfach Respektlosigkeit vor soliden Urteilen zugunsten eines kurzfristigen persönlichen Prestigegewinns und mit der Garantie allgemeinen Schulterklopfens.
Was unterscheidet schließlich den bullshit vom immerhin halb seriösen Gemeinplatz? Bullshit ist immer dumm (das ist nicht ironisch gemeint!): einfach, weil ihn die Wahrheit nicht interessiert. Es geht nicht um die Sache, es geht um den Bullshitter! Bullshitting ist Wellness-Denken in Reinform: unendlich vereinfacht, wohlig glatt; ein schöner runder bullshit (immer dazu sagen: relevant!) geht runter wie Öl. Hingegen kann ein Gemeinplatz, so abgedroschen er sein mag, noch ein winziges Körnchen Wahrheit enthalten; er kann aber durch veränderte Umstände jederzeit in die bullshit-Liga abstiegen. Gediegene (philosophische?) Weisheit hingegen kommt im Aphorismus (immer geschliffen oder funkelnd sagen): auf den Punkt, aber mit Haken und Widerständen.
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