Ihren Namen kennt keine Philosophiegeschichte. Und doch war sie die erste Frau, die es wagte, ein eigenes Werk mit dem Titel zu verstehen: Philosophie eines Weibes (‚Weib‘ war zu dieser Zeit keine Beleidigung, sondern einfach der Gattungsname des weiblichen Geschlechts). Sie hatte weder Philosophie studiert noch Latein oder Griechisch gelernt; eine Universität hat sie niemals von innen gesehen. Wie kam sie zu dieser Kühnheit?
Marianne Ehrmann wurde 1755 in Rapperswil am Zürichsee geboren. Ihr Vater war ein Kaufmann, der jedoch schon zu seinen Lebzeiten sein Vermögen verlor; beide Eltern starben, da war Marianne erst 16 Jahre alt. Sie wuchs auf bei Verwandten, machte sich als Haushälterin nützlich; für eine systematische Erziehung, noch nicht einmal für eine Mädchenerziehung, wird weder Zeit noch Geld da gewesen sein. 1777 heiratet sie, 22jährig, einen Offizier, um endlich den beengten Verhältnissen und der Abhängigkeit von der Verwandtschaft zu entkommen. Der Ehemann ist, so stellte sich bald heraus, nicht nur spielsüchtig, sondern auch gewalttätig, wenn er wieder einmal am Spieltisch verloren hatte. Eine Schwangerschaft endet mit einer Totgeburt, Marianne wird danach nie wieder Kinder bekommen können. Sie erstreitet sich erfolgreich eine Ehescheidung, eine damals höchst verwickelte und fragwürdige Angelegenheit; doch sie bezahlt mit einem völligen Nervenzusammenbruch. Immerhin ermöglicht ihr ein Onkel zur Genesung eine Bildungsreise durch Deutschland und Italien; danach ist sie jedoch wieder auf sich selbst gestellt. Sie versucht sich als Gouvernante, eine der wenigen Berufe, die Frauen offenstehen, doch auch dieser Versuch scheitert; offensichtlich ist sie zu temperamentvoll und eigensinnig, um in dieser sozial schwierigen Situation, in der völlige Unterordnung erwartet wird, zu bestehen. Und so schließt sie sich, der gute Ruf ist sowieso schon zum Teufel, einer Gesellschaft wandernder Schauspieler an. Als Bühnenname wählt sie jedoch ausgerechnet, man höre und staune: Madame von Sternheim – also den Namen der Protagonistin aus einem der ersten deutschen Erfolgsromane, einer Frau, Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim!
In dieser Zeit beginnt Marianne Ehrmann auch, sich als Autorin zu versuchen: Philosophie eines Weibs: Von einer Beobachterin ist ihre Erstlingsschrift, veröffentlicht 1784 – und das ist schon einigermaßen verwegen: ‚Frauenzimmerphilosophie‘ hatte im 18. Jahrhundert nicht direkt einen guten Ruf. Immerhin bringt ihr das öffentliche Aufmerksamkeit und zugleich einen neuen Ehemann: Der sieben Jahre jüngere Jurist Theophil Ehrmann, der in Straßburg als Rezensent für politische und literarische Zeitschriften arbeitet, verliebt sich in Marianne. Seine Eltern sind jedoch, wenig überraschend, gegen die Beziehung zu einer älteren, mittellosen, geschiedenen ehemaligen Schauspielerin (mehr soziales Stigma geht kaum noch); eine Hochzeit muss deshalb zunächst verschoben werden. Kinder bleiben auch später aus, das Paar adoptiert 1792 einen unehelichen Säugling.
Man lässt sich in dieser Zeit in Stuttgart nieder, wo das Paar gemeinsam versucht, sich einen Lebensunterhalt mit literarischer und journalistischer Tätigkeit zu verdienen (wobei Marianne deutlich erfolgreicher ist als ihr eher glückloser Ehemann; das soll der Ehe nicht zuträglich gewesen sein). Zunächst veröffentlicht Marianne einen autobiographisch gefärbten Roman über ihr eigenes wechselhaftes Schicksal, der ein Erfolg wird: Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. 1790 beginnt sie eine Frauenzeitschrift herauszugeben: Amaliens Erholungsstunden, bei der sie selbst gleichzeitig als Herausgeberin, Verlegerin, Autorin und Buchhalterin fungierte, bevor der Stuttgarter Verlag Cotta die Herausgabe übernahm. Nur zwei Jahre später bietet ihr der Züricher Verlag Orell und Gessner die Herausgabe einer zweiten Zeitschrift an. Die Einsiedlerinn aus den Alpen wird ihr Titel sein (wir erinnern uns, Marianne ist gebürtige Schweizerin, und die Schweiz ist für die Zeitgenossen vor allem ein Begriff für naturnahes, unentfremdetes Leben und politische Freiheit à la Wilhelm Tell); im Untertitel heißt die Zeitschrift: Teutschlands Töchtern geweiht von Marianne Ehrmann (und schon dass der Name in den Titel aufgenommen wird, spricht dafür, dass er bekannt genug ist um Leserinnen anzuziehen). Ihr Oeuvre wird schließlich abgerundet durch ein neues Genre, das Schauspiel nämlich, zu dem sie als ehemalige Wanderschauspielerin natürlich eine besondere Beziehung hatte: Leicht und gutes Herz oder die Folgen der Erziehung zehrt ebenfalls von ihren eigenen Erfahrungen als „gefallenes Mädchen“. Doch gerade als die Autorschaft so richtig in Schwung gekommen ist, fordern all die Katastrophen in ihrem Leben schließlich doch ihren Preis: Nach langen Jahren gesundheitlicher Probleme stirbt Marianne Ehrmann nur 39jährig in Stuttgart an einer Lungenentzündung.
Im Unterschied zu Sophie von La Roche und vielleicht verständlich angesichts ihrer problematischen Lebenserfahrungen tritt Marianne Ehrmann schon in ihren ersten Veröffentlichungen durchaus kämpferisch auf. In einer „Eintrittsrede“ zu ihrer Zeitschrift Amalie entwirft sie wohl eine Art Selbstbild. Sie schreibt dort, nichts sollte ein
„starkes, denkendes hellköpfiges Mädchen, in dem eine grosse männliche Seele wohnt (!), abhalten können, durch ihre Aufklärung, frei von feiger Furcht, zum allgemeinen Besten zu wirken. … Sie muß sich nicht durch weibliche Feigheit, und eisgraue Vorurtheile, nicht durch schwachköpfige Einwendungen superkluger Matronen, nicht durch drohende Dummheit, nicht durch zähnefletschende Verläumdung hintern lassen, ihre Bahn unerschütterlich zu wandeln“.
Nein, „gelehrten Pedantinnen“ will Ehrmann mit ihrer Zeitschrift nicht erzeugen; Denkerinnen sollen es vielmehr werden, die „über ihre Bestimmung nachzudenken“ wissen; und denjenigen Männern, die immer noch glaubten, solche Frauen als „gelehrte Weiber“ zu verleugnen, hält sie entgegen:
„Du lieber Gott, was haben denn diese Menschen für absurde unentwickelte Begrife von einem Frauenzimmer, die denkt und denken muß, wenn sie nicht Maschine seyn will“ (Maschine im Sinne von: einem unbelebten, des Denkens nicht mächtigen und der Vernunft nicht zugänglichen, sondern unreflektiert seiner Bestimmung, seinem Programm folgenden Wesen).
Als leibhaftige und lebendige Denkerin, so sieht sich Marianne Ehrmann selbst, und so präsentiert sie sich auch in ihrer Philosophie eines Weibs. Das ist keine systematische, gelehrte, spekulative Grundlagenschrift, sondern eine ziemlich bunte Mischung von Reflexionen über das Leben, die Liebe vor allem, aber auch: die Ehe, das Geschlechterverhältnisses und die Erziehung. Es sind nicht nur Beobachtungen, sondern Erkenntnisse einer wahrhaft scharfsichtigen und unkonventionellen Beobachterin, die sich wie Perlen auf einer Schnur aneinander reihen, und man möchte eine nach der anderen zitieren. So findet sich etwa eine originelle Bestimmung des Geschlechterverhältnisses nach dem Muster der Arbeitsteilung:
„Nach der Anordnung des Schöpfers der Natur müssen zwar beyde Geschlechter übereinstimmend, aber nicht gleich arbeiten; der Zweck der Arbeit ist gemeinschaftlich, die Arbeit selbst aber ist verschieden“.
Oder eine Verbildlichung einer Ehe nach dem Muster des menschlichen Organismus:
„Aus der ehelichen Verbindung entsteht eine moralische Person, wovon das Weib das Aug, der Mann der Arm ist“.
Oder ein sehr realistischer Blick auf das Verhältnis von Ehe und Liebe:
„Es ist unmöglich, den Gatten und Liebhaber so zu vereinigen, wie es viele von uns sich vielleicht vorstellen. Wir vermissen in der Ehe eine Menge Tändeleyen, Schmeicheleyen, und andere verliebte Kleinigkeiten, worinnen nur die befriedigte Eitelkeit Liebe zu finden glaubt, und diesen Mangel fortdauernder Zärtlichkeit in der Ehe … schreiben wir der Abneigung oder der kaltsinnigen Gleichgültigkeit des Mannes zu; da doch diese Veränderung in der That nichts anderes ist, als eine natürliche Folge von dem Besitz des Herzens, dessen Erlangung man mit Eifer gewunschen hatte“.
Das ist die Philosophie eines Weibes, das genau beobachtet hat, ihre Erfahrungen anschließend überdacht und nun zum allgemeinen Nutzen der – vor allem weiblichen – Leserinnen zusammengestellt hat; wobei es kein Argument gegen den philosophischen Gehalt ist, dass sich, wie Ehrmann in ihrer Vorrede zugibt,
„vielleicht hie und da eine launigte Stelle, die das Gepräge der Heiterkeit ihrer Schöpferin an der Stirne trugt, unvorsätzlich unter meiner Feder ins ernsthaftere sich umwandelte. Dazu ist schon unsere Natur gestimmt, und selbst im Gemälde der Welt ist der männliche Ernst Schatten gegen den weiblichen Witz, der so oft Licht verbreitet“.
Literaturhinweise:
- Philosophie eines Weibes: Von einer Beobachterin im Jahre 1784.
- Müssige Stunden eines Frauenzimmers. 1784.
- Leichtsinn und gutes Herz oder die Folgen der Erziehung. Ein Original-Schauspiel in fünf Aufzügen. 1786.
- Graf Bilding. Eine Geschichte aus dem mittleren Zeitalter. 1788.
- Die unglückliche Hanne. 1790.
- Erzählungen. 1795.
- Amaliens Feierstunden. 1796. Auswahl aus dem Nachlaß.
- Antonie von Wanstein. Eine Geschichte aus unserem Zeitalter. 1798
Neudrucke:
- Marianne Ehrmann: Ein Weib ein Wort. Kleine Fragmente für Denkerinnen. Hrsg. v. Maya Widmer u. Doris Stump. Kore, Freiburg (i. Brsg.) 1994.
- Marianne Ehrmann: Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. 1787. Hrsg. v. Maya Widmer u. Doris Stump (Schweizer Texte, Bd. 6). Chronos Verlag, Zürich 1995.
- Marianne Ehrmann: Die Einsiedlerinn aus den Alpen. Hrsg. v. Annette Zunzer (Schweizer Texte, Bd. 15). Chronos Verlag, Zürich 2001, .
- Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten. Zenodot, 2007,
Online-Texte:
- Philosophie eines Weibs. 1784 sophie.byu.edu E-Text
- Graf Bilding. Eine Geschichte aus dem mittleren Zeitalter. Typographische Gesellschaft, Isny 1788 MDZ München = Google
- Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen. 1788, 1-2. Band N.western = Google
- Amaliens Erholungsstunden, 1790–1792
- Die Einsiedlerin aus den Alpen. Orell, Geßner, Füßli und Comp., Zürich ab 1793
Comments: no replies