Ihre Sprache fasziniert. Ihre Gedanken bewegen. Ihre Geschichte berührt. Sie ist meine persönliche Neuentdeckung und eine literarische Wiederentdeckung zugleich: Irène Némirovsky (1903-1942).
Die einst in Paris lebende ukrainisch-jüdische Schriftstellerin Irène Némirovsky ist bereits vor über 70 Jahren gestorben. Und zwar auf tragische Weise: Obwohl sie noch zum Christentum konvertierte und ihre Romane in den 1930er Jahren in Frankreich gefeiert wurden, verwehrten ihr die Franzosen die französische Staatsbürgerschaft. Nach Einmarsch der Deutschen in Frankreich deportierten die Nationalsozialisten sie 1942 nach Ausschwitz, wo man sie ermordete. Wenige Monate später auch ihren Mann Michel Epstein. Zuvor hatten sie ihre Kinder in die Obhut einer Pflegemutter gebracht, die sie im Kloster und in Höhlen versteckte.
Die beiden Töchter überlebten den Zweiten Weltkrieg. Mit ihnen überlebte auch das letzte unvollendete Werk ihrer Mutter, die einst an der Sorbonne in Paris Literaturwissenschaft studiert hatte: Suite Francaise. Es ist ein psychologischer Roman über den Einmarsch der Deutschen in Paris und wird heute mit Leo Tolstois Krieg und Frieden verglichen. Das Manuskript von Suite Francaise hatte die Tochter Denise Epstein bei sich gehabt und veröffentlichte es rund sechs Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Mutter. Wer möchte, kann sich auch die Literaturverfilmung dazu anschauen:
Letzter vollendeter Roman
Leidenschaft hingegen ist der letzte vollendete Roman von Irène Némirovsky. Erst 2007 wurde er in der Erstausgabe in Frankreich publiziert. Der Roman erschien in Deutschland 2009 im Knaus Verlag. Die Übersetzerin Eva Moldenhauer übertrug die Geschichte über die l’art de vivre der französischen Provinz ins Deutsche. Irène Némirovsky gibt hierin einen Einblick in die verborgenen Wünsche und Sehnsüchte der Figuren auf dem Land, die mit ihren dunklen Geheimnissen, Verrat und schlechtem Gewissen zu kämpfen haben. Sie sind dabei sehr darauf bedacht, die Fassade des Ideals nach außen aufrecht zu erhalten. In ihrem leidenschaftlichen Verlangen und stillen innerlichen Kämpfen unterscheiden sie sich jedoch wenig von Menschen anderer Orte in Frankreich und der Welt. Diese Deutung legt die erzählende Figur Sylvio nahe, der selbst an dem Ort der Geschichte geboren wurde, als junger Mann von dort aufbrach, durch die Welt reiste und als alter, verarmter Mann wieder in seine Heimat zurückkehrte. Aus seiner Sicht erfahren wir mehr über seinen Heimatort, das „Land, im Herzen Frankreichs“ das „wild ist und reich zugleich“. Er entlarvt Schritt für Schritt die nur vordergründige Moral und die unter der Oberfläche aufkeimende Begierden der Dorfeinwohner, die weniger einfältig sind, als sie auf den ersten Blick scheinen.
Für die junge Colette, die Tochter seiner einstigen Geliebten Hélène, interessiert er sich besonders. Um sie und deren Familie kreist die gesamte Geschichte. Schön ist Colette in Sylvios Augen nicht, trage aber ein „Feuer“ in sich, das zu gefallen weiß. Colette steht gerade vor ihrer Hochzeit mit Jean und einem Leben als Ehefrau und Mutter, dem sie naiv mit großer Freude entgegensieht. Sie heiratet ihren Jean schließlich und bekommt etwa ein Jahr später ein Kind. Einen Jungen. Alles verläuft nach Plan. Doch Colette liebt ihren Mann nicht. Das „Feuer“ für ihn ist nach der Eheschließung rasch erloschen und sie verzehrt sich nach einem anderen. Irène Némirovsky beschreibt in einer poetischen Sprache realistisch die Beziehungsgeflechte der Dorfbewohner. Sie verknüpft erzählerisch das Konzept der großen Liebe als Ehe-Ideal mit den dieser romantischen Idee zuwiderlaufenden leidenschaftlichen außerehelichen Affären. Der Erzähler Sylvio nimmt dabei mit seiner Lebensweisheit eine Kommentarfunktion ein und postuliert beispielsweise: „Seltsame Torheit! Im Alter von zwanzig ähnelt die Liebe einem Fieberausbruch, einem Anfall von Wahnsinn. Wenn er vorüber ist, hat man Mühe, sich an andere zu erinnern… heißes Blut, rasch abgekühlt. Angesichts dieser auflodernden Träume und Begierden fühle ich mich so alt, so kalt und so weise.“ Ton und Inhalt des Textes changieren ohne zuviel Gefühlsduselei zwischen Liebe, Hoffnung, Glück, Betrug, Schmerz, Leid und Tod.
Leseprobe
Es ist früh im Herbst geworden. Ich bin vor Tagesanbruch aufgestanden und schlendere durch die Felder, die seit Generationen meiner Familie gehört haben und die jetzt andere besitzen und bestellen. Ich kann nicht sagen, dass ich darunter leide; manchmal ein kleines Kneifen in der Brust. Ich bereue nicht, dass ich so viel Zeit damit vergeudet habe, dem Glück nachzujagen, all die Zeit, in der ich in Kanada Pferde gekauft oder im Pazifik mit Kobra gehandelt habe. Dieses Bedürfnis nach Aufbruch, jene erstickende Langeweile, die mir meine Provinz einflößte, hatte mir im Alter von zwanzig so stark zugesetzt, dass ich bestimmt gestorben wäre, wenn ich hätte hierbleiben müssen. Ich hatte keinen Vater mehr und meine Mutter hat mich nicht zurückhalten können. „Es ist wie eine Krankheit“, sagte sie entsetzt, als ich sie anflehte, mir Geld zu geben und mich ziehen zu lassen, „warte noch ein bisschen, es geht vorüber“! […]
Wie nur entzündet sich dieses Feuer in uns? Es verzehrt alles innerhalb weniger Monate, innerhalb weniger Jahre, manchmal innerhalb weniger Stunden, und dann erlischt es. Danach kann man seine Verwüstungen aufzählen. Man sieht sich an eine Frau gefesselt, die man nicht mehr liebt, oder man ist ruiniert, so wie ich, oder man wollte, obwohl zum Krämer geboren, Maler in Paris werden und beendet seine Tage im Spital. Wessen Leben ist nicht von diesem Feuer auf sonderbare Weise entstellt und in eine Richtung gebogen worden, die seiner Natur zuwiderlief? So dass wir alle mehr oder weniger jenen Ästen gleichen, die in meinem Kamin brennen und die die Flammen krümmen, wie es ihnen beliebt? Wahrscheinlich verallgemeinere ich zu Unrecht; es gibt Leute, die schon mit zwanzig völlig weise sind, doch gebe ich meiner vergangenen Verrücktheit den Vorzug vor ihrer Weisheit.
Irène Némirovsky: Leidenschaft. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Knaus Verlag. 14,95 EUR
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