Michel Houellebecq zählt zu den großen zeitgenössischen Schriftstellern, er wird als einer der bedeutendsten Intellektuellen Frankreichs gehandelt. Zunehmende rechtspopulistische und frauenfeindliche Äußerungen in seinen Romanen und persönlichen, öffentlichen Auftritten deuten deutsche Leser und Kritiker weitestgehend als Provokation (mit Ausnahmen von ZEIT 04/2019, MDR Kultur 7.1.2019, Deutschlandfunk, 21.1.2019). Sogar von Linksliberalen wird er zwar nicht respektiert, wohl aber überwiegend akzeptiert. Das ist bedenklich, da es sich bei seiner Weltsicht nicht um Provokation, sondern um seine Haltung zu handeln scheint. Sein neuster Roman Serotonin (2019) schaffte es trotz frauenverachtender Äußerungen und Prostitutionsverherrlichung sofort auf Platz eins der deutschen Bestsellerliste.
Michel Houellebecq widmet sich in seinem neuen Roman den hässlichen Seiten des Lebens: Alleinsein, Treuelosigkeit, Haltlosigkeit, innerer Leere, Alkoholismus und Depression. Sex sorgt nur für eine kurzzeitige Entspannung und Zufriedenheit des Protagonisten Florent-Claude Labrouste. Houellebecqs Sprache ist vulgär, er schreibt kontinuierlich von ‚Muschis‘, ‚Ärschen‘ und ‚Schwänzen‘. Die Frauen sind austauschbar mit ihren drei Körperöffnungen, die Gesichter nicht wahrnehmbar, außer sie versüßen dem Protagonisten mit einem ‚Blowjob‘ das ansonsten erbärmliche Leben. Nur dann konzentriert er sich auf Einzelheiten, erkennt konkrete Gesichtszüge und Ausdruck, nimmt sein weibliches Gegenüber bzw. Unterüber wahr. Frauen begegnet er nicht auf Augenhöhe, sondern auf Hüfthöhe. Bei jeder Frau werden die Möglichkeiten zum sexuellen Austausch ausgelotet oder beschrieben, wenn es dazu kommt. Liebe ist nicht existent, ein geistiger Austausch mit Frauen ebenso wenig.
Für den Protagonisten Florent-Claude ist das besonders schwierig, denn gegen seine zunehmende Depression verabreicht ihm der Arzt Medikamente, welche wiederum seine Libido schmälern. Dennoch: Das sexuelle Verlangen steht im Vordergrund, auch in der Retrospektive. Seine Begegnungen mit Frauen waren und sind in erster Linie Trieb. Und diesen sexuellen Trieb stilisiert er zur ‚Allgemeinen Liebe‘, die in dieser Form angeblich jeder Mann schon so verspürt habe (es bleibt wohl eine vage Vermutung?!):
„(…) was ich brauchte, war Liebe – und eine ganz bestimmte Art von Liebe, ich brauchte im Allgemeinen Liebe, aber insbesondere brauchte ich eine Muschi, es gibt viele Muschis, Milliarden Muschis auf der Oberfläche eines Planeten von doch recht bescheidener Größe, wenn man mal darüber nachdenkt, ist es überwältigend, was es an Muschis gibt, es macht einen ganz schwindelig, ich glaube, jeder Mann hat diesen Schwindel schon einmal verspürt, andererseits brauchten die Muschis Schwänze, oder zumindest hatten sie sich das eingebildet (…).“
Man läuft Gefahr, als prüde zu gelten, wenn man sich von Houellebecqs Ausführungen distanziert, von der Geschichte, die er von seinem Protagonisten erzählt. Dabei geht es nicht darum, Sexuelles auch literarisch einmal vulgär beschreiben zu dürfen. Und selbstverständlich darf Literatur auch erotisch sein. Hier ist aber nichts erotisch, sondern alle Frauen werden zum Sexobjekt stilisiert, sind ‚Schlampen‘ oder unerreichbar, es menschelt nicht. Es beschleicht einen als Leserin das Gefühl, dass es an einem Gegengewicht zu dem rein körperlichen Akt fehlt. Das einzige intellektuelle Gespräch während des gesamten Romans, das von einer gewissen Reflexion und Emotionalität durchdrungen ist, findet zwischen Florent-Claude und seinem ehemals besten Freund statt.
Nun lernt man als Literaturwissenschaftlerin, dass die erste Leitdifferenz jene zwischen Protagonist und Autor sei. Zugegeben: Bei Michel Houellebecq fällt das schwer, da auch seine öffentlichen Auftritte ein bestimmtes Frauenbild evozieren. In seiner Dankesrede zum Frank-Schirrmacher-Preis (2016) behauptet er:
„Die Prostitution abschaffen heißt, eine der Säulen der sozialen Ordnung abzuschaffen. Das heißt, die Ehe unmöglich zu machen. Ohne die Prostitution, die der Ehe als Korrektiv dient, wird die Ehe untergehen und mit ihr die Familie und die gesamte Gesellschaft.“
Zuerst stellt sich die Frage, warum es nach Houellebecq für außerehelichen Sex überhaupt Prostitution geben muss. Houellebecq hätte auch in einer Affäre oder einem One-Night-Stand die Rettung der Institution Ehe sehen können, wenn er meint, dass die Monogamie für den Mann nicht geschaffen sei. Aber nein, er sieht sie in der Prostitution. Und ebendiese erklärte Frankreich 2016 für illegal. Damit folgte Frankreich der Empfehlung des EU-Parlaments, das Prostitution als Menschenrechtsverletzung und Gewalt gegen Frauen wertete. Weltweit gibt es verschiedene politische Ansätze, wie man mit Prostitution umgeht. Einig ist man sich darüber, dass man sie bekämpfen will, uneinig in der Frage „wie“. Gegen ein absolutes Verbot wie im Nordischen Modell (Frankreich, Schweden, Norwegen, Irland, Nordirland, Island) spricht, dass der Straßenstrich enorm zunehmen könnte, sobald Bordelle nicht mehr erlaubt sind. Die Frauen hätten weniger Schutz, die Gewalttaten nehmen unter Umständen sogar zu. Das Thema ist komplex. Bei Michel Houellebecq ist das Thema weniger komplex, seiner Ansicht nach scheint es ausschließlich Prostituierte zu geben, die Nymphomaninnen sind und gerne ihren Körper gegen Bezahlung verkaufen. Wie weit das an der Realität vorbeigeht, das belegen sowohl zahlreiche Studien als auch der normale Menschenverstand.
Doch ebendiese komplexitätsreduzierte Meinung durchdringt die Ansichten der Figuren von Houellebecqs Romans Serotonin. Der Arzt empfiehlt seinem Patienten Florent-Claude Sex mit Prostituierten, um seinen Hormonhaushalt wieder zu stabilisieren und bedauert, dass die Prostitution in Frankreich strafbar sei. Und auch der Protagonist Florent-Claude ist der Ansicht: „Eine Nutte sucht sich ihren Kunden nicht aus, das ist das Prinzip, das ist das Axiom, sie bereitet jedem Lust, ohne zu unterscheiden, und das verleiht ihr Größe“. Prostitution wird als Beruf mit besonderen Fertigkeiten gewertet. Auch bei seiner Lebensgefährtin Yuzu überlegt Florent-Claude, wie viel sie als Prostituierte verdienen würde. Seine Beschreibung ist ein nahezu komisch wirkendes medizinisches Gutachten zum Verkauf von sexuellen Leistungen. Ich zitiere nur einen kurzen Ausschnitt:
„…und vor allem war sie auf dem Gebiet des Analverkehrs außergewöhnlich begabt, ihr Arsch war aufnahmebereit und leicht zugänglich, sie bot in ganz und bereitwillig dar, und da auf Analverkehr im Escourt-Bereich immer ein tariflicher Zuschlag angewandt wird und sie für anal sogar deutlich mehr verlangen könnte, als irgendeine normale Nutte, siedelte ich ihren Tarif in der Größenordnung von siebenhundert Euro pro Stunde und fünftausend Euro pro Nacht an.“
Zugegebenermaßen urteilt der Protagonist erst so über seine Partnerin Yuzu, nachdem sie ihn gleich mit mehreren Männern auf einmal betrogen hat. Er fand Yuzus ‚Begabungen‘ in Sextapes auf ihrem Computer bestätigt. Vielleicht war er daraufhin einfach nur frustriert? Er ist jedenfalls so verärgert, dass er sie am liebsten aus dem Fenster schmeißen würde. Wäre er noch im 18. Jahrhundert, so der Protagonist, wäre das eine ernstzunehmende Möglichkeit. Das Eherecht bis 1810 habe dem Mann den Mord an der Ehegattin bei Ehebruch noch zugebilligt – ein Rollenverständnis, das Flaurent-Claude durchaus zuzusprechen scheint.
Schenkt man dem Klappentext Glauben, schreibt Houellebecq in diesem Roman ganz groß von der Liebe. Ja, tatsächlich: Eine Frau scheint er in seinem Leben geliebt zu haben. Es ist Camille. Ihre relativ kurze Beziehung liegt Jahrzehnte zurück. Und sie ging zugrunde, weil er sie (es ergibt sich eine innere Logik!) mit einer anderen Frau betrügen musste. Kritiker lesen in seinem Verlust der ersten Liebe, den Ursprung für seine darauffolgende Unfähigkeit, mit Frauen ein normales Verhältnis aufzubauen. Ist das eine nachvollziehbare Interpretation? Zwei Fotos hat Flaurent-Claude von Camille aufgehoben. Das eine ist ein schönes Portrait von ihr. Das andere lichtet sie während des sexuellen Akts ab. Auch hier scheint die Sexualität im Vordergrund zu stehen und in der bildhaften Erinnerung manifestiert zu werden – während eines ‚Blowjobs‘, den der Protagonist sakralisiert, indem er in Camilles Ausdruck die absolute ‚Reinheit‘ sehen will. Es ist für ihn der Blowjob ‚like a virgin‘.
Ich erinnere an die bereits erwähnte Leitdifferenz zwischen Autor und Protagonist. Ich weiß nicht, ob Houellebecq persönlich wie sein Protagonist denkt. Ich weiß auch, dass Literatur keine Moralische Anstalt ist. Ich finde es aber bedenklich, sich als Autor öffentlich für Prostitution einzusetzen und seine Figuren ebenfalls dafür plädieren und frauenverachtende Positionen einnehmen zu lassen. Da verschmelzen für mich Autor und Protagonist bar jedweder künstlerischer Strategie, die manche Kritiker darin sehen wollen. Ja, es ist ein Skandalbuch, das in allen Feuilletons besprochen wird. In Frankreich loben ihn vor allem die rechtsgesinnten Blätter. Deutsche Kritiker sehen auch in erster Linie Houellebecqs Erzählkunst, seine politische und wirtschaftliche Analyse der Gegenwart, seine Beschreibung menschlicher Existenz zwischen Freiheit und Determinismus. Doch was sagt das über eine Gesellschaft aus, die ein solches Buch als „Metaphysik der Muschis“ (Welt, 5.1.2019) feiert und Frauenverachtung und Prostitutionsverherrlichung ausblendet? Houellebecqs Frauenbild ist weder zeitgemäß, noch zukunftsweisend, noch spitzfindig. Eine Begegnung mit Frauen auf Augenhöhe wäre doch im 21. Jahrhundert wünschenswert.
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