(VII) Der Mensch ist ein Wesen, das Geschichten erzählt, oder: der Blog am Ende des Lektüre-Universums
Es ist also vor allem die Erzählliteratur, durch die der tiefe Graben zwischen E- und U verläuft und die zu sich stark voneinander abgrenzenden Stilhöhen neigt. Das hat die eben erwähnten strukturellen Gründe – Dramatik ist Handlung, Lyrik ist Sprachverdichtung -, aber auch ein paar ganz pragmatische: Mit Erzählliteratur wird Geld verdient auf dem Literaturmarkt. Die Konkurrenz wird größer, die Korruptionsgefahr auch. Romane sind ein Massenmarkt, an dem viele verdienen wollen; und sie sind, man kann es nicht anders sagen: mitten im Leben. Menschen sind Wesen, die sich selbst und anderen Geschichten erzählen; das scheint ein Naturgesetz zu sein, und wie dieses Gesetz heutzutage als ‚Narrativ‘ in der Politik instrumentalisiert wird, ist ein Lehrstück für die Manipulierbarkeit nicht nur der Massen, sondern jedes Einzelnen von uns. Wenn dem aber so ist, wenn wir uns selbst, unser eigenes Leben, nur als Geschichten erfahren können – dann sind wir alle Geschichtenexperten, so sehr sich auch die selbsternannten Experten dagegen wehren, die für uns gern andere Geschichten erfinden würden: weil man mit anderen Geschichten zum Beispiel mehr Geld verdienen kann. Das und nichts anderes tut die Werbung, der am stärksten kommerzialisierte Erzählzweig der Menschheitsgeschichte, und er erzählt uns immer die gleichen Geschichten, Urtypen von Geschichten sozusagen, Märchen des Erfolgs und des Beliebtseins, und wenn sie nicht gestorben sind, konsumieren sie noch heute täglich Coca-Cola.
Aber wir alle sind Geschichtenerzähler, in jedem Tagtraum und jedem Nachttraum, im Gespräch mit Freunden und im Gespräch mit Fremden und im Gespräch mit uns selbst. Deshalb lassen wir uns auch immer weniger vorschreiben, welche Geschichten wir gut finden sollen, wertvoll, anspruchsvoll, von hohem, von höchstem literarischen Rang. Internationale Bestseller können heute ebenso literarisch experimentell und komplex sein (sagen wir: die Werke des magischen Realismus, Gabriel Garcia Marquez ebenso wie Salman Rushdie), solideste Unterhaltungskunst (J.K. Rowling, sehr viele anspruchsvolle Krimi-Autoren, gut gemachte Fantasy) oder – na gut, trivial, ein wenig Schund, ein wenig Klischee, sehr viel Manipulation (der breite Rest, und kein Grund sich zu schämen). Heute sucht sich jedes Buch seine Leserin, und je vielfältiger die Leserinnen werden, desto vielfältiger werden die Bücher werden. Die Kritiker, die uralten Hausmeister des Literaturbetriebs, mögen derweil schelten, Lesehausordnungen erlassen und die Trivialliteratur des Hauses verweisen (wir müssen leider draußen bleiben!). Derweil herrscht im Internet das fröhlichste Leseleben, viele bunte Blogs blühen auf und vergehen wieder, und keiner weiß, ob der nächste Bestseller noch im Selbstverlag schlummert oder von einer You-Tuberin gehypt werden wird. So what? Jeder und jedem bleibt es unbenommen, weiterhin die Höhenkämme zu erklimmen, es ist ein mühsames Geschäft, angeblich lohnt der Ausblick, aber oft ist auch Nebel und man sieht: nur die eigenen Wanderstiefel. Man sollte aber nicht herabschauen auf jene, die fröhlich die blühenden Täler durchschlendern und sich am Ende auf ein schönes Gasthaus freuen.
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