Es gibt einige wenige Texte von schreibenden Frauen, die man als Urtexte weiblichen Schreibens lesen kann: Vielleicht sogar ohne dass ihre Autorin das beabsichtigt hatte, fassen sie die Probleme und Chancen, die Leistungen und Defizite weiblichen Schreibens auf eine derart intensive Art zusammen, dass man meint, jedes einzelne Wort, jeder Satz sei schwer von symbolischem Gewicht und versteckten, verdeckten, vielleicht auch nur: geahnten Bedeutungen. A room of one’s own von Virginia Woolf gehört zweifellos dazu, der Text ist auch von Anfang an so angelegt gewesen. The Yellow Wallpaper, eine Kurzgeschichte der amerikanischen Autorin Charlotte Perkins Gilman (1860-1935) aus dem Jahr 1892 wurde auch schon wiederholt von der literaturwissenschaftlichen Forschung als ein solcher feministischer Klassiker gelesen; aber manchmal überdeckt der feministische Furor dabei die tieferen, symbolischeren, eben: archetypischen Konstellationen eines solchen Textes eher, als dass er sie freilegt. Denn in The Yellow Wallpaper befreit sich nicht nur eine junge Ehefrau und Mutter von den medizinischen Diagnosen ihres Ehemannes und Arztes und damit der allgegenwärtigen patriarchalischen Unterdrückungsphalanx; das ist nur die Oberfläche des Textes, und sie ist beinahe überdeutlich, plakativ. Aber in einer tieferen Schicht zeigt die Erzählung, warum und wann eine Frau schreiben muss, um nicht wahnsinnig zu werden; sie zeigt, dass Schreiben nicht nur lebensrettende Therapie sein kann, sondern gleichzeitig lebensveränderndes Reflexions- und Befreiungsmedium.
Eine „rest cure“ für Charlotte
In The Yellow Wallpaper schreibt Charlotte Perkins Gilman, sie selbst hat das nie geleugnet, ihre eigene Geschichte nieder; wahrscheinlich ist es die Geschichte, die sie zur Autorin gemacht hat, es war jedenfalls ihre erste publizierte. 24jährig hatte sie geheiratet, einen Künstler, ihrem eigenen Gefühl zuwider; ein Jahr später kam, wie sich das gehörte, die erste Tochter auf die Welt. Danach litt Gilman offenbar, auch wenn man das Wort damals noch nicht hatte, an einer schweren postnatalen Depression; es ist nicht klar, ob sie vorher schon depressive Züge hatte, ihre Jugend war schwer genug, aber es macht in diesem Zusammenhang auch keinen Unterschied. Denn Charlotte litt schwer, aus welchen Ursachen und Gründen auch immer; und die Therapie, die ihr verschrieben wurde, verschlimmerte ihr Leiden noch anstelle es zu bessern. Eine sogenannte „rest cure“ empfahlen die Ärzte, wie sie speziell für „hysterische“ Frauen (der allgemeine Terminus für alle Arten nervöser Frauenleiden) verbreitet war: bloß keine Aufregung, vor allem keine intellektuelle (man war sowieso der Ansicht, zu viel intellektuelle Betätigung würde die Hysterie bei Frauen befördern!), schön zuhause bleiben, viel schlafen, gesunde, kräftigende Dinge essen, nicht nachdenken, weder über den bejammernswerten Zustand der Welt noch den noch viel bejammernswerteren seiner Selbst, und – nun ja, die Wände anstarren. Was sollte man schon tun, wenn man krank und eingesperrt war, und das noch nicht einmal in einen room of one’s own, oh, nein! Denn die Protagonistin der Erzählung, jung, frischverheiratet, Mutter eines Säuglings, ist verbannt in das ehemalige Kinderzimmer, die nursery, ganz oben im Haus, weitab von den täglichen Arbeiten in Bodennähe und aller Ablenkung; und alles ist ihr verboten, aber wirklich alles, außer – das Anstarren der gelben Tapete. Ist es ein Wunder, dass die Tapete irgendwann zurückstarrt? Nietzsche könnte einem in den Kopf kommen, wenn man denn denken dürfte – darf man aber nicht, macht Frauen nur hysterisch – und der Abgrund: „Und wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund in dich hinein“. Ein Satz, der verunsichert, auf viele verschiedenen Arten und Weisen: Wer ist hier das aktive, selbstbestimmte Subjekt und wo die angeblich leblose, willenlose Welt? Was ist hier Ursache, und was ist Wirkung?
Creepy, creepy
Denn die Tapete lebt. Je länger sich die Protagonistin (nennen wir sie ruhig Charlotte, sie könnte aber auch anders heißen) auf die Tapete konzentriert – denn worauf sollte sie sich sonst konzentrieren? den Mann, der in der Stadt seinen ärztlichen Tätigkeiten nachgeht, kompetent, männlich, selbstbewusst? seine Schwester, die derweil den Haushalt führt, ein Muster aller weiblichen haushalterischen Tugenden? das Kind, den Säugling, dem man ihr weggenommen hat, was aber auch besser ist, weil sonst müsste das Baby ja die Tapete anstarren, die unsägliche, unbegreifliche, monströse Tapete? – je länger sie also starrt und starrt zwischen ihren depressiven Schüben, desto mehr sieht sie. Erst versucht sie noch Sinn in das Muster zu bringen, es zu ordnen; sie hat ein paar ästhetische Begriffe, der Himmel weiß, wo sie sie aufgeschnappt haben mag, garantiert nicht in einer Ausbildung oder einem Studium; sie muten männlich an, ordentlich, systematisch: Ausstrahlung, Symmetrie, Wiederholung, Variation. Aber die Tapete verweigert sich; die Muster sind wirr, sie begehen jede vorstellbare ästhetische Sünde, so schreibt Charlotte, und manchmal neigen die unsicheren, lahmen Kurven des Musters sogar dazu – Selbstmord zu begehen, um ihren eigenen Widersprüchen zu entgehen! Zudem ist sie an den Ecken schon abgerissen, wahrscheinlich von den früheren Bewohnern der nursery, von Wesen, die ein wenig gespenstisch bleiben; geblieben sind nur noch Fetzen einer früheren Existenz, die sich irgendwie – gewehrt hat, gegen irgendetwas Bedrohliches, gegen eine Farbe, die nichts mit der Sonne zu tun hat, sondern nur mit schleichenden, verrottenden, fahlen Dingen. Creepy ist das Wort, das sich nun langsam einschleicht in den Text, es gibt keine gute deutsche Übersetzung dafür, die das Schleichende der Bewegung (to creep) und das Bedrückende des Adjektivs (creepy) enthält. Die schleichenden, verendenden, widersprüchlichen Muster, sie lassen Charlotte nicht los; irgendwie sind sie vegetativ, aber es ist nicht die gesunde, ein wenig altmodische Pracht des Gartens, sondern es sind Schlingpflanzen, nein, jetzt erst fällt es der nach Worten ringenden Charlotte ein: Ein Pilz ist es, er wuchert unterirdisch und regellos ins Unermessliche, und er riecht modrig, und man kann ihn nicht fassen, greifen, und vielleicht ist er – giftig, tödlich?
Aber alles ändert sich, als Charlotte endlich die Frauengestalt hinter der Tapete erkennt. Natürlich ist es eine Frau, sie ist eingesperrt hinter den teuflischen, pilzartigen Mustern, sie erwacht in der Nacht zum Leben und versucht auszubrechen! Und nun ist sie auch schon ausgebrochen, überall kann Charlotte sie jetzt sehen, am helllichten Tag läuft sie durch den Park, nein, sie schleicht, creepy, creepy, denn sie kann nur schleichen, sie hat kein Rückgrat mehr, es ist verbogen von dem Muster, das sie gefangen hält, heimtückisch, in Schlangenlinien verbogen, aber sie ist überall! Nachts aber, wenn das Licht des Mondes die Schatten ändert, ist sie wieder hinter die Tapete zurückgekehrt, gefangen. Aber nun, da endlich das Problem erkannt ist, kann Charlotte ihr helfen, gemeinsam arbeiten sie an der teuflischen Tapete, die eine zieht, die andere schiebt, die andere zieht, die eine schiebt, und am Ende ist sie endlich frei! Und als am Morgen Charlottes Ehemann kommt und ins Zimmer will, da hat Charlotte den Schlüssel weggeworfen; nein, sie wird ihn nicht hineinlassen in ihren Raum, den sie sich so mühsam erobert hat, wo sie jetzt herrscht, allein mit der befreiten Frau. Und wenn er denn unbedingt hineinwill, der junge Mann, nun gut, der Schlüssel liegt unten, sie hat ihn aus dem Fenster geworden, er liegt unter dem „plantain leave“, genau, er muss nur unter dem „plantain leave“ suchen!
Die Fußsohlenpflanze
Das ist eine der Stellen der kleinen Erzählung, wo die Symbolik zum ersten Mal hinter der Tapete hervorschaut, beim ersten Mal noch zaghaft – ein „plantain leave“, nun gut, denkt die Leserin, wird wohl irgendein Blatt sein, wahrscheinlich Platane –, beim zweiten Mal jedoch horcht sie auf: Warum denn nun ausgerechnet ein „plantain leave“, und was ist das überhaupt? Es stellt sich heraus, dass es ein Wegerich ist; Breitwegerich, Spitzwegerich, es gibt endlose botanische Varianten. Der Wegerich ist ein sehr unscheinbares Pflänzchen, es wächst überall am Wegesrande oder zwischen den Ritzen; er ist anspruchslos, man tritt meist drauf, ohne ihn zu bemerken; deshalb heißt er auch „Fußsohlenpflanze“, oder, in einer aparten und etwas rätselhaften Variante in Amerika, „Fußsohle des weißen Mannes“. Während man noch ein wenig den Atem anhält wegen der vielfachen symbolischen Perspektiven, die sich hier eröffnen, lernt man außerdem, dass der Wegerich seit alters her eine geschätzte Heilpflanze ist; er kuriert fast alles – und nein, nicht nur Frauenleiden, sondern entzündliche Prozesse, Verdauungsdinge, Epilepsie – und man kann ihn sogar essen. Aber wer kennt heute noch den Breitwegerich? Auch in meinem Garten wächst er, ich habe ihn als Unkraut ausgerissen; er ist auch nicht direkt hübsch, mit seinen breiten Blättern und den etwas unscheinbaren, zarten Blüten. Natürlich gibt es dazu noch das eine oder andere Märchen vom Wegerich, aber das ist schon fast nicht mehr wichtig. Allgegenwärtig, anspruchslos, übersehen, sich ausbreitend in Zwischenreichen, von Füßen, männlichen vor allem, getreten, dabei doch so nützlich, heilend, wissend! Wer Ohren hat zu hören kann, höre!
John jedoch findet den Schlüssel, oder er findet ihn nicht, an dieser Stelle kann keine Leserin ehrlicherweise mehr wissen, ob sie noch in irgendeiner Realität ist oder in Charlottes Kopf, wo eine große Befreiung stattgefunden hat, weil sie endlich hinter die Muster, die Absperrungen, die Einschränkungen gekommen ist. Die Schlussszene jedenfalls ist eine große, beinahe gewaltsame Vision, in der Charlotte die Machtverhältnisse umgekehrt hat: John, der große starke Mann, der sie wie ein Kind auf den Armen tragen konnte, der Arzt, der immer am besten wusste, was für sie das Beste sei – John ist „fainted“, er ist in Ohnmacht gefallen! Jeder weiß doch, dass nur Frauen in Ohnmacht fallen, hysterische vor allem; aber die Frau, die hysterische Charlotte, krabbelt nun über ihn hinweg, creepy, creepy, er liegt ihr im Weg, er ist nur noch ein lebloses Hindernis. Charlotte hat sich freigeschrieben; sie hat sich ihren eigenen Raum erobert, und ob er nur in ihrem Kopf ist, auf dem Papier oder in einer historischen Realität – darf sich die Leserin aussuchen. Auf jeden Fall wird Charlotte nun – die Tapete wechseln (vielleicht, zur Abwechslung, ein plantain-Muster?) Und es wird endlich ein room of her own sein, ein eigenes Zimmer, wie es Virginia Woolf für jede schreibende Form gefordert hatte, ein Schreibraum, der gleichzeitig auch immer ein Denkraum ist, vielleicht, mit etwas Glück, sogar ein Handlungsraum.
Toxische Männlichkeit?
Denn das ist der symbolische, beinahe allegorisch-konzentrierte Subtext des kurzen Textes (und ist ein Subtext nicht genau das: ein Text unter der Tapete?). Es scheint nur um Tapeten zu gehen, aber es geht um alles und nichts: die Bewegungsfreiheit des Subjekts, die Herrschaft über die Beurteilung der eigenen geistigen und körperlichen Gesundheit, die Wahlfreiheit der Ausdruckformen, die Möglichkeit zur Ausformung einer eigenen Persönlichkeit, schließlich, und nicht zuletzt: die deformierende Kraft von Entmündigung und die reformierende Kraft von Selbstausdruck. Natürlich kann man das als Parabel auf männliche Herrschaft oder Inszenierung „toxischer Männlichkeit“ lesen, wie man heute so leichthin sagt (es schauert einen aber ein bisschen dabei, wenn man noch nicht jegliches Verantwortungsgefühl für den Umgang mit der Sprache verloren hat; noch nicht einmal Männlichkeit hat so ein Adjektiv verdient). Aber man bleibt dabei ein wenig an der Tapete hängen; man unterwirft sich, auch im Widerspruch noch, den Mustern, die sie vorgibt, hie großer böser Mann, da unschuldiges Weibchen, und ist es nicht höchst ermutigend und inspirierend, wie sie sich befreit! Wenn man ein wenig hinter die Gesellschaftstapete schaut jedoch, wenn man beginnt, an den Ecken zu reißen, dann sieht man auch eine Allegorie auf die Dialektik von Herrschaftsstrukturen überhaupt: Herrschaft deformiert jeden, sowohl den Herrscher als auch die Beherrschten; und eine reine Umkehr der Herrschaftsstrukturen reproduziert immer nur das Muster, mit umgekehrten Vorzeichen.
Sich ein Urteil erschreiben
Als zweite Allegorie jedoch, hinter der ersten sozusagen, in einer weiteren Tiefenschicht kann man die Entstehung eines (nicht nur, aber auch) weiblichen Schreibens erkennen. Es ist eine Therapie, und das klingt erst einmal allzu vereinfachend, biographistisch, pragmatisch. Aber man soll nicht meinen, man brauche keine Therapie, nur weil man sich gelegentlich gesund fühlt oder ein free agent zu sein meint, Herrscher und Herrscherin über sein Leben und seine Chancen. Wir alle sind umgeben von Tapeten, ob wir sie mögen oder nicht; von Mustern, die uns mal befreien und mal einengen; von Räumen, die wir uns nicht gewählt haben, aber die uns gewählt haben; von Menschen, die unser Bestes wollen und dabei manchmal das Schlimmste tun. Wir selbst wollen gern gelegentlich beschützt werden, wir wollen eigentlich immer Kind bleiben, es war doch so schön, behütet zu sein und, vor allem: nicht verantwortlich! Aber wir wollen auch selbständig handeln und mündig sein, Entscheidungen treffen, unser eigenes Leben führen. Immer sind es zwei Stimmen in unserem Kopf, eine vernünftige und eine romantische, und wir können sie nicht trennen. Außer auf dem Papier. Kein Problem auf dem Papier, es sind zwei Stimmen, und sie sprechen, nacheinander, vielleicht ein wenig durcheinander, aber sie werden unabhängig lesbar.
Und so erschreibt sich Charlotte ihr eigenes Urteil. Erst sind es zwei Stimmen, die in der Erzählung sprechen, ihre eigene spricht zögerlich, leise, weiblich, sie versucht ein Urteil und nimmt es schnell wieder zurück, es war ja nur sie selbst, ihre eigene Vernunft, die gerade gesprochen hat und gesagt hat, beispielsweise, sie würde sich eigentlich viel besser fühlen, wenn sie unter Leute käme und nicht isoliert würde; wenn sie ein klein wenig reden und denken dürfte und nicht alle geistige Tätigkeit vermeiden sollte; wenn sie hinaus käme, hinaus aus dem Zimmer mit der Tapete, der nicht selbst gewählten Tapete, und andere Muster sähe, lebendigere, intakte, vielleicht sogar: schöne. Aber John spricht dagegen, er spricht durch sie hindurch, wie eine Bauchrednerin wiederholt sie, was John gesagt hat. Aber die John-Stimme nimmt ab, ab und zu wagt die Charlotte-Stimme schon einen kleinen Widerspruch. Schreiben, das ist auch immer: die eigene Stimme zu Wort kommen lassen und zu zeigen, wie sie mitspricht im Chor der anderen Stimmen.
Und dann ist da noch die Tapete. Denn man kann ja nicht nur über das schreiben, was im Kopf ist und was zwischen Leuten geredet wird; es gibt auch einen Raum, in dem geschrieben wird, einen realen Raum. Unsere Phantasie, zumal, wenn wir reichlich damit gesegnet sind, ein wenig sensibel dazu und nicht ganz dumm, braucht einen Gegenstand, nein: braucht möglichst viele Gegenstände, braucht: Welt. Es wäre schön, wenn die Welt nicht nur aus Tapeten bestünde. Wenn wir aber nur eine Tapete haben – nun ja, dann wird unsere Phantasie eben die Tapete beleben. Was bleibt ihr übrig. Denn das tun wir, wenn wir schreiben: Wir beleben die Dinge, die um uns herum sind, wir zeigen, wie sie auf uns wirken und wir auf sie, was wir von ihnen hoffen, fürchten, wollen, wie sie uns eingrenzen und wie sie uns befreien. Immer beleben wir unsere Umwelt, und wenn man uns die Umwelt entzieht, dann beleben wir den winzigen Raum, der uns noch zum Atmen bleibt: eine Tapete. Hat vor Charlotte Perkins Gilman schon jemals jemand (ein Mann?) so intensiv und gleichzeitig creepy über eine Tapete geschrieben? Wenn man nicht über Schlachten schreiben kann, dann schreibt man eben über Schlachtfelder. Wenn man nicht über die Paläste der Herrschenden schreiben kann, dann schreibt man über die Gefängnisse der Beherrschten. Wenn einem jeder äußere Raum verweigert wird, dann weitet man eben den inneren aus, bis er so groß wird wie die Welt. Was bleibt frau übrig.
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