Eine Hintergrundgeschichte über Musik und Gedichte und Autorschaft
Ich saß und arbeitete. Es war eine Routinetätigkeit, aber nicht ganz ohne geistigen Anspruch. Nebenher lief Avishai Cohen, ein israelischer Jazz-Bassist und Komponist, vage dem Modern Jazz zuzuordnen, aber mit Fusion-Akzenten; ich kenne mich mit all dem nicht wirklich aus, aber Wikipedia stellt folgendes schönes Zitat des Musikers zur Verfügung: „Es gibt viele israelische Songs, die auf russischen Songs basieren. Osteuropäische Melodien, versehen mit hebräischen Texten. Das wurde zu einem Folk-Idiom in Israel. Dann gibt es Komponisten, die den mediterranen Sound und die arabischen Rhythmen der Darabouka mit westlichen Harmonien verbanden. Das brachte einen speziellen Sound hervor. Dieser Sound bin ich“. Aber das ist nur als Hintergrund wichtig. Denn während ich so vor mich hin werkelte in meinem täglichen Tun, wechselte die Musik vom unaufdringlichen Sound-Teppich zur sprachlichen Rezitation. Zuerst wirkte das nur ein wenig ablenkend, irgendjemand sprach im Hintergrund, mäßig rhythmisch akzentuiert. Aber langsam, langsam schlichen sich die Wörter samt ihrer Bedeutung in mein Bewusstsein. Es war eine Aufzählung offenbar, und einzelne Wörter stachen heraus aus dem Fluss, es waren abstrakte – identity, reflections, music, wisdom –, dann wieder konkrete: clouds, rain, bird, ocean. Ich ließ sie vorbeiziehen und versuchte mich auf meine eigentliche Arbeit zu konzentrieren, bei der es übrigens auch um Wörter ging; gerade ging es um Vorstellung und Vorstellungsart, und während ich noch darüber brütete, wann Vorstellungsarten eine allgemeine und wann eine konkrete Bedeutung hatte, ließ ich das Album von Avishai Cohen eher aus Faulheit nochmal ablaufen. Und als wir wieder zu dem Teil kamen, wo der Sprechpart begann, identity, reflections, music, wisdom zogen erneut vorbei, und dazwischen clouds, rain, birds, ocean versprenkelt, konnte ich nicht mehr widerstehen: Ich wollte diesen Songtext haben, und gab es nicht schicke Funktionen in dem gerade von mir gewählten Streaming-Medium, die diese auf Wunsch anzeigten? Nun, ganz so einfach war es nicht, aber mit etwas avanciertem googeln fand ich den Songtext und lernte: Es handelte sich um ein Gedicht einer israelischen Autorin mit dem Titel Departure; die Autorin hieß Zelda Schneurson Mishkovsky, sie lebte von 1914-1984 und wurde etwas bekannter – aber nicht etwa berühmt – unter ihrem Vornamen „Zelda“. Damit war ich endgültig gefangen. Eine schreibende Frau aus Israel! War das nicht etwas für uns schoengeistinnen?
„Zelda“ also, ihr Leben ist nicht besonders aufregend, aber in gewisser Weise typisch für weibliche Autorschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Geboren 1914, entstammt sie einer Familie mit weit zurückreichenden Wurzeln im Rabbinertum. Sie besuchte eine religiöse Schule im nach dem ersten Weltkrieg unter britischem Protektorat stehenden Palästina, danach ließ sie sich zur Lehrerin ausbilden in einem Institut, das der Bewegung des Mizrachi, einer religiös orientierten Teilbewegung des Zionismus zuzuordnen war (an diesem Punkt war ich mal wieder beeindruckt, welche Geschichtskenntnisse auch nur zu einem oberflächlichen Verständnis von Lebensläufen, sogar eher ereignisarmen, nötig sein können!). Danach war sie als Lehrerin in Jerusalem tätig; ein typischer Frauenberuf des 20. Jahrhunderts also, den sie folgerecht aufgab, als sie 1950 heiratete. Sie gab ihn aber auch auf, um sich forthin dem Schreiben zu widmen. Zelda schrieb Gedichte; auf Hebräisch natürlich, tief geprägt von ihrer Herkunft, ihrem jüdischen Glauben (sogar in einer heute als ultra-orthodox geltenden Variante) und dazu – nun, wie bei Avishai Cohen, ein wenig fusion aus weiteren und tieferen Hintergründen, siehe oben. Für viele Israelis wurde sie mit dieser Mischung zu einer Art Volksheldin; einige ihre Gedichte wurden als Lieder vertont und verstärkten ihre Popularität, vielleicht hatte sie so auch der junge Cohen kennengelernt. Sie bekam mehrere bedeutende literarische Preise für ihre Gedichtsammlungen, aber es gibt nur eine Auswahlübersetzung ins Englische mit dem schönen Titel: The Spectacular Difference: Selected Poems of Zelda (2004).
Der „spektakuläre“ Unterschied – ist das nicht ein schöner Titel? Was kann man nicht alles dazu assoziieren, Konkretes wie Allgemeines gleichermaßen? Spektrum, das ist (wörtlich) die Erscheinung, die Mutter von Spektakel wie spekulativ, von ihr kommt das Spektrum des Sehens und des Lichts und der Wellen. Heute aber bleiben wir bei Departure, demjenigen Gedicht, das sich beim Werkeln aus dem Hintergrund in den Vordergrund meines Bewusstseins gedrängt und dort eingenistet hatte. Es geht so (in meiner Übersetzung; danach folgt der Originaltext samt Link zur Vertonung):
Aufbruch
Es ist notwendig, Abschied zu nehmen
von der Herrlichkeit
der Himmel und von den Farben
der Erde, allein für sich zu stehen und
dem Schweigen des Todes
ins Gesicht zu sehen, zu scheiden
von Worten, all den Worten,
die ich jemals hörte oder las.
Und von den Wassern, die ich
gesehen und denen, die ich nicht
gesehen habe. Zu sterben,
ohne den Ozean zu sehen.
Scheiden von den nächtlichen
Lüften und scheiden von denen
des Morgens.
Scheiden vom Unkraut, von einem
fruchttragenden und von einem dürren
Baum, vom minderen Licht und
vom Sternenglanz.
Dem Anblick eines fliegenden Vogels
entsagen, scheiden vom Anblick
eines Raubtieres oder eines Insektes, scheiden von
meinen Freunden und Kameraden, von
dem Höhepunkt der Erregung
und von der Furcht vor dem dunklen
Wahnsinn.
Scheiden vom Sabbat, von
der Süßigkeit des Ruhetages.
Scheiden von allen Werken und Künsten, von
Ritualen, vom Regen und von all dem,
was den Augen wohltut.
Es ist notwendig, Abschied zu nehmen
vom Wissen um Gut und Böse in dieser
Welt, weil andere Worte
von Gut und Böse in jener sind.
Scheiden vom Geschehenen, von
dem tiefen Schlaf und vom
Traum.
Scheiden von der Scham, von der Angst vor
dem Sterben, von Schuld und Fluch,
von der Erschöpfung.
Scheiden vom Nachdenken über das Leben,
von Erwägungen über die menschliche
Natur, von Spekulationen über
das Wesen des Weltalls.
Scheiden vom Nachsinnen über
den Unterschied zwischen mir selbst
und dem Anderen, vom Nachsinnen
über Identität, vom Nachsinnen
über mein inneres Wesen, vom
Nachsinnen darüber, wie wenig
ich über mich selbst weiß und über all das,
was mich umgebt, scheiden von der
Empfindung meiner Seele angesichts
hoher Berge, scheiden von
der Notwendigkeit der Nahrung, von Angst,
von der Lächerlichkeit.
Scheiden von den Wolken, von
aller Verwandlung, von dem
Unbegrenzten, von Feuer, von
Steinen und von der Weisheit.
Von der äußeren Bewegung des Leibes
und von der inneren der Seele.
Von Liebe und von Haß.
Von Musik. Und, vor dem
Ende, zu leben mit der Furcht
vor derem Sterben, und meiner eignen
Gewissheit.
Departure
It is necessary to begin the
departure from the splendour
of the skies and the colours
of earth, to stand alone and
face the silence of death, to
part from curiosity, part from
words, all the words that I’ve
read and heard.
And from water, that I’ve
seen and haven’t seen. To die
without seeing the ocean.
Part from the air of the night
and part from the air of the
morning.
Part from weeds, part from a
fruit tree and from a barren
tree, from the lesser light and
from the stars.
Abandon the sight of a flying
bird, part from the sight of
a beast or an insect, part from
my friends and comrades, part
from the dampest of excitement
and from fear of the obscure
madness.
Part from the Shabbat, from the
sweetness of the seventh day.
Part from all work and art, from
rituals, from rain and from all
that is pleasing to the eye.
It is necessary to part from
Knowing-Good-And-Evil of
this world since other terms
of good and evil are there.
Part from what happened, from
the deep sleep and from the
dream.
Part from shame, from the fear
of death, from guilt, from curse,
from exhaustion.
Part from reflections about life,
from reflections about human
nature, from reflections about
the nature of the universe.
Part from reflections about
the difference between myself
and the other, from reflections
about identity, from reflections
about my inner nature, from
reflections about how little
I know about myself and about
all that is around me, part from
the sensation of the soul facing
the high mountains, part from
the need of food, from anxiety,
from the ridicule.
Part from the clouds, from
all that is changing, from the
undefined, from fire, from
stones and from wisdom.
From the physical movement
and from the inner movement.
From love and from hate.
From music. And before the
end, to live with the fear of
their death, and the certainty
of my own.
Translated from Hebrew by Sharon Mohar and Avishai Cohen
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