Dörte Hansen: Mittagsstunde (2018)
„Keine Schönheit weit und breit. Nur nacktes Land, es sah verwüstet und geschunden aus.“
Dieses nackte Land, in dem die Einfachheit als Lebenseinstellung gepriesen wird, trägt einen Namen: Es heißt Brinkebüll. Brinkebüll – es klingt nach ländlicher Idylle, denn es erinnert an Astrid Lindgrens Kinder von Büllerbü. In Dörte Hansens Roman ist die Idylle gebrochen. Die Menschen, die hier leben, geben dem Dorf eine Geschichte, die nicht immer so geradlinig verläuft, wie sich das der einzelne wünscht. Die Autorin weiß, wovon sie schreibt: Sie selbst wuchs im norddeutschen Högel – einem Dorf mit rund 400 Einwohnern – auf. Dabei steht das norddeutsche Brinkebüll stellvertretend für tausende Dörfer – ob in Norddeutschland oder im süddeutschen Raum. Das Dorf als Kollektiv ist Fluch und Segen zugleich. Dort geboren, dort geduldet – komme was wolle. Auch Tierschändung, Vernachlässigung von Kindern und schwere Körperverletzungen können dagegen nichts anhaben. Im Wegschauen und sich nicht Einmischen besitzen alle Brinkebüllers ein großes Talent. Bist du ein Brinkebüller, bleibst du ein Brinkebüller, egal was du tust.
Die meisten der Bewohner sind aus dem Dorf nie herausgekommen. Manche genießen die scheinbar ländliche Idylle, manche gehen an ihr zugrunde. Manche befinden sich aber auch in einem Stadium dazwischen. Die einzelnen Schicksale kombiniert Dörte Hansen geschickt miteinander und entfaltet das große Ganze, das Narrativ des Dorfes erst Schicht um Schicht. Dörte Hansen beschreibt Talente, die nicht zum Einsatz kommen, so wie die des Konditors Erich Boysens. Seine Kreativität und Raffinesse im Backen von Torten oder Plätzchen werden von den Dorfbewohnern nicht geschätzt, denn sie lieben schließlich die Einfachheit oder trauen sich nicht, ihre Bewunderung offen kund zu tun. Auch Ella Feddersen tut das nicht – eine kluge Frau, die im Winter mit ihren Schlittschuhen zu ihrer eigenen Melodie übers Eis gleitet, von einem anderen Leben träumt und dennoch jeden Tag zu ihrem Mann, einem einfachen Gastwirt, zurückkehrt. „Wir wollen niemals auseinandergehen, wir wollen immer zueinanderstehen“ – immer wieder werden von der Autorin Dörte Hansen in die Geschichten der Dorfbewohner Songtitel als ironischer Kommentar eingewoben. Kitschige Schlagertexte voller nostalgischer Romantik, die sich nicht recht auf die Dorfbewohner anwenden lassen wollen. Sie bleiben gebrochene Sehnsüchte.
Auch Ellas Tochter Merret (die, wie sich herausstellt, gar nicht die Tochter des Ehepaars ist, sondern die von Ella und ihrem Geliebten) schmettert gerne Schlagerlieder, die von Harmonie, Liebe und Treue erzählen. Doch ihr selbst sind diese Texte im eigenen Leben fremd. Sie ist verdreht, kennt keine Grenzen, prophezeit den Weltuntergang (und liegt nicht falsch, wenn sie den Weltuntergang als Modernisierungsprozess der traditionellen Dorfkultur versteht) und setzt doch ein eigenes Kind in dieses verlorene Land. Das Baby ist ungeplant, die Schwangerschaft eine fixe Laune der Natur. So fix, dass Merret versucht, das Leben in ihrem Bauch mit einem Sprung aus dem Fenster zu beenden. Aus Unkenntnis, denn sie hatte nicht gewusst, dass ein Mensch in ihr heranwächst. Ihr Sprung aus dem Fenster kann das Leben ihres Sohnes Ingwer Feddersen jedoch nicht verfrüht beenden. Er wird geboren; per Kaiserschnitt, weil ein „Stück Kind“ niemals aus dem Bauch allein herauskommen kann – Merret hat Recht behalten mit ihrem Unverständnis gegenüber dem Wunder der Geburt. Um das Schicksal ihres Sohnes schert sie sich später kaum. Sie kann mit dem kleinen Menschen, der schreit, in die Hose macht und gefüttert werden will, nichts anfangen. Er ist lästig. Und dennoch wird seine Lebensgeschichte der rote Faden im Buch sein.
Ingwer Feddersen wird von seinen Großeltern versorgt, die das Kind als ihres aufnehmen und in der Gastwirtschaft, die sie führen, großziehen. Auch wenn das Wirtshaus an Hässlichkeit und ebenso an Borniertheit ihrer Besucher kaum zu überbieten ist, wächst Ingwer Feddersen zu einem hochbegabten Kind und Jugendlichen heran. Er schafft es als einer der wenigen, aus den vorgegebenen Bahnen auszubrechen. Er studiert, er promoviert und er wird schließlich Professor in Kiel. In dem Leben, in das er sich mühsam hineingearbeitet hat, fühlt er sich jedoch immer fremd. Denn dafür musste er sich aus Brinkebüll herausarbeiten. Doch – und das ist der Tenor des ganzen Buches – seine Herkunft aus einem „Bauernkaff“ und seine Kindheit in der Kneipe sind Teil seines Stils und Habitus gewesen und geblieben. Brinkebühl kann man nicht entkommen. Man bleibt, was man ist. Man ist, was man einst war. Neues ist Maske. Es fühlt sich manchmal an wie ein Kostümball. Wie gut, dass man an Fasching Schlager singt!
Leseprobe
Er konnte tausendmal der Typ mit Einserexamen sein, mit summa cum laude in der Doktorarbeit, er fühlte sich noch immer wie ein Schwindler mit gefälschter Vita, der nicht da war, wo er hingehörte. Ingwer Feddersen aus Brinkebüll, der sein geerbtes Leben ausgeschlagen hatte. Nein gesagt zu einem Gasthof auf der Geest, nein zu den fünfzehn Hektar Land, zu Haus und Hof. Nein zu allem, was ihm Sönke Feddersen, de Ole, geben wollte. Nein zu Frau und Kindern. Bloß nicht, besten Dank. Aber wozu hatte er denn Ja gesagt? Wenn Brinkebüll verkehrt war und die Kieler Wohngemeinschaft auch, was war dann richtig?
Er hat sich ein Leben selbst gebaut, auf einem Fundament aus Shell-Atlas und Steensens Steinsammlung irgendwie zurechtgezimmert, und jetzt merkte er, wie schief es war. Es passte nichts zusammen. Er musste noch mal ran.
Es gab tatsächlich noch Geleebananen. Er fand auch Vollmilch-Nuss-Schogetten, nur Weinbrandbohnen leider nicht, stattdessen nahm er Mon Chéri, ging auch. Seine Stimmung hob sich langsam, während er den Einkaufswagen mit Präsentkorb-Klassikern füllte, sie fielen ihm allmählich alle wieder ein. Eine Mettwurst, Teewurst, Leberwurst im Glas mit ziemlich fiesem Fettrand. Dann schob er zum Regal mit Obstkonserven, nahm sich eine Dose Pfirsiche und einmal Fruchtcocktail. Jetzt fehlte noch die Packung Kaffee Hag, Und er entschied sich gegen Doppelherz, er nahm doch lieber eine Flasche Sekt, er war kein Unmensch. Söhnlein Brillant, halbtrocken.
Schöne Begriffe und Phraseme:
- Vergammelte Noblesse
- Verschlampung mit Niveau
- Gegen das Idiom der Tölpel und Zurückgebliebenen kämpfen
- Weltmüder Blick
- Schattengrübler
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