Ein Besuch beim Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt
Wenn du an einem verregneten Sommernachmittag durch die Gassen der Frankfurter Innenstadt streifst – die Hochhäuser verbergen ihre glitzernden Spitzen, und an den Straßenrändern wachsen die Pfützen –, dann könntest du zufällig an einem altehrwürdigen Bürgerhaus vorbeikommen. Es wirkt ein wenig abschreckend; man kann sich vorstellen, dass hier reiche Frankfurter Kaufleute ihren Sitz hatten, bei denen sich die Generationen Buddenbrook-mäßig ablösten, bis einer von ihnen, nennen wir es ‚Degeneration‘ oder ‚Kultivierung‘ (es ist die gleiche Münze, nur von verschiedenen Seiten) aus Versehen beinahe, ein Künstler wurde und in die Welt zog. Damals gab es sicher noch nicht das Haus daneben, das sich mit warmen gelblich-grünen Farbtönen sogar im Regen fröhlich hervortut; es hat komisch verrutschte Fenster, zu denen man sich keine rechten Stockwerke vorstellen kann, und ein blaues Dreieck lugt hervor wie eine vorwitzige Nase. Lasse dich nicht abschrecken von der dunklen, schweren Tür mit der kaum lesbaren Schrift, sondern tritt ein. Drinnen empfängt dich ein hoher Raum, beinahe wirkt er wie eine Kapelle. Die eine Wand aber ist offen und geht mit einem Glasfenster auf ein Kleinod von Garten, in dem der Regen von den Farnenbüschen tropft und Putten unter dicht überwachsenen Spalieren schlummern; und die Stirnseite ist bedeckt mit Büchern, lange Reihen, dicht gefüllt, Regale bis unter die Decke, ein Mosaik, dass das Herz jeder Bücherliebhaberin und schoengeistin höher schlagen lässt. Entrichte deinen Obolus, er tut ein wenig weh; aber das Haus mit der Stupsnase wurde errichtet mit dem Geld von vielen Schoengeistern, die wollten, dass es dieses Haus gebe; ein zweites neues Haus der Dichtung nämlich neben dem alten, schwergewichtigen des übergroßen Dichters, dessen Namen wir jetzt gar nicht nennen und an den wir auch gar nicht denken. Du lässt deshalb den Garten – er ist der Durchgang zum alten Haus – erst einmal zum Trocknen liegen und wendest dich zum Treppenhaus. Es ist aber kein Treppenhaus, es ist ein kleines architektonisches Wunderwerk: eine schmale hohe Stiege, dunkelblau-gräulich geheimnisvoll schillernd, von der Leuchtgänge nach links abzweigen; nach rechts aber gibt es kleine Erker, in denen du verweilen kannst und dem Auf- und Ab nachsinnen, dass die farbigen Stufen ganz allein, ohne dein Zutun zu vollführen scheinen. Wenn man sich einen dunkel schattierten Regenbogen ausgerollt als Treppenhaus denken kann – dann ist man hier richtig und fühlt sich, obwohl dicht ummauert: befreit.
Befreit betrittst du vielleicht das erste Stockwerk, dann bist du umringt von vielen Porträts einer guten Gesellschaft und südlichen Ideal-Landschaften, weit entfernt von Frankfurter Regentagen. Du kannst aber auch ganz oben anfangen, wenn du lieber noch ein wenig durch den ausgerollten Regenbogen empor steigen möchtest, oder in der Mitte, es ist eigentlich egal, denn: Das neue Haus hat keinen strengen Lernweg, sondern „Stationen“. An Stationen kannst du anhalten und verweilen, oft sogar auf einer Sitzgelegenheit, die zum Bleiben einlädt, zum Schauen, zum Hören oder gar: zum Gar nichts Tun (in der besten aller möglichen Welten gäbe es dazu noch Kaffee. Oder einen Cocktail. Na gut, wenn es sein muss, auch einen Tee, Wir sind aber in einem deutschen Museum, auch wenn es für ein Museum ziemlich traumhaft ist, und die Schätze müssen geschützt werden). An Stationen kannst du entlangtrödeln, kurz hier blättern, dort in die vor dem harten Licht geschützten Schatzkästen schauen (welch Freude des Anfassens!), hinter einem dichten Vorhang verschwinden oder mit den Lichtern auf einer elektronischen Landkarte spielen. Du kannst auch Gedichte übersetzen oder bunte Kärtchen ausfüllen und sie an die Wand zu den anderen hängen; sie bilden dort ein anderes Mosaik, einen weltumspannenden Regenbogen aus Sprachen, Sätzen, Kommentaren, geschrieben von Händen. Du kannst das alles tun, oder du kannst das alles lassen. Niemand schaut, niemand kontrolliert. Es ist deine Zeit, es ist deine Stille, es sind deine Farben. „Romantik“, ach, das Wort ist viel zu groß und viel zu dumm geworden vor lauter Missbrauch. Wenn du es nicht magst, nimm dir ein anderes. Es ist nur ein Wort, das früher einmal geschillert hat, als es noch frisch und unverbraucht war. Mach dir ein neues, schreib es auf und häng es an die Wand. Vielleicht findet es eine Geistesverwandtin?
Da du nun eine schoengeistin bist, und da du heute einmal nicht an die großen Männer denken willst, die sich damals „Romantiker“ nannten, weil es ein gutes Label mit hohem Markt- und Wiedererkennungswert war (heute würde man es mit einem kleinen © versehen, so wie Coca Cola© oder Microsoft©), suchst du die Frauen. Sie sind gar nicht schwer zu finden, und sie werden, was nicht genug gelobt werden kann, auch gar nicht in den Vordergrund gedrängt, da, schaut her, wir haben aufgepasst, wir sind auf der Höhe der Zeit und schwimmen wacker im gender-mainstream! Nein, sie waren sowieso da, von Anfang an, mit und neben den romantischen Männern. Du kannst ihre Porträts mitnehmen auf kleinen Kärtchen, die du an den verschiedenen Stationen findest, falls du dich zuhause weiter mit ihnen unterhalten möchtest. Sie schauen etwas fremdartig aus mit ihren lockigen Frisuren, mal neckisch hochgebunden und gekräuselt, mal wallend um die Schultern und mit einer zierlichen Schleife, mal klassisch-antik im Nacken gebunden; und sie schauen bemerkenswert ernst, diese Frauen – kein strahlendes Selfie-Grinsen, nein, der Blick geht in die Ferne, über die Betrachterin hinaus, ins Offene. Die romantischste von ihnen allen war Karoline von Günderode; dichterisch hochbegabt, ambitioniert und als Stiftsfräulein abgeschoben; nach einer unglücklichen Liebesgeschichte, die genauso hochfliegend ist wie ihre Texte, stößt sie sich am Rhein treffsicher einen Dolch in die Brust, da ist sie kaum dreißig Jahre alt – und was hätte aus ihr werden können mit diesem Talent! Oder Sophie Mereau, sie wagt es, den in jeder Hinsicht unreifen Clemens Brentano zu heiraten, es ist ihre zweite Ehe, und sie wird zeitweise zu einem Horror-Trip. Aber Sophie ist eine attraktive, erfahrende und selbständige Frau, die sich von Schiller in Fragen der Lyrik beraten ließ; die Romane verfasste, in denen Frauen ihren Gefühlen freien Lauf ließen; und die eine Frauenzeitschrift herausgab und bei der Geburt ihres insgesamt sechsten Kindes im Kindsbett starb. Doch es gab auch weniger dramatische Schicksale. Bettine von Arnim tanzt auf die ihr eigene schwebende Art durch mehrere Stationen: Schwester des unsteten Clemens, beste Freundin der totgeweihten Karoline von Günderode, Ehefrau von Achim von Arnim und schwärmerische Goethe-Verehrerin; aber auch Mutter von sieben Kindern und Verfasserin von Sozialreportagen, die den preußischen König kritisierten und von der Zensur bald verboten wurden. Oder Rahel Varnhagen, Salondame, emanzipierte Jüdin, Verfasserin von hunderten von Briefen, von Aphorismen und kritischen Essays. Es sind weibliche Gesichter, die du vielleicht schon gesehen hast (man druckt sie gern auf Geldscheine und nennt es „Wertschätzung“), aber ihre Geschichten, ihre verstreut veröffentlichen Werke – wer liest sie noch? Wenigstens hier kannst du sie hören. Es gab nicht nur Waldeinsamkeit und Taugenichtse (Eichendorff©), Volkslieder (Brentano&Arnim©) und Volksmärchen (Jacob&Wilhelm Grimm©), den Überschwang der literarischen Kritik (August Wilhelm und Friedrich Schlegel©) und die blaueste aller blauen Blumen (Novalis©); es gab auch Frauen, die zwar im Geiste romantisch waren, aber daneben: oft ziemlich realistisch im Leben standen (oder eben: es entschieden verließen; es sind nur zwei Seiten einer Münze).
Am Ende – oder war es schon am Anfang? – stehst du vielleicht vor einem über-lebensgroßen Frauenkopf. Nach antiker Manier sind die Locken auf dem Kopf verflochten und werden von einem Stirnreifen zusammengehalten; vollendete Symmetrie, da verrutscht kein leichtfertiges Löckchen. Über volle, beinahe ein wenig männlichen Lippen (jegliches Lächeln liegt ihnen fern) erhebt sich die schmale gerade Nase, die ein wenig an den blauen Vorsprung am Haus erinnert; sie ist aber nicht übermütig, sondern von der gleichen klassischen Strenge wie die großen leeren Augen. Keine Beschriftung, nirgends. Nur du und der Kopf. Dir ist plötzlich nicht mehr romantisch zumute; zumal dir im Rücken der Meister des Hauses höchstpersönlich kokett sein weiß-seiden-bestrumpftes Bild in die römische Campagna streckt, auch er ist hier in Frankfurt-Arkadien! Lass dir keine Angst machen. Der Kopf ist der der Juno Ludovisi (na gut, die Forscher streiten inzwischen, ob das mit der Juno stimmt, aber die Forscher streiten immer), und der Meister hatte sie prominent in seiner Weimarer Großraumwohnung platziert (was man sich in der engen Jenaer Romantiker-Wohngemeinschaft nur schwer vorstellen kann, höchstens ironisch verfremdet). Irgendwie muss der Kopf zu ihm gesprochen haben, er hielt ihn für „über allen Ausdruck groß und herrlich“. Hat der Kopf vielleicht zu ihm gesagt: „Du mußt dein Leben ändern?“, so wie der fragmentarische Apollo von Belvedere, dem fehlenden Kopf zu Trotz, zu Rilke gesprochen hat? Ach, natürlich müsste man sein Leben ändern! Romantisieren, realisieren, was auch immer (beides sind nur die verschiedenen Seiten einer Münze) – also, gemeint ist: sein Leben so gestalten, dass man dieser kolossalen Gestalt ins (weibliche!) Antlitz sehen kann, jeden Tag, ohne wegzusehen oder die Augen zusammenzukneifen oder sich in Ironie zu fliehen. Vielleicht konnte Goethe das irgendwann, nach langer Übung; und der monumentale Frauenkopf war eine Art Test für die Besucher, die damals in Massen zu ihm strömten?
Du kannst jetzt überlegen, ob du den alten Meister noch besuchen möchtest, es ist nur ein kleiner Weg durch den Garten, es tropft nur noch sanft von den Farnen, und es ist ein prächtiges Haus, in jeder Hinsicht. Aber vielleicht möchtest du ja auch noch ein wenig träumen. Oder ein Gedicht schreiben. Genau, das ist es eigentlich, was du jetzt tun möchtest: ein Gedicht schreiben! Und seine ersten Zeilen könnten lauten:
„Es fiel ein warmer Sommerregen.
Und Zuflucht bot ein Haus,
verwinkelt und doch klar.
Romantik verhieß es – – – „
Deutsches Romantik-Museum – Frankfurt am Main (deutsches-romantik-museum.de)
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