Olga Tokarczuk, Empusion
Was wäre, wenn? – das ist nicht nur die Zauberformel von Literatur schlechthin, verstanden als eine alternative Geschichten-Schreibung, als ein Experiment mit dem menschlichen Fühlen und Denken innerhalb künstlerisch erschaffener Parallel-Welten. Es ist auch eine Zauberformel, mit der man die Literaturgeschichte – im Großen und Ganzen und über weite Strecken: eine ziemlich männliche Angelegenheit (Männer schreiben Texte über Texte anderer Männer) – alternativ schreiben könnte. Was wäre zum Beispiel, wenn – eine Frau den Zauberberg geschrieben hätte, einen der vielleicht tatsächlich größten Romane der deutschen Literatur? Thomas Mann beschreibt in ihm nicht nur die Probleme einer etwas elitären Gruppe von Tuberkulose-Kranken in einem abgelegenen Luxus-Retreat in den Schweizer Bergen (seine eigene Frau war einige Zeit in einem solchen Sanatorium in Behandlung, er hat sie besucht); er beschreibt die Zeitkrankheit einer ganzen Generation, ganzer Gesellschaften, ganzer Philosophien und Ideologien kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, der physischen und geistigen Mutter-Krise des gesamten 20. Jahrhunderts. Und „Krankheit“ ist dabei ebenso wörtlich zu nehmen wie metaphorisch: als eine gesteigerte Ausdrucksform des ganzen Menschen, in der all das, was im „Gesunden“ zu funktionieren scheint, in Frage gestellt, auf die Spitze getrieben, in all seiner komplexen Verflochtenheit von Symptomen, Ursachen, Wirkungen wie Nebenwirkungen vorgeführt wird.
Aber zum Glück muss man jetzt über diese spezielle Zauberberg-Frage nicht mehr spekulieren, denn eine Frau hat einen neuen Zauberberg geschrieben. Sie wurde mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, wie Thomas Mann. Sie ist eine ausgebildete Psychologin und Psychotherapeutin, gebildet in hohem Maße und sie kommt aus Schlesien: Es ist Olga Tokarczuk, und der Roman heißt, schon das ein schönes Bild- wie Bildungsspiel: Empusion. Denn Empusen, das sind weibliche Dämonen, Schreckgespenster aus der griechischen Mythologie. Sie erscheinen in verschiedenen Gestalten, zum Beispiel als wunderschöne Frauen; und dann verführen sie die Männer, und nach dem Sex saugen sie ihnen das Blut aus und vernaschen im wörtlichen Sinne ihr Fleisch. Kommt einem bekannt vor? Ach, das kollektive Unterbewusstsein kommt schon immer zu den gleichen Schlüssen und ähnlichen Bildern dafür: Schöne Frauen sind gefährlich. Verführung ist die größte Bedrohung für Männer. Liebe macht krank, sie ist ein Fieber, es zehrt einen aus, bis man am Ende: selbst nur noch ein Schatten ist. Gilt in Hellas wie in Schlesien, in Davos wie in Görbersdorf – einem ehemals bekannten niederschlesischen Kurort für Tuberkulosekranke, in dem dieser alternative Zauberberg spielt. Empusion aber assoziiert dazu noch das griechische „Symposion“ – eigentlich ein Festmahl unter Männern der gehobenen attischen Gesellschaft, aber seit Platon gleichnamigen berühmten Dialog synonym mit: einem philosophischen Gespräch, das um ein zentrales Thema kreist, bei Platon: die Liebe, in all ihren Formen (Empuse lässt grüßen!).
Philosophische Gespräche sind sozusagen das Knochenmark des Ursprungs-Zauberbergs, und sie sind es auch in Empusion: Kluge Männer, versammelt unter der Herrschaft der Krankheit, reden über Gott und die Welt und alles dazwischen. Und über Frauen, natürlich. Denn Frauen, die kommen eigentlich nicht vor im Roman von Tokarczuk, und das ist das Überraschende. Frauen sind entweder Dienstpersonal und werden gleich zu Beginn ermordet; oder sie sind Empusen, Gerüchte mehr als Fakten. Aber Frauen sind, das steht zum Glück für die Männer bei allen sonstigen weltanschaulichen Differenzen fest, an allem Schuld! zu erklären, wie genau das zusammenhängt, wäre leider mit einem ziemlich großen spoiler verbunden; frau lese das, und schauere. Schauere? Ja genau, wie im Fieber. Denn der Roman trägt den Untertitel: „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“, und das ist in seiner Verwebung von Natur, Heilkunde, Unnatur und Unheilkunde, und dazu noch: das Schauern als literarische Gattungstradition ziemlich interessant und lustig. Worüber man nicht alles schauern kann – auch das zeigt dieses kluge Kabinettsstück einer klugen Frau.
Nebenbei, und das überliest man leicht, findet man ziemlich profunde Philosophie. Sie ist vor allem in den Erzählpassagen versteckt, wo ein nicht näher definiertes „Wir“ (ist es ein Geschlechts-Wir? Ein Gattungs-Wir?), direkt zur Leserin spricht. Denn während die oberklugen Männer wortreich die Theorie vertreten, die Dämonen müssten „aus dem Bezirk des menschlichen Verstandes verbannt werden, damit sie aufhören zu existieren“, weiß das lebensklügere Wir: „Wenn jemand meint, eine Welt bestehe aus klaren Gegensätzen, dann ist er krank…. Verwischt ist sie, unscharf, flackernd, mal so, dann wieder anders, je nach Blickwinkel“. Oder, etwas elaborierter und in ein wunderschönes Bild verpackt:
Wäre Wojnicz [das ist der Protagonist, der alternative Hans Castopr] in der Praxis der Selbstreflexion und Introspektion bewandert gewesen, … hatte er gewiss erkennen können, wie Gedanken entstehen und was ihre Natur ist – hauchfeine Schleier von Empfindungen sind es, durch die Zeit wie Altweiberfäden und vom Wind bewegt, Streifen winziger Reaktionen, die sich zu zufälligen, nach Sinn strebenden Verkettungen zusammenfinden, sie entstehen und verschwinden wieder, wobei sie den Eindruck hinterlassen, es wäre tatsächlich etwas geschehen und wir hätten daran teilgehabt. Als wäre das, worin wir uns befinden, stabil und sicher. Als existierte es.
Das menschliche Denken besteht aus Altweiberfäden. Darauf könnte man auch eine alternative Philosophie aufbauen: Was wäre, wenn —-?
Olga Tokarczuk. Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Übersetzt von Lothar Quinkenstein und Lisa Palmes. 2023
Verlagsinformation:
September 1913, Görbersdorf in Niederschlesien. Inmitten von Bergen steht seit einem halben Jahrhundert das erste Sanatorium für Lungenkrankheiten. Mieczysław Wojnicz, Ingenieurstudent aus Lemberg, hofft, dass eine neuartige Behandlung und die kristallklare Luft des Kurorts seine Krankheit aufhalten, wenn nicht gar heilen werden. Die Diagnose allerdings gibt nur wenig Anlass zur Hoffnung: Schwindsucht. Mieczysław steigt in einem Gästehaus für Männer ab. Kranke aus ganz Europa versammeln sich dort, und wie auf Thomas Manns Zauberberg diskutieren und philosophieren sie unermüdlich miteinander – mit Vorliebe bei einem Gläschen Likör mit dem klingenden Namen »Schwärmerei«. Drängende Fragen treiben die Herren um: Wird es Krieg geben in Europa? Welche Staatsform ist die beste? Aber auch vermeintlich weniger drängende: Ob Dämonen existieren zum Beispiel oder ob man einem Text anmerkt, wer ihn verfasst hat – eine Frau oder ein Mann? Und mit der »Frauenfrage« befasst sich diese Herrenriege besonders gern. Auch bietet die kleine Welt von Görbersdorf reichlich Gesprächsstoff: Am Tag nach Mieczysławs Ankunft hat die Frau des Pensionswirts Selbstmord begangen. Überhaupt komme es häufig zu mysteriösen Todesfällen in den Bergen ringsum, heißt es. Was Mieczysław nicht weiß: Dunkle Mächte haben es auch auf ihn abgesehen.
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