Was war zuerst da, der Sex oder der – höchste geistige Genuss, die Seelenwonne, das Herzensentzücken? Denn es ist sprach- wie ideengeschichtlich gar nicht undenkbar, dass die Wollust als ins Ultimativ-Wohlige gesteigerte Lust nicht immer nur ein Euphemismus für Ihr-Wisst-Schon-Was war, sondern anfangs wirklich das rein geistige Hochentzücken an der Kommunikation mit Gott – die wohligste aller geistigen Lüste, von der die Mystikerinnen so hingerissen-körperlich schwärmen, dass man eben immer schon meinte, sie redeten eigentlich über – genau, das Andere. Kommt Wollust also von Sex – und wird in einem anscheinend zeitlosen Kompensationsmechanismus auf etwas Anderes übertragen, um es ein wenig zu reinigen, höher zu heben, in die gute Gesellschaft einzuführen? Oder ist Sex eine Abart der ursprünglichen Lust, die in ihrer höchsten Form nur in Gott wohnen konnte, wo denn bitte sonst? Wollust, das Wort gebraucht Goethe, um den es hier mal wieder gehen soll, übrigens gar nicht allzu häufig; aber wo er es gebraucht, tut er es eigentlich immer – markant. Man möchte gleich nur noch zitieren. Nicht die zweideutigen Beispiele, nein, die am wenigsten, sie sind so langweilig eindeutig. Am liebsten möchte man vielmehr die ganz unschuldigen und reinen (das Attribut taucht mehrfach auf bei der schmutzigen Wollust) zitieren, rein der Wollust des Zitierens halber!
Also tun wir es auch! Beginnen ausnahmsweise mit einem langen Zitat, es sind zwei Teile eines Gedichtes, es trägt den hübschen Titel Kinderverstand, taucht eher wenig in Anthologien auf und beschreibt, nachdem es den Knaben zuerst abgehandelt hat (natürlich!) das kleine städtische Mädchen:
Das Mädchen wünscht von Jugend auf
Sich hochgeehrt zu sehn;
Sie ziert sich klein und wächst herauf
In Pracht und Assembleen.
Der Stolz verjagt die Triebe
Der Wollust und der Liebe,
Sie sinnt nur drauf, wie sie sich ziert,
Ein Aug‘ entzückt, ein Herze rührt,
Und denkt an’s andre nicht.
Moment, der „Stolz“ verjagt die „Triebe der Wollust und der Liebe“ – ist das nicht eine gute Sache? Nein, es ist ein geläufiger Erziehungsfehler (bis heute); anstelle nämlich, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen, die Triebe sich entfalten zu lassen, damit aus der ganz einfachen, ganz ursprünglichen, ganz sinnlichen Wollust erwachender jugendlicher Sexualität irgendwann einmal Liebe werden kann, ein Herzensverhältnis des entzückten Herzens und des gerührten Auges, lenkt man die sinnliche Energie auf Äußerlichkeiten um. Macht aus der Liebe einen Wettbewerb und ein Gesellschaftsspiel. Lässt Influencerinnen heranwachsen. Auf dem Land hingegen ist man noch nicht so korrumpiert:
Die Bauermädchen aber sind
In Ruhe mehr genährt,
Und darum wünschen sie geschwind,
Was jede Mutter wehrt.
Oft stoßen schäkernd Bräute
Den Bräut’gam in die Seite,
Denn von der Arbeit, die sie thun,
Sich zu erholen, auszuruhn,
Das können sie dabei.
Sex, als natürliche Angelegenheit betrachtet und schön ordentlich ins Brautkleid (das darf auch hübsch sein, klar) domestiziert, ist eine erholsame Sache, für beide Beteiligten. Und er ist das Zaubermittel dauerhafter Beziehungspflege, wie sie der Meister selbst mit seinem Bettschatz Christiane betrieb (bevor er sie später endlich heiratete) und in einem anderen Gedicht beschrieb:
Ich, der ich diese Kunst verstehe,
Ich habe mir ein Kind gewählt,
Daß uns zum Glück der schönsten Ehe
Allein des Priesters Segen fehlt.
Für nichts besorgt als meine Freude,
Für mich nur schön zu sein bemüht,
Wollüstig nur an meiner Seite,
Und sittsam wenn die Welt sie sieht;
Daß unsrer Gluth die Zeit nicht schade,
Räumt sie kein Recht aus Schwachheit ein,
Und ihre Gunst bleibt immer Gnade,
Und ich muß immer dankbar sein.
Und schon stockt man wieder! Was hat die „Dankbarkeit“ denn hier zu suchen? Ach, Sex ist auch ein Machtspiel, das weiß der reifere Meister irgendwann. Später, als er das Wort Wollust schon fast nie mehr benutzt – wir werden gleich darauf zurückkommen -, verkündet er lakonisch gegen über dem langjährigen Hausfreund (und langjährigen Junggesellen, bis Goethe ihn gnädig in eine späte Ehe entließ) Riemer: Beide Geschlechter besitzen eine Grausamkeit gegeneinander… Bei den Männer die Grausamkeit der Wollust, bei den Weibern die des Undanks, der Unempfindlichkeit. Die Männer wollen immer, auch die alten, deshalb werden sie auch Wollüstlinge; die Frauen wollen irgendwann nicht mehr und werden undankbar und unempfindlich. Wollust gehört in die Jugend; und deshalb ist es auch eines derjenigen Worte, die beim jungen Goethe noch recht häufig auftauchen und später fast gar nicht mehr (außer in Übersetzungen; oder in Bildbeschreibungen; oder wenn es um Prostitution geht, wie in Der Gott und der Bajadere). Das Wolllustvolle der Tränen, der berühmte joy of grief (der im Wesentlichen aus der Maxime zehrt, dass es besser ist, negative Gefühl zu haben als gar keine; auch das ein ziemlich zeitloser Gedanke, und jeder Teenager kennt ihn), er tropft aus dem Werther und aus dem Wilhelm Meister der Theatralischen Sendung (der aber immerhin schon eine handfeste sexuelle Erfahrung hat, bevor seine Bildung beginnt). Die sexuelle Raserei, das ungezügelte Begehren strömt aus den Briefen des jungen Goethe an Behrisch während seiner Leipziger Studien- und Sturm-und-Drang-Zeit, mit dem er eine obszön-kumpelhafte Sprache geradezu als Sprachspiel pflegt. Doch die Lehre der Bajadere ist, und sie richtet sich vielleicht ja auch an Carl August, seinen späteren Weimarer Kumpel, der für seine fürstlichen sexuellen Eskapaden mäßig berühmt ist (gehört alles zum Stereotyp)?
Umsonst, daß du ein Herz zu lenken
Der Schönen Schoß mit Golde füllst,
O Fürst, laß dir die Wollust schencken,
Wenn du die Wollust fühlen willst.
Gold kauft nur den geringen Haufen
Und niemals edle Seelen dir,
Doch willst du eine Tugend kaufen;
So geh und gib dein Herz dafür.
Was ist die Lust, die in den Armen
Der Buhlerin die Wollust schafft?
Du wärst ein Vorwurf zum Erbarmen
Ein Tor, wärst du nicht lasterhaft.
Sie küsset dich aus feilem Triebe,
Und Glut nach Gold füllt ihr Gesicht.
Unglücklicher! Du fühlst nicht Liebe
Und selbst die Wollust fühlst du nicht.
Sei ohne Tugend! doch verliere
Den Vorzug eines Menschen nie!
Denn Wollust fühlen alle Tiere,
Der Mensch allein verfeinert sie.
Da ist recht kunstvoll vorgeführt, was man mit einer schönen, lustvoll-verspielten figura etymologica alles machen kann: Denn es sind zwei Wollüste, die hier quer durchs Gedicht laufen (man hat sogar das Gefühl, das Gedicht sagt mit Absicht die ganze Zeit Wollust, nur um zu provozieren und die Bedeutungsvariation für jeden Deppen klar zu machen!). Die erste steht für den (käuflichen) Geschlechtsakt, die zweite für das Empfinden dabei, die sexuelle Lust. Und an der ist wiederum per se nichts Falsches, auch wenn sie nicht ganz tugendhaft im strengen Sinne und von der Mutter verboten sein mag; nein, sie verbindet den Menschen mit allen Tieren, die bei der geschlechtlichen Vereinigung Lust verspüren. Ob das stimmt oder doch nur ein frommer anthropozentrischer Aberglaube ist, sei dahingestellt (zumindest für die männlichen Vertreter ziemlich vieler Arten scheint es zu stimmen); aber das Argument ist auch davon unabhängig, es behauptet nämlich einfach, dass es menschen-würdig sei, eine tierische Lust zu verfeinern, zu veredeln (na gut, zu kompensieren, für die Zyniker unter uns).
Also, jetzt ohne Zitaten-Wollust: Goethe spricht, wenn er von Wollust spricht, durchaus von Sex; aber er spricht ehrlich, unverkrampft und gänzlich unmoralisierend von Sex. Der Sex war eindeutig zuerst da; und für all die Heuchler unter uns, die das Wollüstige, beispielsweise, in der Kunst recht gern sehen und seinen Kützel verspüren, male man halt den Teufel hinzu (so eine wenig bekannte Xenie), dann sind alle zufrieden! Was täten wir ohne den Teufel, den Tausendkünstler! Na gut, das gleiche wie ohne ihn, aber es würde uns etwas fehlen zur vollen moralischen Wollust, sozusagen.
Ansonsten gibt es auch einige Varianten explizit nicht-sexueller Wollust, höchstens mit einem Hauch von Ironie oder Euphemismus versehen: die „recht ätherische Wollust“ der „treusten bewährtesten Freundschaft“, „unbetrübt von einer beschränkten Leidenschaft“, ihr kann man sogar einen Rosenkranz herbeten! Köche, denen man mit Wollust ins Kloster gefolgt wäre! Tassos Schwärmer-Wollust, sie ist „schönste guter Menschen, sich dem Bessern vertrauend“ hinzugeben (also: seinem Erzfeind Antonio um den Hals zu fallen; der traut aber auch dieser Art Wollust nicht so ganz, und um ehrlich zu sein: recht hat er!). Na gut, es sind gar nicht so viele. Denn die „reine Wollust edler Handlung“ aus einem Divan-Gedicht – entpuppt sich nicht als Herzenswonne des Gutmenschen, sondern die umsichtige Ausübung von Sexualakten nur mit vertrauenswürdigen Sozialkontakten, da sonst „ew’ge Pein“ (im medizinischen Sinne, nicht – oder: nicht nur im moralischen Sinne) droht! Und schließlich, das ist besonders schön und lehrreich, kann man sogar aus Wollust lernen. In der Schweiz, konfrontiert mit den ästhetisch überwältigenden und eine Wollust des Sehens auslösenden hohen Bergen, reflektiert der Meister:
wenn wir einen solchen Gegenstand zum erstenmal erblicken, so weitet sich die ungewohnte Seele erst aus, und es macht dies ein schmerzlich Vergnügen, eine Überfülle, die die Seele bewegt und uns wollüstige Tränen ablockt. Durch diese Operation wird die Seele in sich größer, ohne es zu wissen, und ist jener ersten Empfindung nicht mehr fähig. Der Mensch glaubt verloren zu haben, er hat aber gewonnen. Was er an Wollust verliert, gewinnt er an innermWachsthum. Hätte mich nur das Schicksal in irgendeiner großen Gegend heißen wohnen, ich wollte mitjedem Morgen Nahrung der Großheit aus ihr saugen, wie aus einem lieblichen Thal Geduld und Stille.
Das ist doch mal eine Erklärung des Erhabenen, die nicht auf philosophischen Höhen der Reflexion dahergleitet! Das Erhabene ist eine mechanische Seelenweitung; das tut ein wenig weh, und das tut ein wenig gut. Aber es nutzt auch ab, wie jede Feder, und beim zweiten Mal ist es schon nicht mehr ganz so überwältigend. Dafür aber ist die Seele still und heimlich gewachsen, am Großen gewachsen. Man übertrage dies auf den Sexualakt, nein: sagen wir lieber, mit einem schöneren Wort des Meisters: das Sinnenspiel! Aus Wollust kann man wahrlich lustvoll lernen; denn –
Laß dich die Lehren nicht verdriessen,
Sie hindern dich nicht am Genuß,
Sie lehren dich wie man genießen,
Und Wollust würdig fühlen muß.
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