Zur Sicherheit eine Warnung: Dieses ist, wieder einmal, kein Beitrag zur Emanzipation der Frau und ihrem immerwährenden Siegeszug. Eher im Gegenteil. Aber es ist vielleicht ein historisch interessanter zu den interkulturellen und religiösen Schwierigkeiten von Emanzipation, wenn man sie ausschließlich in konventionell-modernen Begriffen denken will; und ein wenig Ironie wäre bei der Lektüre vielleicht auch nicht ganz fehl am Platze (die heroisch-feministischen Beiträgen so außerordentlich oft und bedauerlich abgeht). Und dann geht es auch noch um Gedichte von Goethe, gemeinhin auch nicht direkt bekannt als Frauenförderer und Verteidiger von Frauenrechten. Aber Goethe war mit einiger Sicherheit ein Frauenversteher, vielleicht sogar gelegentlich: ein Frauenflüsterer. Zweifellos war er ein Frauenverehrer, bis ins hohe Alter, und ein vorurteilslos Liebender und wahrhaft treuer und treusorgender Ehemann. Im West-östlichen Divan, seinem interkulturellen Hauptwerk (und in seiner ebenso vorurteilslosen wie treuen Verbindung von Orient und Okzident bis heute einigermaßen unerreicht), gibt es ein Gedicht mit dem Titel Auserwählte Frauen; es wird begleitet von einem weiteren mit dem Titel Berechtigte Männer und einem dritten mit dem Titel Begünstigte Tiere. Aber bevor wir uns dieser west-östlichen Trilogie zuwenden, ein paar notwendige Worte zum Divan als Kontext.
Goethes ‚West-östlicher Divan‘: Liebesgeschichte eines Sechzigjährigen
Der West-östliche Divan, Goethes umfangreichste Gedichtsammlung überhaupt, erschien erstmals 1819, da war der Dichter gerade sechzig Jahre alt. Seine langjährige Schatten- und später offiziell angetraute Ehefrau Christiane war drei Jahre zuvor gestorben, und Goethe pflegte inzwischen einen recht eng-vertrauten Briefwechsel mit der anderweitig verheirateten, etwas über 30jährigen Marianne von Willemer. Sie verständigten sich unter anderem über Gedichte, die Goethe nach dem Vorbild des persischen Dichters Hafis (1325-1390) und dessen berühmten Divan geschrieben hatte, der 1812 erstmals umfassend ins Deutsche übersetzt worden war. Das Werke hatte Goethe sofort begeistert: In Hafis fand er einen geistigen Wahlverwandten, und im lyrischen Orient eine neue Liebe, eine Art intellektuellen Jungbrunnen angesichts des Kriegselendes in Europa und dem von ihm befürchteten Kulturverlustes. Er lernte sogar, die arabischen Schriftzeichen kalligraphisch nachzuzeichnen (mit sechzig Jahren sollte überhaupt jede eine neue Sprache lernen, das weiß man heute auch endlich wieder). Viel später erst entdeckte man, dass Goethe auch drei Gedichte seiner Briefpartnerin Marianne von Willemer in den Divan aufgenommen hatte. Marianne ist die angedichtete Geliebte „Suleika“; und schon im ersten Gedicht gesteht ihr „Hatem“/Goethe:
Nicht Gelegenheit macht Diebe,
Sie ist selbst der größte Dieb,
Denn sie stahl den Rest der Liebe
Die mir noch im Herzen blieb.
Marianne aber hatte ihm durchaus ebenbürtig geantwortet:
Hochbeglückt in Deiner Liebe
Schelt ich nicht Gelegenheit.
Ward sie auch an Dir zum Diebe
Wie mich solch ein Raub erfreut.
Auserwählte Frauen: eine offene Liste
Eines der zwölf Bücher des Divan trägt den Titel Buch des Paradieses, und um das Paradies geht es auch bei den „berechtigten Männern“, den „auserwählten Frauen“ und den „begünstigten Tieren“. Und da wir uns im west-östlichen Divan befinden, geht es natürlich zum einen um das muslimische Paradies: Es gilt der willfährigen „großäugigen Huris“ wegen, also: den Jungfrauen, die jedem Helden als Zubrot zu Milch und Honig zugegeben werden, eher als Hochburg der Frauenfeindlichkeit (die Deutung des Wortes „Huri“ ist aber umstritten, ebenso wie der Sachverhalt selbst, das hat aber noch keinen Selbstmordattentäter abgehalten, daran fest zu glauben). Es geht aber zum anderen auch um das christliche Paradies (das, siehe Eva, auch nicht die frauenfreundlichste Anstalt war). Und zum Dritten geht es um das Paradies des Dichters, das schon Hafis vor allem an zwei Orten fand: in der Schenke (ja, trotz Islam und Alkoholverbot, aber der Alkoholkonsum war auch in der abendländischen Anakreontik eher ein symbolisch-bildliches als eine Aufforderung zum binge drinking) und bei der (irdischen) Geliebten (bemerkenswert wenig Unterschied in beiden Kulturen und bei allen Dichtern überhaupt, was das angeht).
Lassen wir das Männergedicht beiseite, schließlich sind wir bei schoengeistinnen.de (es erläutert im wesentlichen bildreich und nicht unironisch, dass es eben der Heldentod sei, der das Ticket zum männlichen Paradies bilde), und kommen endlich zu den Auserwählten Frauen: Hier sind sie!
Frauen sollen nichts verlieren,
Reiner Treue ziemt zu hoffen;
Doch wir wissen nur von vieren,
Die alldort schon eingetroffen.
Erst Suleika, Erdensonne,
Gegen Jussuph ganz Begierde,
Nun, des Paradieses Wonne,
Glänzt sie, der Entsagung Zierde.
Dann die Allgebenedeite,
Die den Heiden Heil geboren
Und getäuscht, in bittrem Leide,
Sah den Sohn am Kreuz verloren.
Mahoms Gattin auch, sie baute
Wohlfahrt ihm und Herrlichkeiten
Und empfahl bei Lebenszeiten
Einen Gott und eine Traute.
Kommt Fatima dann, die Holde,
Tochter, Gattin sonder Fehle,
Englisch allerreinste Seele
In dem Leib von Honiggolde.
Diese finden wir alldorten;
Und wer Frauenlob gepriesen,
Der verdient, an ew’gen Orten
Lustzuwandeln wohl mit diesen
Wie schon gesagt: nicht besonders emanzipiert auf den ersten Blick. Aber versuchen wir einen Moment lang großzügig darüber hinwegzusehen und üben uns in historisch-kulturellem Gerechtigkeitssinn und weltanschaulicher Liberalität. Die Auswahl ist natürlich ost-westlich, also muslimisch-christlich, das war zu erwarten: Sie beginnt mit Suleika, der moralisch nicht besonders gut beleumdeten Frau von Potiphar in der Josephsgeschichte, die den armen Joseph mit ihren sündhaften Gelüsten verfolgte, er blieb aber standhaft, und sie erwischte nur den Zipfel seines Mantels. Zweifellos eine der populäreren Geschichten des Alten Testament und vielfach dargestellt auch in der bildenden Kunst. Sie wird erzählt sowohl im Koran wie in der Bibel, wie so vieles. Wie kommt nun ausgerechnet Suleika (die ja fast eine emanzipierte Frau ist, sie verfolgt immerhin energisch ihre sexuelle Befreiung!) in diese erlesene Auslese? Durch spätere Entsagung, ganz einfach; Fehler sind dazu da, dass man sie wiedergutmachen kann (das ist in der Bibel übrigens nicht überliefert). Aber immerhin, eine Sünderin, die gerettet wird! Wir denken einen Moment an Gretchen, deren Seele nicht nur bereits in Faust I gerettet wird, sondern die selbst, am Ende von Faust II, den trotz allen männlichen Strebens nur allzu sündigen Faust errettet, durch ihre persönliche Fürsprache bei der Gottesmutter!
Damit sind wir auch schon bei Nummer 2 der auserwählten Frauen, Maria nämlich, der absoluten Mutter schlechthin, die sogar „den Heiden Heil geboren“! Maria ist nämlich auch im Koran eine besonders auserwählte und ausgezeichnete Frau; sie wird als einzige namentlich erwähnt, sogar die Geburt Jesu wird beschrieben! Dass sie hingegen im Christentum „getäuscht“ wird, könnte man ja durchaus eine kritische Perspektive nennen. Zudem wird sie gepaart mit Mohammeds erster Gattin Chadidscha, der einzigen, mit der der Prophet in Einehe lebte, bis sie starb, sie war gleichzeitig seine Financieuse, eine seiner ersten Anhängerinnen und seine lebenslange Verteidigerin. Also eine sehr irdische Mutter und nicht nur treusorgende, sondern finanziell selbständige Ehefrau, die ihrem Ehemann ausgerechnet „einen Gott und eine Traute“ ans Herz legte! Während Maria also sozusagen ein wenig islamisiert wird, wird Chadidscha subtil verchristlicht.
Am Ende jedoch, als Krönung des erlesenen Zirkels, wird Fatima aufgerufen, die einzige überlebende Tochter von Mohammed und Chadidscha und selbst ein Muster aller Weiblichkeit im Islam bis heute, geradezu kultartig verehrt. Ist sie ein Gegenbild zum einzigen Sohn, zu Jesus Christus, der sein Leben am Kreuz lassen musste, unter den Blicken seiner so bitterlich getäuschten Mutter? Sie ist auf jeden Fall nicht nur ein Tugendmuster, sondern auch ein Schönheitsideal in ihrem „Leib von Honiggolde“ – Schönheit wohnt nämlich unter allen Hautfarben, und „alldorten“! Der Dichter aber, der die Schönheit und die Treue preist, hat es verdient, „an ew’gen Orten“ mit den Damen zu lustwandeln. Hafis darf ins Paradies. Goethe/Hatem darf ins Paradies. Marianne von Willemer sowieso, deren Schönheit Goethe nicht weniger verehrte als ihre Dichtkunst und ihren Mut, diese ihm zu offenbaren (der Ehemann duldete derweil, entsagungsreich, vielleicht ist er ein „berechtigter Mann“ geworden). Überhaupt ist das Paradies ja nicht geschlossen! Es sind nur bis jetzt erst diese vier Auserwählten angekommen!
(nächste Woche Fortsetzung: Begünstigte Tiere – ein Seitenstück in orientalischen animals poetics)
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