Auf den ersten Blick ist der neue Roman des Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne, vor allem ein ziemlich aktuelles Buch über die Grenzen und Gefahren Künstlicher Intelligenz. Die Titelfigur ist nämlich eine KF, eine Künstliche Freundin, die ein besonderes Verhältnis zur Sonne pflegt (die für sie männlich ist); und sie schreibt in ihrem Roboteralter ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit der Familie ihrer ‚Kundin‘ Josie aus der Ich-Perspektive nieder. Die Geschichte spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der für den begabteren Nachwuchs genetisches Enhancement zur Verfügung steht und reale Freunde eben durch KFs ersetzt werden. Eine Dystopie, könnte man meinen, eine Warnung vor den drohenden Gefahren der Entmenschlichung sozialer Beziehungen, in der Formen künstlichen Lebens nicht nur die Arbeitswelt übernommen haben, sondern nach und nach auch den Kernbereich des Intimen, die Familie infiltrieren! Aber so einfach macht es uns Kazuo Ishiguro nicht. Denn Klara, die Erzähl-Maschine, der beobachtende Automat, der mitfühlende Roboter, die perfekteste BFF aller Zeiten, bescheint das ganze Buch mit einer so herzlichen und kindlich-naiven Sonnenenergie, dass sie eigentlich die einzige wirkliche Identifikationsfigur in dem seltsam reduzierten Personenszenario ist.
Worum geht es also eigentlich wirklich in Klara und die Sonne, unter der milde dystopischen Oberfläche und jenseits der technischen Vision? Um nichts weniger als um das menschliche Herz und seine Komplexitäten; um die Seltsamkeit und Schwierigkeit menschlicher Beziehungen, die auf ein missverständliches Instrument wie Sprache angewiesen sind; und– aber das ist schon ziemlich weit unter der Oberfläche verborgen, selbst Klara bemerkt es kaum: Es geht natürlich auch um Männer und Frauen (na gut, vielleicht nicht das Hauptthema; aber wir sind hier bei schoengeistinnen.de, über den Rest dürfen die Anderen schreiben). Denn Klara ist eindeutig weiblich (es gibt auch Künstliche Freunde für Jungen). Der Laden, in dem sie verkauft wird, wird geleitet von „der Managerin“. Klaras menschliche ‚Kundin‘, die nach dem genetic enhancement schwer erkrankte Josie, ist weiblich; sie lebt zusammen mit „der Mutter“ und „Melania Haushälterin“ nach dem frühen Tod einer Schwester. Die einzige männliche Figur, die anfangs überhaupt auftaucht, ist Josies Freund Rick (nicht enhanced), der aber ebenfalls allein mit seiner Mutter lebt. Josies Mutter ist erfolgreich in ihrem Beruf; wohingegen der kaum erwähnte Vater (wir lernen ihn erst spät kennen), ein Wissenschaftler, seinen Arbeitsplatz an die Roboter verloren hat und nun in einer Art Widerstandskommune jenseits der Stadt lebt. Soziale Kontakte unter Jugendlichen werden gesteuert und auf ein Minimum reduziert und wozu braucht man schon Freunde, wenn man eine perfekte Künstliche Freundin kaufen kann, die einem jeden Wunsch von den Augen abliest?
Das ist übrigens in einem durchaus wörtlichen Sinn zu verstehen: Klara ist eine hochbegabte Menschenleserin – eben weil sie eine Maschine ist: unbelastet von eigenen Gefühlen, von Beziehungskonflikten, Wahrnehmungsverzerrungen, Wünschen und Eigeninteressen und programmiert auf vollständige Erfüllung der Wünsche und Sehnsüchte der ‚Kundin‘. Sie ist auch nicht nur einfach die wohlprogrammierte beste BFF aller Zeiten; sie ist gleichzeitig außerordentlich lernbegierig, geradezu welthungrig und dabei so selbstlos wie eine Heilige (nun ja, sie heißt ja auch Klara, vielleicht nicht direkt die falsche Assoziation). Klarer als Klara kann man nicht sehen; nicht offener, nicht wohlwollender, identifizierender, empathischer. „Die Mütter“ hingegen – nun, sie lieben ihre Kinder natürlich, sie lieben sie nur allzu sehr – sie wollen sie nicht verlieren, sie wollen das Beste, und bei der rücksichtslosen Verfolgung dieser Ziele verlieren sie die Kinder auf dem Weg oder verwechseln deren Bestes mit dem eigenen Besten oder einem nur eingebildeten allgemeinen Besten. Aber sie sind auch in ihrem Privatleben effizient, gnadenlos effizient, wie moderne Frauen es nun einmal sind, wenn sie in einem harten Berufsleben bestehen wollen. Diese ‚schöne neue Welt‘ ist zwar eine weibliche Welt geworden, aber sie ist nicht besser. Sie ist nur anders geworden. Enhanced, wenn man so will: technisch verbessert, aufgepeppt, durchrationalisiert. Die Männer sind derweil in den Widerstand abgedriftet oder verfolgen technologische Allmachtsphantasien. Oder sie kommen nicht über einen Jahrzehnte zurückliegenden Liebesverrat hinweg. Aber es ist ein wenig egal, sie spielen sowieso nur noch Nebenrollen (außer der Sonne natürlich, die männlich ist. Das ist ein harter Brocken!). It’s a woman’s world!
Rick immerhin, Josies echter, menschlicher, männlicher Freund, hat mit Josie eine andere Kommunikationsebene gefunden. In ihrer Krankheit ans Bett gefesselt, zeichnet Josie nämlich Figuren mit leeren Sprechblasen; und Rick stattet die Sprechblasen mit Worten aus, weil er weiß, was die Figuren denken. In dieser ganz speziellen Art der Verständigung sind Rick und Josie für eine kurze Zeitspanne tatsächlich eine Art gemeinsames Individuum geworden, ein Liebespaar noch durchaus jenseits des Geschlechtes – aber es ist eine nur kurz aufscheinende Jugendutopie, die der Roman in seinem Verlauf so sanft zerstört wie alle weiteren momentan aufleuchtenden utopischen Momente. Gibt es die Liebe überhaupt, so fragt sich nicht nur Klara? Für Momente, sicherlich; aber danach gibt es Abnutzungserscheinungen, Anpassungszwänge, Gewohnheiten und niemals vernarbende Wunden. Oder, anders und fundamentaler gefragt: Gibt es das menschliche Herz, dieses angeblich so hochkomplexe Organ der Seele, für ewig unzugänglich noch für die empathischste Maschine, auch wenn sie sich gegenüber der Sonne zu einer Art Glauben aufschwingt und die Hoffnung nie verliert? Verschiedene Figuren bieten verschiedene Antworten auf diese zentrale Frage an. Die Männer antworten tendenziell anders darauf als die Frauen, aber wir sind keine spoiler des eigenen Denkens hier. Und am interessantesten, so viel sei verraten, ist sowieso Klaras Antwort: weil sie so viel heller sieht. Ob das nun eine dystopische oder eine utopische Perspektive ist, verschwimmt derweil im Dämmerlicht der untergehenden (immer noch männlichen) Sonne. Vielleicht ist es auch von Anfang an die falsche Frage gewesen.
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