Sie war lange Zeit lang die meistverkaufte literarische Autorin aller Zeiten (generisches Femininum, also: männliche Autoren inbegriffen). Eines ihrer Theaterstücke lief beinahe siebzig Jahre lang auf der gleichen Bühne, erst Corona machte dem Rekord ein Ende. Sie ist auch die meistübersetzte Autorin (generisches Femininum, siehe oben). Sie erhielt zwar niemals den Nobelpreis, aber wurde für ihr Werk geadelt. Ihre bekanntesten Werke wurden bis heute unzählige Male verfilmt, mit den bekanntesten Schauspielern und Schauspielerinnen in den Titelrollen. Sie war nicht J.K. Rowling.
1. Leben
Ihr Leben war gleichzeitig konventionell und unkonventionell, in einigen Zügen eine klassische Autorinnengeschichte, in anderen nicht. Ihre Jugend hat sie selbst als glücklich bezeichnet (eher ungewöhnlich, nicht nur für männliche Autoren), sie wuchs in einer wohlhabenden Familie auf und wurde zuhause unterrichtet. Außergewöhnlich früh konnte sie schon lesen, und sie verschlang, wie noch jede Autorin von Weltrang, alles, was sie in die Finger bekommen konnte. Als der Vater starb, wurde sie zur Politur ihrer Ausbildung in ein Mädchenpensionat nach Paris geschickt; zu diesem Zeitpunkt wollte sie noch Pianistin oder Opernsängerin werden, aber sie fand schnell heraus, dass ihr dafür sowohl die Energie als auch das Talent fehlten. Mit ihrer kränkelnden Mutter verbrachte sie einen Winter in Ägypten, was später der Schauplatz einiger ihrer erfolgreichsten Texte werden sollte. Als sie selbst nach einer Krankheit das Bett hüten musste, schrieb sie ihre erste Kurzgeschichte. Sie wurde von Zeitschriften und Verlagen abgelehnt, wie alle ihre ersten schriftstellerischen Versuche, auch diejenigen, die sie unter männlichem Pseudonym einreichte. Aber sie ließ sich nicht abschrecken. Sie nahm aber auch eifrig am gesellschaftlichen Leben teil, tanzte auf Bällen, ging Reiten, Jagen und Rollschuhfahren und lernte, wie üblich, bei einer dieser Gelegenheiten ihren ersten Mann kennen. Das junge Paar heiratete bald, er musste in den Krieg ziehen; sie arbeitete als ungelernte Krankenschwester und später als ausgebildete pharmazeutische Assistentin im lokalen Krankenhaus, wo sie auch Flüchtlinge aus einem Nachbarland betreute. Beinahe gemeinsam mit dem ersten (und einzigen) Kind, einer Tochter, kam endlich die erste Verlagszusage; von da an hatte sie keine Probleme mehr, ihre weiteren Werke mehr zu verkaufen. Es folgte eine zehnmonatige Weltreise im Dienst ihres Landes durch Südafrika, Australien, Hawai und Kanada, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Surfen lernte (im Stehen! Die Einheimischen kamen aus dem Staunen gar nicht wieder heraus!); die Tochter blieb derweil daheim bei der Großmutter.
Dann kam der Einschlag, der ihr Leben in zwei Hälften teilte: Ihr Mann verlangte die Scheidung, er hatte sich in eine andere Frau verliebt. Sie verschwand, einfach so. Die Zeitungen machten eine große Geschichte daraus, es wurden Belohnungen ausgesetzt; man vermutete eine Werbeaktion, damit sich ihre Bücher noch besser verkauften. Es war aber wohl einfach nur ein Nervenzusammenbruch; ihr Leben lang hat sie beteuert, sich an diese knapp zwei Wochen, an deren Ende die in irgendeinem Hotel auftauchte, nicht erinnern zu können: blackout, und damit genug davon. Die Scheidung wurde dann durchgezogen, zur Erholung reiste sie mit einer Tochter (sie hatte das Sorgerecht erhalten) auf die Kanaren. Ihren zweiten Mann lernte sie wenig später auf einer Reise mit dem Orientexpress nach Baghdad kennen; er war Archäologe, und später hat sie ihn häufig auf seinen Expeditionen begleitet (alles wunderbare Schauplätze für ihre Werke). Es kam der nächste Krieg, wieder arbeitete sie in der Apotheke; es kamen ruhige Tage, Wohlstand, das Landhaus, der Adelstitel; es kamen Alter und Krankheit und ein ruhiger, langsamer Tod, den sie schreibend erwartete. Ihr Leben lang hat sie Lärm nicht gemocht, Menschenmengen, den Geschmack von Alkohol und den Geruch von Zigaretten, moderne Massenmedien; sie ist gern gereist, mochte die Sonne, Blumen, Sport, Theater, das Klavier, Garten- und Handarbeiten. Bei ihrem Tod wäre sie nach heutigen Maßstäben eine Millionärin gewesen; sie war auf jeden Fall zu ihrer Zeit die bestbezahlte novellistische Autorin weltweit. Einen Teil ihres Vermögens hinterließ sie den zwei Gruppen, für die sie sich besonders eingesetzt hatte, nämlich Kindern und alten Menschen.
Sie war nicht J.K. Rowling. Aber vielleicht ist es von nicht ganz geringem Interesse für schoengeistinnen.de, dass die bestverkauften und meistgelesenen Autorinnen weltweit bis heute – beides Frauen waren.
2. Figuren
Von besonderem Interesse für schoengeistinnen.de ist auch, dass ihre beiden berühmtesten Figuren eine Frau und ein Mann sind. Sie treten niemals gemeinsam auf, ihre Erfinderin hat das sogar energisch abgelehnt: Viel zu gegensätzlich seien die beiden, geradezu Antithesen, und gemocht hätten sie sich ganz sicherlich nicht! Entsprungen sind sie jedoch einem Kopf, einem weiblichen; schon das sollte einen misstrauisch machen: Ob es nicht doch einige verborgene Gemeinsamkeiten gibt?
Beginnen wir mit dem Mann, er war auch ihre erste literarische Schöpfung. Er war – ein Flüchtling, so wie sie sie bei ihrer Arbeit während des Krieges kennengelernt hatte; ein hochzivilisierter, ja geradezu überzivilisierter Flüchtling, mit untadeliger Kleidung, verfeinertem Geschmack, künstlerischen Neigungen und – einem messerscharfen Verstand unter dem Eierkopf. Immer jedoch blieb er ein wenig fremd in seiner neuen Heimat, auch während er seiner Arbeit nachging (er hatte schon eine Karriere aufgeben müssen, der Flucht wegen) und ein gewisses Maß an Berühmtheit erlangte. Er entwickelte und kultivierte charmante sprachliche Eigenheiten, indem er die Mutter- mit der Zweitsprache mischte; er bewahrte sich eine gelegentlich skeptische Distanz zu den seltsamen Gebräuchen und Sitten seiner neuen Heimat, ohne jedoch die hochsensible Nase über sie zu rümpfen (außer, es ging um Essen. Dann schon). Seine Fälle löste er vor allem mit dem messerscharfen Verstand: „method and order!“, war sein selbstgewählter Leitspruch, und seine „little grey cells“ waren sein kostbarstes Eigentum. Daneben jedoch war er nicht nur ein Menschenkenner und geborener Psychologe, trotz oder gerade wegen seiner Distanz und Integrationsresistenz; nein, er achtete die Menschen, obwohl er sie bei seiner Arbeit von ihren schlimmsten Seiten kennenlernte, immer noch. Er hörte jedem und jeder mit besonderer Aufmerksamkeit zu und benahm sich mit dem kleinsten Dienstmädchen, als sei sie die größte Lady (und gelegentlich umgekehrt). Und wenn er dann mit nicht nur jahrelang eingeübter Grazie, sondern mit wahrem Gefühl den runden Hut zog, beim Gehen oder Kommen, in einem perfekten Bogen – dann fühlte jede und jeder sich einmal nur über sich selbst erhoben, wahrhaft und nicht nur auf dem Papier: gewürdigt. Im Übrigen war er kein Fan von Teamarbeit oder Fußarbeit, das überließ er anderen. Aber ab und zu brauchte er die Inspiration des ganz Normalen, des gedankenlos Dahingesagten von anderen, minder Begabten, die erheblich weniger kleine graue Zellen hatten. Und dann blitzte es in seinen dunklen Augen, das Wunder hatte sich vollzogen, und er sagte, mehr oder weniger: ‚Wie konnte ich nur so dumm sein, so blind, so verbohrt!‘ Wir alle hätten es sehen können. Aber nur er hatte es gesehen, der Flüchtling, der Fremde, der Sonderling mit dem Hut und dem Stock und den altmodischen Gamaschen an den Schuhen. War er jemals jung gewesen?
Und das ist schon das erste, was er mit seinem weiblichen Gegenpart gemeinsam hat: Sie kommt schon alt auf die literarische Welt. Einige Jahre nach ihm bekommt sie ihre Geschichten, es werden auch niemals ganz so viele wie bei ihm (am Ende ging er sogar seiner Autorin auf die Nerven mit seinen Manierismen und seiner Arroganz; sie ließ ihn ein wenig menschlicher werden, schickte ihn in einen Ruhestand, den er nicht ertrug, und ließ ihn dann bei der Arbeit sterben). Im Gegensatz zu dem weltläufigen Flüchtling und gebildeten Mann ist sie eine alte Jungfer (so die stehende Formel bei ihrer Beschreibung, ein, in Englisch klingt das noch irgendwie böser, ein „spinster“). Sie lebt in einem winzigen Dorf, wo jede jeden kennt, und sie kennt alle noch ein wenig besser, nämlich schon sehr lange und sehr von innen. Sie hat alle Geschichten gehört, alle Babys aufwachsen gesehen, alle Affären und Intrigen mit durchlitten; sie kennt den Pfarrer und den Arzt und den Landadel, und mehr muss man nicht kennen, wenn man verstehen will. Denn in ihrem kleinen Dorf (oder den anderen beschaulichen Schauplätzen; kein Ägypten, kein Baghdad, und der Zug fährt immer nur bis Paddington) passiert das gleiche wie in der Welt dort draußen; nur eben in einem anderen Maßstab. Und man sitzt da in seinem gemächlichen Alter, trägt immer die gleiche Strickjacke, immer die gleichen plumpen Altfrauenschuhe, immer einen ähnlichen Hut; man pflegt seinen Garten und strickt wieder ein Jäckchen, mal hellblau, mal rosa; und die Welt kommt zu einem, man muss sich gar nicht bewegen. Niemals hat sie sich aufgespielt, obwohl sie mindestens genauso viele kleine grauen Zellen hat wie ihr ungleicher Partner; und niemals hat auch sie dazugehört, ganz dazugehört, ganz genauso wie ihr ungleicher Partner. Immer ist man die schrullige Alte gewesen, die einen etwas zu scharfen Blick hat und unverständliche Sätze vor sich hinmurmelt und allen auf die Nerven geht und dann auf einmal wieder mit einer völlig entlegenen und vergessenen Dorfgeschichte herausrückt, die niemand hören will und die schon lange vergessen ist. In ihr aber liegt der Schlüssel zur Lösung des Falls, nämlich: das sich selbst so ähnliche menschliche Verhalten, sei es im Pfarrhaus oder im Pferdestall, beim Adel oder in der Küche – alles nur eine Frage des Maßstabes und der Lebenserfahrung, die es erlaubt, Ähnlichkeiten dort zu sehen, wo andere nur unbedeutende Zufälle und unnütze Details sehen. Es sind die kleinen Dinge, immer die kleinen Dinge, die am Ende zur Erleuchtung und zum Aufblitzen der hellen alterweisen Augen führen, und sie bricht aus in den Satz: ‚Wie konnte ich nur so dumm sein, so blind, so verbohrt!‘ Methode und Ordnung braucht sie dafür nicht. Aber natürlich benutzt sie sie heimlich doch, denn ohne Methode und Ordnung nützen die schönsten Assoziationen der Welt nichts; genauso wie ihr männlicher Gegenpart niemals zugeben würde, dass er massiv mit Assoziationen arbeitet, ohne die alle Methode und Ordnung wertlos sind.
Zwei Gehirnhälften, das sind sie, die jedoch aus der gleichen Wurzel erwachsen; zwei immer etwas Fremde in einer kleinen oder einer großen Welt, die nur durch ihren fremden, analytischen und gleichzeitig respektvollen Blick das sehen, was alle anderen wieder übersehen haben, die Guten wie die Bösen. Und vielleicht ist das das besondere Erfolgsgeheimnis, die geheime Zutat, die ihrer Erfinderin den Weltruhm und den bleibenden Verkaufserfolg und nicht zuletzt die Beliebtheit bei allen Arten von Leserinnen und Lesern gesichert hat: die Menschen in all ihren Spielarten zu kennen und sie trotzdem, irgendwie, unerklärlicherweise, nicht notwendig: zu lieben, aber: zu respektieren (wie J.K. Rowling, die sie nicht ist).
Die Auflösung an gleicher Stelle demnächst!
Wer mitraten möchten: Es gibt auch einen kleinen Überraschungspreis (und einen Trostpreis für falsche, aber erhellende und unterhaltsame Vorschläge!
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