Über Juli Zehs neuen Roman Über Menschen (2021)
Juli Zehs neuer Roman Über Menschen rangiert derzeit auf Platz 2 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste (Stand Juli 2021). Kein Wunder, denn der Roman kommt sprachlich und stilistisch leicht daher. Die Wucht des Textes trifft einen darum um so überraschender: der Roman lässt festgefahrene Weltbilder der Leser*innen überdenken oder sogar ins Wanken geraten. Es ist nicht nur, aber auch ein politischer Roman, der gekonnt und ohne nervige Moralkeule für mehr Verständnis, Kommunikation und Menschlichkeit in unserer Gesellschaft wirbt.
Worum geht es? Dora ist 36 Jahre alt, lebt in Berlin und ist in der Werbebranche tätig. Sie ist erfolgreich und arbeitet fast rund um die Uhr. Mit ihrem Freund Robert wohnt sie in einer 80 Quadratmeter großen Wohnung zusammen – alles scheint perfekt zu sein. Doch Corona funktioniert wie eine Taschenlampe: Das neue coronakonforme Leben fokussiert die Defizite. Homeoffice, das Treffen mit Verwandten statt mit Freunden und eine extremer werdende politische Haltung Roberts lassen die 80 Quadratmeter schnell zu eng werden. Robert fühlt sich von anderen Lebensentwürfen und politischen Haltungen provoziert, die nicht der seinigen entsprechen. Von Dora erwartet er absolute Loyalität gegenüber seiner klimapolitischen Einstellung, seinem coronakonformen Leben und seiner Abneigung gegenüber Elternschaft. Doch Dora möchte seine Haltungen zumindest gerne diskutieren. Es kracht. Dora flieht aus der Enge der Wohnung und aus der Enge der Stadt. Sie kauft sich kurzerhand ein Haus – eine romantische Bruchbude – im fiktiven Dorf Bracken (das an ‚Baracke‘ erinnert) in der Prignitz. Sie will Abstand gewinnen, um sich selbst wiederzufinden. Schließlich hatte Dora sich zuvor mit hohem Engagement für ihren Job hauptsächlich von sich selbst abgelenkt. Nun merkt sie, dass sie zunehmend nicht mit den Menschen und Ansichten um sie herum klarkommt. Ihr steigen Bläschen in der Magengrube auf, die schließlich im Kopf zu explodieren scheinen.
Das Politische im Roman
Was Juli Zeh hier meisterhaft darstellt, ist die zunehmende Unfähigkeit in unserer Gesellschaft, politisch zu diskutieren und verschiedene Lebensstile zu respektieren. Der Roman ist in einer personalen Erzähltechnik konstruiert, die sich auf Dora fokussiert. Die Leser*innen erleben mit, wie Doras Weltbild ins Wanken gerät, wie sie mit ihrer eigenen Haltung hadert und sich zwischen Selbstgerechtigkeit und kritischer Selbstreflexion bewegt. Um sich herum beobachtet sie, dass Meinungen absolut gesetzt, andere Meinungen nicht mehr akzeptiert werden. Eine ‚Haltung’ zu gewissen Themen zu haben, scheint chic zu sein, hilft aber meistens wenig weiter. Zwischen den Zeilen schwebt ihre Einsicht, dass es besser wäre, einander Gehör zu schenken und zumindest zu versuchen, sich gegenseitig zu verstehen. Dora leugnet beispielsweise nicht den Klimawandel, doch sie stören sowohl die unversöhnlichen Worte der Fridays-for-Future-Bewegung als auch Menschen wie Robert, die sich in ihrer grünen, linksliberalen Blase für etwas Besseres halten.
Schließlich mangelt es ihr nicht an Überzeugung. Natürlich hält sie den Klimawandel für ein schwerwiegendes Problem. Was sie lähmt ist die Ansprache. „How dare you“ statt „I have a dream“. Statt über Temperaturziele zu streiten, sollte man sich ihrer Meinung nach lieber auf das Wesentliche konzentrieren – das Ende des fossilen Zeitalters, welches sich nicht erreichen lässt, indem man die Bürger besser erzieht, sondern nur durch einen Umbau von Infrastruktur, Mobilität und Industrie. Dass Robert im Angesicht dieser Aufgabe stolz darauf ist, kein Auto zu fahren, kommt ihr merkwürdig vor.
(…) Und wo war die klare Faktenlage, auf die sich Robert immer bezog? Lebte ein Pendler, der mit seinem SUV ins Büro gondelt, wo er gemeinsam mit seinen Kollegen verköstigt, beheizt und beleuchtet wurde, am Ende vielleicht nicht CO2-effizienter als ein Freiberufler in Berlin-Kreuzberg, der zwar Fahrrad fuhr, aber in seinem Miniaturhaushalt täglich drei Mahlzeiten zubereitet, von früh bis spät Musik streamte und seine Wohnung für eine Person hell und warm machte? War Baumwolle wirklich besser als Plastik? Wer war klimaneutraler, ein Aktivist, der quer durch Europa zu Demos fährt, oder eine uneinsichtige Oma, die zwar auf Mülltrennung verzichtet, aber noch nie im Leben ein Flugzeug bestiegen hat? Was war aus der Gewissheit geworden, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt, weshalb an allem gezweifelt, über alles gesprochen und gestritten werden muss? Dora verstand nicht, woher Robert das sichere Gefühl für die Überlegenheit seines Lebensstils nahm. Sie kam da nicht mit.
In Bracken wird Dora mit anderen Lebensstilen konfrontiert. Sie versteht nun, wie schwierig die Infrastruktur und Mobilität auf dem Dorf ist, mit wie wenig Geld eine alleinziehende Mutter klarkommen muss und wie aufreibend das Leben auf dem Land für diese Menschen teilweise ist. Sie trifft auf Menschen, auf die sie in Berlin vermutlich eher weniger gestoßen wäre. Ihr Nachbar stellt sich ihr als „der Dorf-Nazi“ vor. Hin und wieder singt er auch gemeinsam mit seinen Freunden das verbotene Horst-Wessel-Lied. Dora ist schockiert, doch sie muss auch mit ihrem Nachbarn klarkommen. Und an dieser Aufgabe wächst die Protagonistin. Die Verbindung von Dora und dem Dorf-Nazi wird zum Kern der Geschichte.
Meinung und Menschlichkeit
Doras Nachbar Gote ist ein Nachbar, den sich auf den ersten Blick niemand wünscht: Er ist rechtsradikal, bereits vorbestraft und macht Dora Angst. Ihre Familie hatte sie gewarnt, dass es in der Provinz viele Rechtsradikale gebe, aber sie wollte es nicht glauben. Nun hat sie den Dorf-Nazi direkt nebenan.
Dora bietet Gote in vielen Punkten die Stirn, sie ist eine weltoffene und klimabewusste Frau. Doch sie spricht Gote nicht die Menschlichkeit ab. Denn hinter all dem, was Dora an Gote hasst, ist er auch ein Mensch, den sie mögen kann: Der Dorf-Nazi ist ein liebender Vater, schnitzt wunderschöne Holzfiguren und ist hilfsbereit mit viel handwerklichem Geschick. Juli Zeh zeigt an der Entwicklung der besonderen Form von Nachbarschaftshilfe zwischen Dora und Gote, dass es das absolut Böse und das absolut Gute nicht gibt.
Als Dora eines Tages mit ihrem Nachbarn zum Dorffest geht, formuliert Juli Zeh meiner Meinung nach einen Schlüsselsatz: Es gelingt ihr (Dora) einfach nicht, eine Haltung zu finden. Vielleicht, denkt Dora, ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachten kann.
Juli Zeh kritisiert damit auch die Vorurteile der Städter, die sich oftmals kopfschüttelnd über das Leben und die Meinungen der Provinzler lustig machen. Sie wirbt für mehr Verständnis füreinander, ohne dass sie an irgendeiner Stelle rechtsradikale Gesinnungen beschönigend darstellt. Aber: Aus dem rechtsradikalen Mob kristallisiert sie den mitunter auch sympathischen Pöbel heraus. Und miteinander im Gespräch zu bleiben, ist immer noch der beste Weg, unsere Demokratie lebendig zu halten – so der Tenor des Buches.
Genialer Clou beim Titel des Buches
Der Titel des Buches ist klug gewählt. Er schließt zum einen begrifflich an Juli Zehs Roman Unterleuten an. Während Unterleuten jedoch ein Dorf ist, das sich aller Wahrscheinlichkeit nach unweit von Bracken befindet, so geht Juli Zeh in der Wahl des Titels in diesem Roman einen Schritt weiter. Über Menschen erinnert sprachlich auch an Nietzsches philosophische Idee des ‚Übermenschen‘, die er in Also sprach Zarathustra entwickelt. Während Nietzsche damit eigentlich einen geistigen Zustand des Menschen meinte, der den ‚Tod Gottes‘ überwindet, nutzten die Nationalsozialisten den Begriff für die angebliche biologische Überlegenheit der Arier.
Innerhalb Juli Zehs Roman befindet sich auch das titelgebende Kapitel Über Menschen, das weiteren Aufschluss gibt. Hierin schaut Dora heimlich Steffen bei einer YouTube-Aufnahme zu. Steffen ist ein homosexueller Kabarettist aus Berlin, der mit seinem Freund in Bracken wohnt. Dora beobachtet ihn beim politischen Kabarett vor der Heim-Kamera, als er sich über die Rechtsradikalen auf dem Land und vor allem über ihren Nachbar Gote auslässt. Dora stimmt ihm zwar einerseits in seiner politischen Haltung zu, kann aber seine Wortwahl und seine Unversöhnlichkeit kaum aushalten, wenn er formuliert:
Besorge Bürger / Eure Dummheit muss grenzenlos sein (…) Vor siebzig, achtzig Jahren. Da wart ihr Übermenschen. (…) Heute sitzt ihr am Campingtisch. Hinter euch der Bauwagen, vor euch ein warmes Bier. (…) Übermenschen im Unterhemd. (…) Ihr unterbelichteten Oberchecker seid aussortiert. Beim Survival nicht die Fittesten gewesen. Der Übermensch ist Unterschicht. Wenn das kein Treppenwitz der Geschichte ist! Lacht doch mal! Zum Schießen seid ihr, Schießbudenfiguren, die bald abgeschafft werden, endgültig beiseite geräumt von der neuen Zeit. Trinkt euer Dosenbier, während ihr auf die Abholung wartet – durch die Müllabfuhr der Geschichte!
Dora ist fassungslos wegen der Aggressivität in Steffens Worten. Sie entgegnet ihm später mit einem Batman-Zitat: „Die größte Gefahr im Kampf besteht darin, dem eigenen Feind immer ähnlicher zu werden.“ Steffen hält sich – ähnlich wie Robert – für etwas Besseres. Für ‚Übermenschen‘ sollten sich jedoch weder Links- noch Rechtsradikale halten. Keiner ist dem anderen in irgendeiner Form grundsätzlich überlegen. Gesellschaft funktioniert nur im Miteinander statt im Gegeneinander. Der Roman plädiert damit für ein miteinander sprechen anstatt eines übereinander reden. So gelesen gelingt Juli Zeh ein genialer Clou bei der Wahl des Titels – es grenzt beinahe an politisches Kabarett!
Juli Zeh: Über Menschen
Luchterhand Verlag
416 Seiten, Hardcover
22 Euro
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