Zu Siri Hustvedts neuem Roman Damals
Virginia Woolf ist unser aller Heldin. Sie ist unser Homer, unser Vergil, unser Goethe, unser Joyce, unser Proust. Sie ist, sagen wir es ruhig mit allem Mut zur drastischen und gelegentlich nötigen Vereinfachung: die erste schreibende Frau, die es wirklich geschafft hat. Und jeder Schreibende, vor allem aber: jede Schreibende braucht solche Figuren. Es ist ein mühsames Geschäft, das Schreiben, nein: Es ist ein müh-seliges Geschäft, und gelegentlich braucht man Ermutigung, Anerkennung, Resonanz und ein Vorbild. Virginia Woolf hat es geschafft (und wir vergessen für einen Moment ihr tragisches Ende). Sie war nicht nur erfolgreich wie ein Mann mit ihren Büchern, nein: Sie hat wie ein Mann geschrieben, nämlich: über alles und nicht nur über ‚Frauenthemen‘; sie hat geschrieben über Geschichte, Literatur, Kunst und das Leben in all seinen Gewändern und Räumen. Und sie hat Kunststücke gemacht in der Literatur, die noch niemand vor ihr gemacht hat, sie war experimentell, innovativ und originell und gleichzeitig – das ist das größte Kunststück von allen! – lesbar. Interessant. Existentiell. Überraschend (und höchstens ein ganz klein wenig verbittert darüber, eine Frau zu sein).
Aber dies ist kein Artikel über Virginia Woolf, es ist ein Artikel über eine Frau, die das Potential hat, ihre würdige Nachfolgerin zu werden. Sie schreibt seit ihrer Kindheit; sie schreibt nicht nur über Literatur, Kunst und das Leben, sondern auch über Philosophie, Psychoanalyse und Wissenschaft; sie schreibt gelegentlich literarisch, gelegentlich essayistisch, gelegentlich wissenschaftlich. Vielleicht ist sie nicht ganz so innovativ wie Virginia Woolf, aber, seien wir ehrlich: Wer heute noch etwas ganz Neues schaffen wollte in der Literatur – sie müsste auf dem Mond geboren sein und eine Mondsprache haben. Siri Hustvedt jedoch, um nun endlich den Namen zu verraten, schreibt wie Virginia Woolf: außerordentlich lesbar, immer interessant, mit großer Souveränität und Disziplin, mit einem wunderbar weiblichen Humor und tiefem philosophischem Ernst, alles genau da, wo es am Platz ist (und leider, leider – weil eigentlich unnötig – immer noch ein wenig verbittert darüber, eine Frau zu sein).
Das alles wissen wir Leserinnen der amerikanischen Autorin Siri Hustvedt längst. Mit gesetzen 64 Jahren kann sie auf eine ausgewachsene Autorinnen-Karriere zurückblicken (ihr Mann ist übrigens der Schriftsteller Paul Auster, von dem es einmal heißen wird, er sei der Ehemann von Siri Hustvedt gewesen), und soeben ist ihr achter Roman in deutscher Übersetzung erschienen. Memories of the Future heißt er im Originaltitel, in der deutschen Übersetzung heißt er leider: Damals – und das ist nun ein ziemlicher Fehlgriff! Damals, das lässt an eine biedere Biographie denken: Die Autorin schaut mehr oder weniger nostalgisch auf ihre Jugend zurück, und wir lehnen uns alle entspannt zurück und denken an unsere eigene Jugend – aber so funktioniert dieses Buch nicht, zum Glück. Es erzählt gerade nicht nostalgisch, erinnernd, objektivierend aus gebührender historischer Distanz, und wenn der Übervater Goethe eher damit kokettiert hatte, dass in einer Autobiographie Dichtung und Wahrheit sowieso niemals unterscheidbar seien, dann führt Siri Hustvedt vor, was das genau bedeutet, sowohl für das Erzählen als auch für das Erinnern.
Es bedeutet, zum Beispiel und zum Ersten, dass die Zeitfolge – des Erzählens wie des Erinnerns – außer Kraft gesetzt wird: Der Roman spielt zwischen und mit den Zeiten, unberechenbar hin- und zurückspringend zwischen Kindheit, Jugend, Alter und allem dazwischen, und gelegentlich springt er sogar mit einem kleinen Salto über die Zeit selbst hinweg! Denn die besondere (und von der Übersetzung geradezu grandios verfehlte) Pointe liegt eben darin, dass es eigentlich keine „Erinnerungen aus der Zukunft“ geben kann – jedenfalls, solange man die Zeit als brav fortschreitende und nie aus dem Tritt geratene überdimensionale Uhr betrachtet, die höchstens anlässlich der Sommerzeit (welch Skandal!) einmal ihren gewohnten Gang verlässt! Das aber, so kann man bei der Lektüre von Hustvedts neuem Roman lernen, ist eine sehr naive Annahme. Denn mit der Zeit ändern wir selbst uns zwar, aber nicht nur in eine Richtung, genauso wenig wie die Zeit. Nein, jeden Tag erzählen wir uns eine neue Geschichte von uns selbst, bestehend aus Erinnerungen, Fiktionen und Wunschbildern; aber jeder Rückblick überformt die Erinnerung, und die Erinnerung überformt unser zukünftiges Selbstbild, und nichts ist stabil, unveränderlich, festgesetzt, vor allem nicht ein Ich. Alles ist im Fluss in unserem Kopf. Was bleibt aber – stiftet die Dichterin (um Friedrich Hölderlin zu paraphrasieren): viele Geschichten.
Denn das ist die zweite Lektion – nein, nicht Lektion: die zweite wichtige Erfahrung, die Memories of the Future vermittelt: Es gibt keinen sauberen, einfachen, belegbaren Unterschied zwischen Gedächtnis und Erfindung, zwischen Tatsachen (haben nachweisbar stattgefunden, sind im Gedächtnis abgelegt und können, wenn man nur ein wenig den Staub davon wegpustet, wieder genauso abgerufen wurden wie sie abgelegt wurden – nein, leider nicht) und Fiktionen (kommen aus dem Nichts herbeigeflogen, wenn die Autorin sie ruft, haben nur Federn und kein Blut und nichts mit dem Leben zu tun – nein, auch nur ein Gerücht). Vielmehr ist es nicht nur so, dass (gute) Literatur immer deutlich autobiographische Spuren hat; es ist noch viel schlimmer: Die Fiktion schlägt auch auf das Leben zurück, und nirgends kann man das deutlicher sehen als in Siri Hustvedts Memories. Denn die Erzählerin lebt ihr Leben als junge Autorin in New York (faktisch, autobiographisch, Parallelen zu Hustvedts eigenem Leben sind überdeutlich) nach literarischen Mustern: Ihr Kopf ist ein großer Büchersaal, ausgestattet mit verehrten, meist männlichen Idolen, die sie nun gelegentlich auf der Straße trifft (was selten gut tut, das Buch ist neben einer Bildungs- auch eine Desillusionierungsgeschichte über den zweifelhaften Wert großer Männer). Und sie versucht gleichzeitig, ihr eigenes Leben zu Literatur zu verarbeiten. Aber wenn sie später, als gereifte Erzählerin, auf ihr früheres Leben und auf ihre damals im Tagebuch festgehaltenen Geschichten zurückblickt, erscheinen beide untrennbar ineinander verschlungen: Jede Erzählung einer Erinnerung verändert die Erinnerung, jede veränderte Erinnerung verändert wiederum die Erzählerin selbst – Wechselwirkungen, wenn man ein technisches Wort dafür braucht, sind unvermeidlich, und genauso wenig wie es eine einsinnige Zeit gibt, gibt es ein einsinniges Verhältnis von erlebtem Leben und erfundenen Geschichten.
Die Autorin hat deshalb ebenso wenig vollständige Gewalt über ihr Leben wie über ihre Geschichten: Sie will einen Detektivroman schreiben, und unter der Hand wird er einem zu einem Familienroman, weil die weibliche Nebenfigur auf einmal die Hauptfigur werden will und die männliche an die Wand spielt. Man will eine psychologische Geschichte über die Persönlichkeitskrisen der Nachbarin konstruieren, die man in ihren endlosen Monologen belauscht hat, durch die Wand, mit dem väterlichen Stethoskop (sagte ich schon, dass sich Siri Hustvedt mit Psychoanalyse auskennt?); aber in einer unerwarteten Wendung wird eine Art komischer Hexentanz daraus, und die Erzählerin selbst muss mittanzen, ob sie will oder nicht. Und so lernt Frau, was schon Virginia Woolf wusste: Geschichten haben einen Eigensinn, je lebendiger sie werden, desto stärker entwickeln sie eine Eigendynamik, gelegentlich auch gegen die Intentionen ihrer Erzählerin (nur tote Geschichten verlaufen vorhersehbar). Und umgekehrt: Wer sich selbst beim Erzählen nicht ständig häutet und erneut, hat nicht ernsthaft genug erzählt. „SH“, der durch den Text geistert, ist Siri Hustvedt ist Sherlock Holmes ist der ‚Standard Heroe‘; aber eigentlich ist er alles in einem und es gibt gar keinen ‚Standard Hero‘, sondern nur – Verwandlungen (Ovid, sollte man vielleicht erwähnen für die Ahnengalerie, hätte sich durchaus wohlgefühlt in diesem Buch).
Im Übrigen werden geübte Hustvedt-Leserinnen in diesem „portrait of the artist as young woman“ viele Motive und Erzählstrukturen ihrer bisherigen Romane wiedererkennen (er liest sich ein wenig wie der Sommer ohne Männer, in der Zeit transponiert). Es ist schon fast, und das verhehlt die Erzählerin selbst nicht, ein Alterswerk, von gereifter Weisheit, geübter Technik, aus einer größer werdenden Distanz, die auch zur Selbstironie befähigt. Deshalb ist es vielleicht nicht ganz so leicht lesbar wie ihre früheren Romane. Es gibt eine Fülle von gelehrten Anspielungen: Wittgenstein, Bergson und Einstein laufen ebenso durchs Bild wie Laurence Sterne und Marilyn Monroe, Emma Bovary und Don Quixote, Sherlock Holmes und Paul de Man; besonders gewürdigt werden aber schreibende und denkende Frauen, Vorbilder, wie Christine Pisan, Simone Weil, Anne Conway und die tatsächlich nicht erfundene Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven. Es gibt Geschichten, die abbrechen, obwohl man wirklich gern wüsste, wie sie weitergehen; aber das Buch hat keinen großen Bogen, denn es sind eben – Memories of the Future, und als solche können sie kein Ende haben, kein zeitliches, kein inhaltliches, kein endgültiges. Einige von Hustvedts Zeichnungen tanzen durch das Buch, und man wünschte sich, es wären mehr davon, so leicht und ironisch schweben sie über den Worten. Und eines der großen erzählerischen Leitmotive ist – ein sehr kleines, das Pfeifen nämlich; denn von Tristram Shandy, einem der selbstironischsten Helden des 18. Jahrhunderts, hat die Autorin gelernt, dass Schreiben ist, als würde man sich selbst ein Liedchen pfeifen; es kann hoch oder tief sein, trivial oder ernst, harmonisch oder dissonant für fremde Ohren, egal: Hauptsache, man ist dabei mit sich selbst – im Einklang. Dann kann man auf den Rest auch pfeifen.
Und so pfeift Siri Hustvedt sich selbst ein Liedchen; mal sophisticated, mal aggressiv (es gibt existentiellen Hunger in diesem Buch, es gibt MeToo und Donald Trump), mal kindlich (es gibt demente Mütter und verletzende Väter), mal vertrauensvoll und optimistisch (es gibt den Idealismus der Jugend und seine Verwundbarkeit). Eine Geschichte beginnt und mäandert in die nächste, ein Raum öffnet sich und ein anderer schließt sich, und es sind – eigene Räume, so wie sie sich Virginia Woolf erhofft hatte, für sich selbst und für alle schreibenden Frauen nach ihr. Nicht nur ein, sondern endlose viele rooms of her own. All diese Räume abschreitend summt eine Autorin ihr Lied. Es ist unverkennbar, und wir hoffen, sie noch lange zu hören.
Inhalt (Verlagstext)
Eine junge Frau bezieht ein winziges Zimmerchen im heruntergekommenen Morningside Heights. Das Jahr ist 1979, und S.H. kommt direkt aus der amerikanischen Provinz; daher ihr Spitzname: „Minnesota“. Das wilde New York lockt, und sie, die Schriftstellerin werden will, genießt den Schmutz wie den Glanz, das turbulente Leben wie die Einsamkeit. Alles Neue saugt sie begierig in sich auf. So auch, durch die papierdünnen Wände zur Nachbarwohnung, die oft skurrilen Monologe und gesungenen Mantras ihrer Nachbarin: Lucy Brite, liest sie auf dem Klingelschild. Doch mit der Zeit wünscht sie, sie hätte nicht so genau hingehört. Immer dringlicher werden Lucys Gesänge, immer klagender. Von Misshandlung ist die Rede, von Gefangenschaft, von Kindstod, ja von Mord. Nach und nach wird die Nachbarin zu einer immer schrecklicheren Obsession. Bis eines Nachts ein dramatisches Ereignis in Minnesotas Wohnung Lucy Brite in Person auf den Plan ruft – und nun beginnt ein Geheimnis sich zu lüften… Vierzig Jahre später erzählt die gealterte S.H., inzwischen eine anerkannte Schriftstellerin und Wissenschaftlerin, was davor und danach geschah: erzählt von Frauensolidarität und Männerwahn, von Liebe und Geschlechterkampf, von Gewalt und Versöhnung. Erzählt aber auch vom Mysterium der Zeit, von Erinnerung und Phantasie, von der Art und Weise, wie alles im Leben zu Geschichten wird, erzählt vom Erzählen. Und das mit einer unbändigen Lust daran, die uns wünschen lässt, das Buch wäre nie zu Ende.
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