Denken Frauen anders? Wenn man es doch nur wüsste! Denn historisch, das steht fest, haben Männer zumindest mehr, wenn nicht: beinahe ausschließlich gedacht, falls man darunter ein öffentliches oder veröffentlichtes Denken versteht. Männer haben Bibliotheken voller philosophischer Grundlagenwerke gefüllt, haben Systeme errichtet, turmhoch für die Ewigkeit, haben die großen Fragen gewälzt, immer wieder die gleichen Begriffsberge hinauf, haben die großen Ideen gepredigt, wenn auch selten mit ebenso großen Folgen. Frauen existieren in der Philosophiegeschichte ebenso wenig als Subjekte des Denkens wie als Objekte: Der Mensch ist, seit Anfang aller Philosophie, ein Mann, wie der monotheistische Gott, sein Ebenbild; und wenn Frauen darüber anders gedacht haben, haben sie es nicht aufgeschrieben.
Ausbildung zum Denken

Sie hatten, das muss man zugeben, auch kaum Chancen das zu tun, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen. Der erste ist zum Gähnen langweilig und zum Abwinken trivial; trotzdem muss es gesagt werden, weil es wahr ist und die Wurzel aller intellektuellen Benachteiligung und Unterdrückung schlechthin: Lesen und Schreiben waren bis vor sehr kurzer Zeit sehr rare Bildungsgüter für Frauen und sind es in Teilen der Welt bis heute. Ohne Lesen und Schreiben jedoch kann Frau denken, wie und was sie will – es wird keinerlei bleibende Spuren hinterlassen, und wir werden niemals wissen, ob Xanthippe vielleicht eine noch ausgeklügeltere geistige Hebammenkunst entwickelt hatte als ihr hakennasiger Gatte, oder ob Descartes‘ Lebenspartnerin dem „cogito ergo sum“ ein energisches „ich gebäre, also bin ich“ entgegen geschleudert hat.
Dazu kommt: Philosophisches Denken ist, wie jeder Leistungssport, anstrengend und will trainiert sein – am besten von früh an, unter fachkundiger Anleitung, mit erprobten Trainingsmethoden, in einer anregenden Umgebung und, wenn es eben geht, mit Aussicht auf eine würdige Belohnung für all die Strapazen. Philosophische Naturtalente sind zwar sicherlich, ebenso wie mathematische Genies, musikalische Wunderkinder oder sportliche Naturbegabungen, vorstellbar – einfach, weil das menschliche Gehirn aufgrund des segensreichen Würfelspiels der Evolution offensichtlich zu jeder noch so bizarren Form von Hochleistung rein zufällig in der Lage sein kann. Sie sind nur etwas schwerer zu finden, da wohl die Weisheiten eines frühkindlichen Hegel eher unter die Kategorie „altkluges Balg“ verbucht worden wären („ist er nicht niedlich? Heute hat er schon wieder vom Weltgeist gebabbelt, ich weiß wirklich nicht, woher er das hat!“). Kleine Mädchen nun gar, die ihre Puppen zum philosophischen Symposion gruppiert hätten anstelle an ihnen neue Frisuren auszuprobieren, wären sicherlich ernsthaft von ihren besorgten Müttern zurechtgewiesen worden („niemand wird die Prinzessin wachküssen, weil sie so klug aussieht!„).
Insofern wird der traditionelle Königsweg zum philosophischen Denken mangels Anerkennung als mentaler geschlechterübergreifender Leistungssport samt entsprechender Förderkultur wohl weiterhin die ganz alltägliche Praxis sein: Üben, üben, üben – an verschiedenen Objekten, mit verschiedenen Sparrings-Partnern, in verschiedenen Techniken. Das ist nicht nur entbehrungsreich – wer denkt, darf nicht spielen, essen, lieben, faulenzen, plappern, ganz zu schweigen von den vielfältigen medialen Unterhaltungs- und Ablenkungstechniken des digitalen Jahrtausends, die dem Denken sicherlich langfristig den Garaus machen werden, falls es nicht endlich Playstation-kompatibel wird. Es ist auch anstrengend, und jede, die sich nach einer gedanklichen Verausgabung heißhungrig auf das nächste Stückchen Schokolade stützt, weiß ein Lied vom Energieverbrauch des Gehirns zu singen.
Während bei Männern aber solche Denkübungen zumindest als Sekundärtugend für den späteren wirtschaftlichen Erfolg akzeptiert und deshalb als Ausbildungsgegenstand praktiziert wurden, auch wenn es gefährlich ist und eigentlich mit einem seitenlangen Nebenwirkungskatalog versehen werden sollte („fragen Sie Ihren Priester oder Arbeitgeber!“), ist die Gefahr für Frauen offensichtlich viel größer. Kluge Frauen werden nicht nur bis heute, wie alle einschlägigen Umfragen zeigen, nicht geheiratet (und wahrscheinlich auch eher selten geliebt); sie werden auch nicht geschätzt, sondern als „Blaustrumpf“ bespöttelt und als unweiblich diffamiert. Besonders kluge Frauen stellen sich deshalb gern besonders dumm – was ihre Attraktivität zwar erhöhen mag, aber nicht hilfreich bei der Suche nach der weiblichen Philosophie ist. Mangelnde Gleichverteilung der Bildungschancen wird somit ergänzt durch mangelnde Einübung der Bildungspraxis: Es denkt sich halt einfach nicht allein und von selbst, und die Belohnungen für einen auch nur zufällig gefassten und geäußerten eigenen Gedanken stellen sich auch nicht automatisch ein: Wer denkt, erntet Widerspruch, je eigener desto mehr, ist man als Faustregel zu sagen versucht.
Aber ist das nicht alles überholt und aus der gender-Mottenkiste hervorgekramt, versehen mit reichlich historischem Feinstaub und den Abnutzungserscheinungen allzu häufig gebrauchter Argumente? Frauen sind heutzutage emanzipiert, überholen die Männer mit inzwischen als erschreckend empfundener Geschwindigkeit in allen Bildungsstufen und -abschlüssen; kein kleines Mädchen muss mehr leiden, weil es lieber Philosophen-Quartett als Puppenküche spielt, und seine Gedanken (oder das, was sie/er dafür hält) darf sowieso jeder öffentlich kundtun (auch wenn „Deutschland sucht den Superdenker“ kaum jemals quotenfähig werden wird). Trotzdem hat frau nicht das Gefühl, dass die Philosophie weiblicher wird, ja noch nicht einmal, dass das Denken weiblicher wird. Frauen, die Erfolg haben wollen in der Philosophie, setzen wie in der Wirtschaft nämlich besser darauf, sich zumindest männlich zu präsentieren, in Kleidung und Habitus ebenso wie in Sozialverhalten und Denkstil. Haben Frauen als Frauen also nichts zu denken bzw. zu sagen? Oder warum tun sie es jetzt nicht endlich?
Ein Lob des denkenden Mannes

Hier ist nun der Platz für ein Zugeständnis an den Mann: Männer sind (und alle Political-Correctness-Junkies mögen weghören, da es nun zur Sache geht und nicht um wohlfeiles Abnicken von gedankenpolizeilich genehmigten Floskeln), bei all ihren Fehlern, häufig hartnäckiger, ausdauernder, zielbewusster – eben auch im Denken, wo es genau darauf leider ab und zu ankommt: einen Gedanken nicht nur zu fassen – das gelingt beinahe jedem oder jeder irgendwann –, sondern ihn am Schopf zu packen, festzuhalten, ihn zu verfolgen, ihn gegen innere Widerstände („bin müde! Habe keine Lust mehr! Muss noch einkaufen!“) durchzuboxen, ihn, und das ist jetzt durchaus so ambivalent gemeint wie es klingt, zu unterwerfen, ihn einzubinden in einen größeren Zusammenhang und ihn bei all dem mit der unverwechselbaren geistigen Duftmarke seines Bezwingers zu versehen. Das tut dem Gedanken vielleicht nicht immer gut, der in diesem kämpferischen Prozess zu einer Härte und Festigkeit geschmiedet wird, die ihn (sagen wir es weiblich-vorsichtig) nicht immer kompatibel zu einer flexiblen, weichen, eher chaotischen denn zweiwertig-logischen strukturierten Lebenswirklichkeit macht. Aber es formt ihn zu etwas, mit dem fortan nicht nur zu denken, sondern zu argumentieren und kämpfen ist. (Männliches) Denken ist Machtausübung in einer sehr konzentrierten Form; und es belohnt sich im Übrigen nicht nur mit dem Gefühl geistiger Überlegenheit, sondern auch mit handgreiflichen Tatsachen in Form von Traktaten, Büchern, wissenschaftlichen Preisen vielleicht gar, und langfristig, für ein paar wenige: Unsterblichkeit.
Für seine Ideen zu kämpfen, galt deshalb seit alters her als Merkmal des wahren Helden des Geistes (auch wenn Philosophen nur sehr selten den sokratischen Beweis antreten mussten, für ihre Ideen auch, lächelnden Angesichtes, sterben zu können); und das, wie gesagt, nicht ganz zu Unrecht. Heldinnen des Geistes jedoch – wären sie wirklich als solche anerkannt worden? Selbst wenn sie es geschafft hätten, ihr Talent zum Denken zu entdecken, es zu trainieren, gefördert zu werden, angeregt zu werden, durch Gespräche, durch Lektüre, durch intellektuelle Herausforderungen, jawohl: auch durch Männer! – es wäre trotzdem ein schwerer und entbehrungsreicher Weg geworden. In Zeiten vor Erfindung einer halbwegs zuverlässig funktionierenden Geburtenkontrolle wären sie philosophisch sozusagen ungefähr gleichzeitig geschlechtsreif geworden wie biologisch; statt eines Traktats hätten sie ein Baby geboren, und dann noch eines, und dann noch eines, und wenn sie nicht bei einer der Geburten oder kurz danach am Kindbettfieber gestorben wären, wäre dies über eine relativ lange Spanne ihrer Lebenszeit hin so weiter gegangen. Und Geburten sowie ihre Folgen haben leider – oder doch: zum Glück? – die Eigenschaft, die geistigen Energien der an ihnen Beteiligten vollständig zu absorbieren; wer angesichts eines schreienden Babys oder eines die ersten Worte stammelnden Kleinkindes noch über die Windungen des Weltgeistes nachdenken kann, der mag zwar ein wahrer Philosoph sein, aber ist leider auch ein ziemlich herzloser.
Weibliche Alltags-Philosophie

Natürlich hätten unsere potentiellen Philosophinnen sich auch den Mühen des institutionalisierten Geschlechtsverkehrs und der biologischen Zwangsreproduktion entziehen können und, eben heldinnenhaft, ein Leben des Geistes wählen – allerdings ohne Aussicht auf finanzielle Versorgung und mit einer herben Einbuße an menschlicher Lebens- und Liebeserfahrung.. Und im Gegensatz zu ihren männlichen Heldenkollegen wären sie nicht dafür gefeiert, sondern als alte Jungfern und Blaustrümpfe verspottet worden. Das ist ein hoher Preis, und er wird bis heute von einigen wenigen bezahlt. Sollte es aber nicht möglich sein, in unseren achso emanzipierten modernen Zeiten, denken zu dürfen ohne das Leben dafür zu vernachlässigen? Wäre das nicht der wahre Beitrag der Frauen zur Philosophie (und selbstverständlich auch derjenigen Männer, die sich dazu berufen und qualifiziert fühlen): zu zeigen, wie das Denken im Leben wurzelt? Nicht irgendwie allgemein oder ontologisch überhöht (das Sein des Seienden), sondern zwischen Windeln, Kartoffelbrei und dem freiwillig gewählten, da man für professionelles Denken nämlich leider Zeit braucht, wie für jede anstrengende Arbeit, Halbtagsjob?
Ein solches Denken existiert im Übrigen tatsächlich; es nennt sich verschämt „Lebens“- oder Popular“-Philosophie und ist das notorisch schwarze Schaf in der weißgespülten akademischen Philosophenherde. Es bekommt deshalb keine Lehrstühle, sondern nur abseitige Nischen im allgemeinen Publikationsbetrieb; es wird nicht zu Philosophentagen und Kongressen eingeladen, sondern allerhöchstens zu Talk-Shows. Es bekommt auch keine historisch-kritische Werkausgabe, wird aber vielleicht gelesen, von beinahe normalen Menschen – solchen nämlich, die sich für Philosophie als Lebenskunst interessieren und nicht für Philosophie als Rentenversicherungspolice. Es ist deshalb wenig attraktiv für den Mann als akademischer Leitwolf – und eine Chance für die Philosophin des Alltags, für die Denkerin zwischen Windeln, Kartoffelbrei und Halbtagsjob.
Denn diese Philosophin des Alltags weiß, im Gegensatz zum über den Dingen stehenden Systemphilosophen und dem ins akademische Zwangsrad eingespannten Dienstphilosophen, dass es im Leben und dem ganzen Rest nur sehr wenige Dinge gibt, die sich einer zweiwertigen Schwarz-Weiß-Logik, einer durchgängig kausalen Argumentationskette oder einem streng definierten Begriffskorsett unterwerfen lassen, und das ohne erhebliche Kollateralschäden an Realitätsnähe und Bezug zur Lebenserfahrung. Sie geht jeden Tag um mit Dingen, die nicht eindeutig sind, die sich verändern, deren Bewertung schwankt wie ihre Erscheinung; sie hat Erfahrungen mit der begrenzten Wirkung von Vernunft-Argumenten auf Lebendiges; sie ist vorsichtig geworden mit Verallgemeinerungen und Generalurteilen. Sie hat es auch, und zwar gar nicht zuletzt, häufig mit Körperlichem zu tun und weiß deshalb, dass man Körper und Geist nur sehr gewaltsam und künstlich voneinander trennen kann. Sie geht nicht mit Gedanken schwanger, sondern mit Embryonen, sie gebiert keine Theorien, sondern lebendige Menschen, sie versorgt nicht einen unersättlichen akademischen Betrieb mit Publikationen, sondern eine Familie mit Essen, Zuwendung und einem Zuhause. Wobei der Punkt nicht ist, dass das nur Frauen können oder gar sollten (von Geburten einmal abgesehen); der Punkt ist, dass sie es historisch getan haben und immer noch mehrheitlich tun, und dass es eine spezifische Lebenserfahrung prägt, die anders ist als die dominant berufliche oder politische oder ökonomische – die aber gerade dort, wo es um Menschlichkeit geht (und worum soll es eigentlich in der Philosophie gehen, wenn nicht darum?), auf keinen Fall abzuwerten oder zu vernachlässigen ist, sondern vielmehr einzubeziehen und zu bedenken.
Unsere weibliche Philosophin des Alltags formuliert deshalb nur sehr vorsichtige Einsichten, mit begrenzter Geltungsbreite und einem historischen Mindesthaltbarkeitsdatum. Und sie tut das in einer Form, die eher den zurückgelegten Denkweg als dessen Ergebnis spiegelt. Denn erzieht man so nicht auch Kinder? Nicht, indem man ihnen Weisheiten von oben herab verkündet, sondern indem man sie mitnimmt auf dem Weg der Erkenntnis, sich an ihrer Auffassungsgabe orientiert und versucht, ihnen die Sache schmackhaft zu machen, wenn es sein muss: in kleinen Portionen und mit handgeschnitzten Gurkengesichtern? Und hält man so nicht seinen Haushalt in Ordnung? Nicht, indem man perfektionistisch poliert von morgens bis in die Nacht und jedem Stäubchen den Krieg erklärt, aber auch nicht, indem man Faulheit und Verwahrlosung als kreatives Chaos verkauft, sondern indem man Routinen entwickelt und erprobt; indem man versucht, neben dem Nützlichen und Notwendigen das Unnütze und Schöne nicht zu vergessen; und indem man sich schließlich moralisch zusammenreißt, wenn es nun einmal sein muss, dass jemand den Müll wegbringt, auch wenn man dafür wieder einmal keinen Orden bekommt.
Geht man so schließlich nicht sogar mit Männern um, diesen seltsamen Wesen, die jeden Tag kämpfen und gewinnen wollen, aber so viel Bestätigung dafür brauchen; die die größten Heldentaten vollbracht haben und die furchtbarsten Verbrechen begangen; die so wenig Halt haben im Leben, dass sie verzweifelt versuchen müssen im Geist Wurzeln zu schlagen; und die schließlich, seit jeher, Frauen genauso in den Himmel gehoben und idealisiert wie unterdrückt und marginalisiert haben? Männer – man versucht sie zu verstehen als Frau, man versucht einigen von ihnen zu gefallen; man geht ihnen auf die Nerven oder aus dem Weg, aber niemals wird es ganz gelingen. Man bekommt Männer ebenso wenig in den Griff wie Gedanken und Ideen; und wenn man es täte, wäre es wie Systemphilosophie: ein Herrschaftssystem, rigide und abgehoben, manipulativ und arrogant, unter Ausschluss all dessen, was den einzelnen Mann/die einzelne Frau/den einzelnen Gedanken lebendig und produktiv macht. Denn darum geht es doch am Ende, unabhängig von gender-Stereotypen und real existierenden Unterschieden: dass man sich im Denken befruchtet – wofür verschiedene Geschlechter, wie auch immer man sie nennt und wer auch immer sich zu welchem für zugehörig erklärt, vielleicht nicht der schlechteste Weg sein könnten: gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit.
Literatur:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Philosophinnen
Ingeborg Gleichauf: Ich will verstehen. Geschichte der Philosophinnen. dtv 2005
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