Eine Lektüre von Moby Dick in Corona-Zeiten
Ist der Leviathan weiblich? Wenn man ein Werk der Weltliteratur lesen will, das wenigstens eine vergleichbare Größendimension hat wie Corona weltweit, dann greife man zu Moby Dick. Ja, das mit dem Wal. Von Hermann Melville, temporärer Waljäger, Weltreisender wider Willen, Strafgefangener, Meuterer und Autor; am Ende seines Lebens war er Zollinspektor und hatte Rheuma, heute liegt er begraben in der Bronx. Moby Dick, sein Welterfolg, war kein Kinderbuch, definitiv. „Was Sie noch nie über Wale wissen wollten“, trifft es eher; aber gut, viele Dinge, über die man noch nie etwas wissen wollte, stellen sich dann als ziemlich wissenswert heraus. Zudem ist es ein Buch ohne Frauen. Außerdem dem Leviathan natürlich. Der Leviathan ist der Wal, den der etwas allzu gebildete Erzähler Ishmael („Call me Ishmael“, einer der genialsten Romananfänge der Weltliteratur) durch die Augen des grusligen Captain Ahab als biblisches Monster sieht, das von ihm, ihm allein zur Strecke gebracht werden muss, whatever it takes! Natürlich gibt es auf dem Schiff keine Frauen. Selbst heute ist es ziemlich schwer vorstellbar, dass ein hochtechnisierter Waljäger (gehetzt von einem shit storm nach dem anderen im großen virtuellen Weltmeer) Frauen an die Harpunen ließe. Auch keine Frauen in der Geschichte und Biologie des Wals, die wir umfangreich dargeboten bekommen im Roman; keine Frauen in der Technik des Harpunen- und Walzahnbein-Schmiedehandwerks; mehrheitlich unbeweibt die Mannschaft, und Ahabs junge Frau bleibt ein so blasser Schemen gegenüber dem allzu weißen Leviathan, dass man eigentlich gar nicht an sie glaubt (an den Leviathan hingegen schon). Na gut, gelegentlich heißt ein anderes Walfänger-Schiff nach einer Frau, die Rachel zum Beispiel, deren Kapitän gerade seine beiden Söhne, die von Papa ordentlich und frühzeitig in das Walfang-Business initiiert werden sollten, an den Leviathan verloren hat (Söhne, keine Töchter natürlich). Anfangs bringt mal eine frömmelnde Tante Bibelwerk oder so etwas Ähnliches auf das Schiff, also: Ahabs Schiff, auf dem unser Erzählfreund und Wal-Kenner Ishmael mitfährt, die Pequod (nein, mir fällt nichts ein zu dem Namen, ein Indianerstamm heißt Pequot, und zu den Indianern kommen wir gleich noch; es ist jedenfalls kein Frauenname, da bin ich mir sicher). Aber ansonsten sind wir unter Männern. Echten Männern, genauer gesagt. Ishmael, nun gut, definitiv zu gebildet, aber ein wenig blässlich sonst; immerhin aber schließt er ganz am Anfang, nachdem er sich fast in die Hosen gemacht hat, weil sie gemeinsam in einem Bett übernachten sollten, Blutsbruderschaft mit dem Kannibalen Quepeeg. Quepeeg ist ein Prachtexemplar von edlem Wilden, von den starken Zehen bis zur volltätowierten Nasenspitze, und ein homerischer Held vom Maße des Herkules an der Harpune. Ishmael dagegen eher: halber Mann, bestehend aus Literaturzitaten und fun facts über Wale, die keiner wissen will. Die anderen Halbwilden an den Harpunen aber, oho! Und der irre Kapitän erst! Dass er mit seinem Wal-Trauma die ganze Mannschaft auf den Meeresgrund zieht, nun gut, das war zu erwarten, das passiert eigentlich immer, wenn ein Mann hinausposaunt: whatever it takes! Es gibt auch keine Psychiater auf dem Schiff, sondern nur zwei ziemlich begabte Steuermänner, Stubbs und Starbuck (nein, kein Kaffee, aber immerhin, die Sterne), die mit ihrer gesammelten Lebensweisheit jeden modernen shrink in seinem gepolsterten Freud-Ohrensessel so alt aussehen lassen würden, wie er niemals werden wird bei seiner sitzenden, meeresfremden Lebensweise. Aber niemand kann Ahab aufhalten. Kein Weib, kein Weiser, noch nicht einmal Fedallah. Fedallah nämlich – ist keine Frau, natürlich nicht, sondern ein Parse und damit der Inbegriff von Rätselhaftigkeit; Angehöriger einer echten ethnischen und religiösen Minorität bis heute und ein Feueranbeter. Wozu er da ist? Bleibt bis zum Ende unklar, er stirbt als erster und wird als Einziger von Ahab betrauert. Ein Menschenopfer, wahrscheinlich. Ach, wer fährt nicht alles mit dem auf dem Schiff, der Pequod, halb um die Welt und über die Linie und bis in den Indischen Ozean, immer auf der Suche nach dem weißen Wal, dem Monster, dem Leviathan, der – sagte ich: Frau? Ein Wal ist doch keine Frau, und ganz bestimmt nicht dieser mit einer boshaften Intelligenz, einer gewissen Heimtücke und, wie soll ich sagen: zutiefst menschlichen Rachsucht (und dem absurd verniedlichenden Namen Moby Dick) ausgestattete Über- und Riesenwal? Wale waren, auch darüber lernen wir mehr, als wir wissen wollen, es ist aber nützlich – Wale waren seit Ende des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert schwimmendes Kapital. Mit den aus ihren dicken Fettschichten gewonnenen Öl wurden die Lampen der sich zivilisierenden Welt geheizt; Ambra, ein Verdauungsrückstand, diente als wohlriechende Basis für viele Parfüme. Wale waren meeresschäumender Kolonialismus; gejagt von alten weißen Männern mit Hilfe roter, schwarzer, brauner Herkulesgestalten an der Harpune und einem schweren Trauma (ist es, wenn man ein Bein verliert, ein wenig wie, fragen wir Freud? nein, kann nicht sein; wozu braucht man schon ein Bein!) und finanziert von der internationalen Finanzmafia des 19. Jahrhunderts, also: im Wesentlichen den zivilisierten Staaten. Keine Frauen, nirgends. Parsen, Haie, Irre, Halbirre. Schiffe und Wellen und Stürme, zwischendurch Flaute. Lange Flaute. Na gut, einmal, in einer sehr ausgebauten Metapher wird der Himmel über dem Meer einer Frau verglichen, das Meer hingegen ist der Mann; ich habe vergessen, warum genau, es hätte auch anders herum sein können. Ein Wilder feiert Auferstehung, indem er einen extra dafür angefertigten Sarg bezieht; ein Küchenjunge fällt aus dem Boot und wird hellsichtig; der Parse guckt undurchschaubar, und Ahab pirscht, das Walbein holpert über die Planken, und pirscht und pirscht und hält immer irrere Selbstgespräche in seinem biblisch eingefärbten Englisch. Ishmael spricht zwei Kapitel lang über die Darstellung des Walfangs in der Malerei, die Bilder der Amerikaner sind immer zu technisch, die Franzosen hingegen haben es raus, kann man im Louvre sehen, ich hab den Namen gegoogelt, stimmt tatsächlich (keine Frauen unter den Walmalern, weder den guten noch den schlechten). Das Gute ist, dass wir nun schon fast fünf Minuten lang nicht an Corona gedacht haben, über das wahrscheinlich niemand einen derart großen Roman schreiben wird, obwohl das Virus eine Frau ist (nee, heißt nur so, schöner Name eigentlich: die Krone. Die Frau ist die Krone der Schöpfung. Das Virus ist die Krone der Schöpfung?). Wale hingegen – nun, auch ziemlich clever immerhin. Tolle Schwimmer, sogar singen können sie. Fernstreisende, ohne Grenzen. Geniale Luftspringer, auch ohne whale watching. Und nicht nur Boote können sie zertrümmern, sondern ganze Schiffe. Den Rest erledigen die Haie, und nur Ishmael überlebt, um die Geschichte zu erzählen (sein red shirt war eine Tarnung). Dass der Leviathan aber eigentlich eine Frau ist – nun endlich, wer bis hierher durchgehalten hat, sei jetzt belohnt: Der markerschütternde Ruf, der über das Schiff hallt, wenn der Ausguck im Mast ganz oben nach langen Monaten (und stattlichen 134 Kapiteln!) den ersehnten, verwünschten, gesuchten, zum Abschuss freigegebenen Wal gesichtet hat – nein, ihn eigentlich noch nicht ganz gesichtet hat; der Ausguck hat nur sein Markenzeichen in der Ferne gesehen, seine Signatur, den ‚Spaut‘, die vom Wal nach dem Tauchen ausgestoßene Atemluft; der markerschütternde Ruf also, den Ahab selbst als Erster ausstößt, als er ihn endlich sieht, das Monster, Moby Dick, seinen Erzfeind, also: dasjenige, was ihn am Leben hält, ihn ans Leben fesselt (denn wenn er ihm vergeben hätte, vergeben könnte, wäre whatever-it-takes-Ahab schon lange tot); dieser Schrei lautet, traditionell und immer schon und bis heute: „There she blows!“ Der Leviathan ist eine Frau.
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