3. Indianer in Westfalen, gesehen von einem ernsthaften Herrn
Aberglauben, Volksbräuche, Spukgeschichten – das alles hat Annette interessiert, sie sammelte westfälische Geschichten wie die Brüder Grimm vermeintliche Volksmärchen, mit ihnen war sie in der Zeit der ‚Tugendprobe‘ gelegentlich zusammengekommen. Eine Zeitlang plante sie gar ein Westfalen-Projekt, von dem nur die Bruchstücke überliefert sind: Die Judenbuche hätte natürlich ein Teil davon sein sollen, ebenso ihr ganz anders erzähltes Fragment Bei uns zu Lande auf dem Lande. In ihm hätte ein Landadliger aus der Lausitz Geschichten von seinen westfälischen Vorfahren ausgebreitet, ein Reigen von Novellen in fröhlich ländlichem Rahmen, wie sie seit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in Mode waren. In den erhaltenen Passagen wird der Erzähler eingeführt als recht launiger Herr, ein wenig umständlich vielleicht, wie schon der Titel mit seiner seltsamen Doppelung, „zu Lande auf dem Lande“ umständlich anmutet – aber das Land ist eben zugleich das, was einen prägt, die Heimat, Westfalen; und es ist der Gegenpol zur Stadt, einem heranwachsenden nimmersatten Monster, von der man schon sieht, dass sie alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird, nicht zuletzt die der Romanschreiber und Literaten. Aber während alle Welt wie gebannt auf die große Stadt und ihre vermeintlichen großen Geschichten schaut, schreiben kleinwüchsige Wüstenblumen (so sah sie sich nämlich, die Geschichte wird noch erzählt) kleine Geschichten von kleinen Leuten – vom Land und mit ganzem Herzen verwurzelt im Land. Gedichte von stillen Weihern, Knaben im Moor, schlafenden Fischern und Fräulein mit fliegenden Locken und einem eiskalten Händchen (die Geschichte kommt auch noch, nur Geduld!). Ja, sie schreiben sogar eine kleine Volks- und Sittengeschichte von Westfalen, die Westfälischen Schilderungen, in der das Münsterland wechselweise eine Wüstenei und eine antike Idylle wird und das Sauerland ein erhabenes Hochgebirge; in denen Hochzeiten auf dem Lande gefeiert werden, mit gelegentlichem Geschlechter-Rollentausch; in dem die Bauernburschen auftreten als jugendliche Indianer, die einen „nachdenklichen Herren“ ein wenig an der Nase herumführen; in denen es eben zugeht wie auf dem Lande bei uns zu Lande, wenn man genau hinschaut und weder schönmalt (eine Idylle! putzige Bauern und rotwangige Landmädel!) noch kritisch verzerrt (kein gesellschaftliches Bewusstsein! Unhinterfragte soziale Hierarchien! Eingefahrene Geschlechterklischees!), sondern eben schildert. Es ist höchst zu bedauern, dass das Westfalen-Projekt eine Ruine geblieben ist. Vielleicht wäre es der Droste ja gelungen, in der Mischung; nein: in der gegenseitigen Beleuchtung von Volkskunde und Literatur, von Erzählen und Schildern, von Kriminalgeschichten und Naturgedichten, Hochzeitsgebräuchen und Wirtschaftsformen etwas zu erschaffen, das – etwas ganz Besonderes gewesen wäre, von dem man nicht einmal den Namen weiß.
Denn die Droste war keine Theoretikerin. Zu ihrem Schreiben und dessen möglichen Zielen, Strategien, Verfahren hat sie sich ganz selten geäußert; und wenn, dann in poetischer Form, nicht in Programmen oder Sendschreiben oder ausgetüftelten Briefen mehr an die Nach- als Mitwelt, wie das männliche Kollegen so oft tun (Kafka aber nicht). Mein Beruf, so heißt eines dieser wenigen Gedichte, und schon in der ersten Strophe scheint eine sehr selbstbewusste, sehr emanzipierte, sehr von sich selbst überzeugte Autorin auftreten: „So hört denn, hört, weil ihr gefragt: / Bei der Geburt bin ich geladen, / Mein Recht soweit der Himmel tagt, / Und meine Macht von Gottes Gnaden“. Man möchte schier ein Ausrufezeichen setzen hinter diesen Satz, es steht aber keines da, es ist nämlich keine Forderung, sondern eine Selbstverständlichkeit: Eine Dichterin wird zu ihrem Beruf von Gott berufen, genauso wie der männliche Kollege und genauso wie der absolutistische Herrscher, der sich so gern auf sein Gottesgnadentum beruft. Der Gott der Droste ist jedoch kein absolutistischer Herrscher von unbegrenzter Macht (vielleicht hat sie auch gelächelt, Mona-Lisa-rätselhaft, als sie diese Zeile schrieb). Aber er fordert absoluten Gehorsam, zudem im Angesicht dunkler Zeiten, wo der „Geist, ein blutlos Meteor“, bedroht ist: „Tritt hervor, / Mann oder Weib, lebend’ge Seele!“ Nun, das lässt sich immer noch hören und rechtfertigt den 20-Euro-Schein. Beim Weiterlesen wird es jedoch immer befremdlicher. Beschworen wird ein Träumer im Opiumrausch, zu dem der Dichter schmettern oder flüstern soll; gemalt wird eine Orgie, die sich gar gegen die eigene Mutter richtet, angesichts derer die Dichterin aufrütteln soll; herbei beschworen eine leidenschaftliche, aber leider gesetzlose Liebesbeziehung, bei der Dichter an das bindende Priesterwort gemahnen soll. Nein, Ausschweifung, Leidenschaft, Rausch allenthalben, Verletzung heiliger Schwüre, frommer Sitten, mütterlicher Liebe, wohin man schaut, Sodom und Gomorrha mitten im schönsten Biedermeier-Westfalen! Nur die Dichterin tritt im Namen Gottes auf, und sie verkündet eine Ethik der Mutterliebe als – nun ja, nicht direkt als mahnender Engel mit dem Flammenschwert, sondern als einfache Blume im Wüstensand der Sahara: „Farblos und Duftes bar, nichts weiß / Sie als den frommen Tau zu hüten“. Das ist ein Bild, bei dem man lachen oder weinen, jubeln oder verzweifeln kann. Es ist, in seiner Kargheit und Entsagung, in seiner entschiedenen Unterbietung aller lyrisch-hochtönenden Erwartung, in seiner Beschränkung auf eine liebevolle, fromme, nicht am Nachruhm interessierte („Vorüber rauscht der stolze Leu, / Allein der Pilger wird sie segnen“) Demut nicht nur die maximale Anti-Klimax zum volltönenden Auftakt der von Gott berufenen Dichterin; es ist ein Gelöbnis, aber das einer weltlichen Nonne. Kein Name, kein Ruhm, kein auftrumpfendes Ich, kein kämpferisches Programm (Relevanz! Kritik! Aufrüttelung!). Nur eine Wüstenblume in moralisch wüsten Zeiten ist die Dichterin. Aber immerhin eine Blume!
Fortsetzung nächste Woche (4): Wüstenblumen und Vampire
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