Am Ende hatte ich den Verdacht, sie sei die einzig wahre Vorgängerin (eine Frau! im 19. Jahrhundert! im idyllischen Biedermeier! aus Westfalen!) von Franz Kafka. Nur scheinbar schaut Annette von Droste-Hülshoff so brav gelockt von deutschen 20-Euro-Scheinen; die Nase ist ein wenig spitz, der Blick ernst, und sie scheint zu sagen: Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen! Lieber wäre mir gewesen, ihr hättet mich ernst genommen. Nein, wir müssen gar nicht weiter darüber diskutieren; ich bin wirklich keine emanzipierte Frau, auch wenn das sozusagen im Kleingedruckten des 20-Euro-Scheines steht: ‚Schaut, wir hatten eine Frau in Deutschland, sie war eine erfolgreiche Autorin, sie schrieb Texte, die bis heute in deutschen Schulen gewesen werden, und war sie nicht vorbildlich emanzipiert?‘ Nein, war sie tatsächlich nicht. Sie war katholisch, adlig, folgsam; sie blieb ihr Leben lang ihrem Glauben treu wie ihrer Kinderamme und ihrer schwierigen Mutter, sie pflegte die diversen familiären Kranken und war eine verlässliche Tante. Wie Franz Kafka hat sie nie geheiratet (es gab da eine hässliche Geschichte, wir müssen noch überlegen, ob wir sie wirklich erzählen). Sie war auch ihrer Heimat treu, nein, nicht nur treu: Sie liebte das nüchterne, bäuerliche und weltferne Westfalen, das Voltaire so herzlos als barbarisches Ende der Welt denunziert hatte im Candide. Ihr Herz hing an den seinen unterschiedlichen Regionen, ihren rauhen Bewohnern, an den Landschaften: der Weite der Heide, der Stille der Seen, vor allem aber den glänzenden Libellen – zierliche Geschöpfe, ganz ungelockt, beinahe durchsichtig, die Flügel jedoch von einem wundersamen Glanz bespiegelt, tanzen sie ihren seltsam ungelenken, eckigen Tanz über den stillen Wasserflächen, lassen sich nicht fangen und halten keinen Moment still. Emanzipiert, weltoffen, kosmopolitisch? Nein, das war nicht die Welt der Droste. Ihr persönlicher Mikrokosmus erstreckte sich zwischen dem verwunschenen Wasserschloss nahe Münster, auf dem sie geboren wurde, der Burg Hülshoff, und dem rauen Schloss über dem Bodensee, der Meersburg. Dort saß sie bei den langen Besuchen bei ihrer Schwester in ihrem Turm, sah auf die Wellen, streifte durch die Weinberge, erwarb sogar ein Gartenhäuschen und starb dort am Ende – zu früh, wie Franz Kafka; lebenslang kränklich, wie Franz Kafka; diszipliniert in ihrem Schreiben, von hohem Anspruch an sich selbst, und eigensinnig gegenüber kritischen wie preisenden Stimmen. Beides gab es unter den Zeitgenossen, die eigene Familie jedoch – blieb stumm oder schaute trocken münsterländisch; wie – ja, genau, wie bei Franz Kafka, nur dass ihr Vater kein Tyrann war, sondern ein sehr lieber, sehr gemütvoller alter Herr (aber was wissen wir eigentlich über Kafkas Vater wirklich, außer dem, was sein frustrierter Sohn und nicht wenig voreingenommener Sohn über ihn gesagt hat?).
1. Prozesse – „laß ruhn den Stein“
Nun ist schon viel Lobendes über Annette von Droste-Hülshoff gesagt worden, und selbst wer die Gedichte nicht gelesen hat, kennt wenigstens die Judenbuche vom Hörensagen, über die schon unendlich viel gesagt worden ist, das meiste davon ist aber – nun, leider ziemlich falsch, ja, genau, wie bei Franz Kafka. Und vielleicht ist es gar kein so großer Zufall, dass es auch in der Judenbuche um einen Prozess geht, nein, nicht nur um einen, um mehrere Prozesse sogar; und dass am Ende des Prozeß wie der Judenbuche sich viele Gefühle bei der Leserin einstellen mögen, nicht jedoch das, es sei irgendeiner Gerechtigkeit genüge getan worden, noch nicht einmal einem formalen Recht. Und man kann sie lesen und wiederlesen und nochmal lesen – was sich ja auch alle Autoren wünschen, denn beim ersten Lesen streift man bekanntlich kaum die erste Hülle eines Textes, sondern flirrt leicht über seine Oberfläche, wie eine beinahe durchsichtige Libelle, und hascht nur hier und da nach einem Sonnenstrahl –, es hilft jedoch nichts. Beim zweiten Lesen findet man nur noch mehr versteckte Andeutungen, unverständliche Verhaltensweisen, seltsame Winke; das Rätsel wird immer größer statt immer kleiner, und soll man jetzt wirklich zum dritten Mal –? Ach, man kann die Judenbuche lesen ohne Ende; und immer noch wird man nicht wissen: Wer den Förster getötet hat und wer den Juden? Ob Friedrich Mergel (kein guter Grund, Mergel, die Droste wusste das als Amateur-Geologin und schrieb ein Gedicht Die Mergelgrube) und Johannes Niemand nun eine Person sind oder zwei (‚Niemand‘ nannte sich Odysseus bei Homer, um den Riesen Polyphem an der Nase herumzuführen, und die Odysseus-Andeutungen treiben durch die Judenbuche wie das Boot des antiken Herumtreibers durch die Ägäis)? Ob Johannes der Sohn von Friedrichs Onkel Simon ist, vielleicht sogar im Inzest mit seiner Schwester Margreth gezeugt, die seltsame nächtliche Verhaltensweisen zeigt, im Garten nach Kräutern gräbt und mit ihnen in der Scheune verschwindet? Ob Simon selbst der Anführer der mysteriösen Blaukittel ist, einer wohlorganisierten Holz-Mafia, die seltsam spurlos verschwinden kann, und man findet nur noch gefällte Bäume? Und schließlich, ob am Ende, und das ist natürlich die größte Unsicherheit, die skandalöse Offenheit, die nicht hinnehmbare Lücke des Textes – ob am Ende Friedrich (oder Johannes?) sich selbst erhängt, an der Judenbuche, und damit dem Fluch der jüdischen Gemeinde erliegt: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast“(die Literatur liebt self fulfilling prophecies, sie nennt sie meist: Schicksal) –- oder ob er ermordet wurde? Denn wie soll der alte und behinderte Johannes/Friedrich nach all den Jahren in der türkischen Sklaverei, in der sein Hals schief geworden ist, wie soll dieser alte Mann, der zurück in seine Heimat Westfalen, gewandert ist vom Bosporus, damit er auf dem heimischen Gottesacker begraben werde, wie soll diese mitleiderregende Gestalt denn auf den Baum gestiegen sein, von dessen Höhe ihre mageren Beine in den geschenkten Schuhen des Barons jetzt hinabbaumeln? Und warum erkennt ihn dieser beim Abschneiden an einer Narbe am Hals – niemals, nein, man liest mühsam noch einmal von vorn, niemals vorher war von einer solchen Narbe die Rede! Aber natürlich erkannte die alte Amme Odysseus bei seiner Heimkehr nach Ithaka an einer Narbe; auf Friedrich/Johannes wartet jedoch keine liebevolle Gattin mit einem nicht enden wollenden gewebten Totentuch, sondern nur das Grab, das ihm dann – und damit vollzieht der Text unauffällig, wie es so seine Art ist, seine letzte Inhumanität – verweigert wird. Auf dem Schindacker wird er verscharrt. Außerhalb des Dorfes. Keiner von uns. Und wenn man dann, verzweifelt, wieder zum Anfang zurückschaut, springt einem das Motto-Gedicht so hart ins Auge, dass man mit Reiben kaum nachkommt; und es muss zur Gänze zitiert werden:
Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, daß ohne Zittern sie den Stein
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurteils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die Waagschal‘, nimmer dir erlaubt!
Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –
2. Jungferntum und Leidenschaft
War Annette von Droste-Hülshoff eine solche Glückliche, „geboren und gehegt im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt“? Wahrscheinlich schon; und hier endet dann auch die verwegene, aber nicht ganz abwegige Parallele zu Franz Kafka (aber hatte nicht auch er eine liebende und solidarische Schwester, immerhin?). Man mag sich die Hand der Kleinwüchsigen gern sehr zart denken; so zart wie die Locken um die Stirn auf dem Porträt auf dem 20-Euro-Schein. Später, als sie schon eine alte Jungfer war, machte sie selbst Scherze über ihren zunehmenden Körperumfang. Ein Foto (ja, es gibt schon ein Foto von ihr!) zeigt eine eher verdrießlich schauende Matrone; aber das ist so ungewöhnlich nicht, in den Zeiten vor dem globalen Selfie-Wahn grinsten die Leute nicht für die Kamera, sondern schauten so, wie es das umständliche Geschäft des Fotografiertwerden erforderte, nämlich: ernst im Anblick der Ewigkeit, die bekanntlich wenig Anlass zum Lächeln bietet. Doch ihre Jugend mag schön, licht, gehegt gewesen sein auf dem alten Wasserschloss, mit den Geschwistern, mit der Bibliothek und dem Park rundherum. Wenn das Mädchen es sich nur nicht in den Kopf gesetzt hätte, Verse machen zu wollen! Immerhin, sie spielte auch recht schön auf dem Klavier und sang dazu, das waren handelbare Eigenschaften auf dem allgegenwärtigen Heiratsmarkt. Und junge Männer kamen, oder man besuchte sie auf anderen Schlösser in der weiteren Verwandtschaft, es ging wahrscheinlich durchaus so zu, wie man sich das im Biedermeier-Ambiente mit klassizistischem Mobiliar vorstellt: leichte Gespräche, fröhliche, nicht zu anspruchsvolle Musik, Lustwandeln im Park, Pfänderspiele, gemeinsame Lektüre, die jungen Studenten erzählen Schwänke aus dem Studentenleben und die jungen adligen Fräuleins vergessen für einen Moment, was ihnen der christliche Anstand gebietet. Dann aber hat einer der Studenten den Scherz zu weit getrieben. Vielleicht hatte die junge Annette allzu leichtherzig geplaudert, eine spitze Zunge soll sie schon immer gehabt haben, dazu all dieser literarische Enthusiasmus, die Neigung zu Schauergeschichten sogar, das war nun nicht recht sittsam-fromm und fräuleinhaft! Aber dass man sie deshalb einer formalen „Treueprobe“, einer inszenierten Verführung aussetzte, um die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu erforschen – nein, das war weder lustig noch anständig, es war einfach durch gar nichts zu rechtfertigen. Traumatisiert blieb sie ihr Leben lang. Die einzige erotisch höchstens libellenhaft aufgeladene Beziehung zu einem Mann wurde später die zu Levin Schücking, dem Sohn der von ihr verehrten Westfalen-Dichterin Katharina Schücking. Er war beinahe jung genug um ihr Sohn zu sein; er war aber ihr „Pferdchen“, mit dem sie eine Phase freundschaftlich-enger Vertrautheit am Bodensee erlebte, ein Jahr Urlaub von ihrem westfälischen Leben sozusagen, auf der Burg der Schwester, und jeden Tag ein Gedicht, so sagte es später der Mythos. Aber es war unvermeidlich, dass das „Pferdchen“ heiratete, eine jüngere Frau natürlich, und das trotz aller Warnungen der mütterlichen Freundin. Danach war es niemals mehr wie zuvor. Nein, Annette blieb die alte Jungfer, als die sie sich längst eingerichtet hatte; und wenn sie Leidenschaften hatte, dann –
Aber hatte sie Leidenschaften? Natürlich hat die Nachwelt sie zu einer leidenschaftlichen Frau gemacht; eine emanzipierte Frau (die sie nicht war und nicht sein wollte), die solch professionelle Texte schrieb (in denen kaum jemals eine weibliche Stimme spricht, sondern eben ein wandernder Landschaftsmaler oder ein nachdenklicher Herr), konnte doch wohl kaum ein katholisches Fräulein gewesen sein ihr Leben lang? Nein, versteckt, verdrängt, kompensiert in ihre Dichtung hat sie es, weil es gar nicht anders sein kann (auch Kafka fiel nicht direkt als leidenschaftlicher Charakter auf, im übrigen; aber bei ihm war das in Ordnung, weil er ja unterdrückt war von seinem Vater und versklavt von seinem Tagesjob als Angestellter in einer Versicherungsanstalt und überhaupt in jeder Hinsicht ein Opfer)! Nun hat Annette von Droste-Hülshoff nicht direkt leidenschaftliche Liebesgedichte geschrieben; was nicht heißt, dass sie gefühllos war (und gelegentlich sollte man das auseinanderhalten, Leidenschaft und Gefühl, und nicht nur im Biedermeier, das sehr viel Gefühl hatte, aber einen deutlichen Sicherheitsabstand zur Leidenschaft einhielt). Keines ihrer Gedichte ist gefühllos, im Gegenteil, alles lebt in ihnen: Die Heimat, Westfalen. Das Moor, die Heide, der Fischer, der Knabe, die Libelle. Aber viele der Gedichte sind unerwartet und untergründig humorvoll (das ist das Biedermeier nämlich auch, gelegentlich sogar selbstironisch)! Da ist der Knabe, der arme, der nachts durch das dunkle, gespenstisch belebte, gluckernde, zischende Moor springt wie ein junges Reh; er sieht Gespenster in jedem Bauch und Strauch, Schreckgestalten der dörflichen Sagen verfolgen ihn; er klammert sich an seiner Fibel, sein Lesebuch (sein Lesebuch? was tut das Kind abends im Moor, und warum hat es sein Lesebuch dabei? – schon wird einem wie in der Judenbuche, Abgründe des Nicht-Verstehens tun sich auf); das arme Kind, das nun endlich die heimatliche Lampe sieht, rennt nicht etwa spornstreichs seiner sich ängstigenden Mutter in die Arme, sondern nein, um schaut er sich, und es heißt, in einem unerwarteten Sprung ins Präteritum, die Zeit des Erzählens von Spukgeschichten und Einbildungen: „Ja, im Geröhre wars fürchterlich, und schaurig in der Heide!“ Man meint zu sehen, wie sich das lyrische Ich den Schweiß von der Stirn wischt und dem Knaben zuzwinkert: Wieder eine Mutprobe überstanden, war doch gar nicht so schlimm, oder? Morgen ist aber der Schulkamerad dran, gell? (Kafka übrigens fand seine eigenen Texte, gelegentlich, lustig, er konnte herzhaft lachen nach dem Vorlesen).
(Wird fortgesetzt!
nächste Woche: „3. Indianer in Westfalten, beobachtet von einem ernsthaften Herrn“)
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