
Wer war Scheherazade? Eine Gestalt steigt, noch etwas unscharf, vor unserem inneren Auge herauf: Es ist eine Frau, jung und schön, sie trägt exotische Gewänder, die viel Haut zeigen, der Bauch ist frei und reicher Schmuck belädt ihre Stirn, ihre Hände, ihre Füße, ihren Bauch. Es klimpert hell, als sie langsam näherkommt, und sie lächelt – verführerisch? beschwörend? geheimnisvoll? Scheherazade, ihr Name klingt so zauberhaft wie ihr Aussehen, und war sie nicht, hatte sie nicht – genau, Scheherazade: Hatte sie nicht die Geschichten erzählt aus 1001 Nacht, von Sindbad dem Seefahrer, von Ali Baba und den vierzig Räubern und vom Dschinn aus der Flasche? Aber es waren doch 1001 Nacht, es müssen doch viel mehr Geschichten gewesen sein, als die wenigen, an die sich unser unzuverlässiges Gedächtnis aus Kindheitstagen erinnert!
Tatsächlich waren es viel mehr Geschichten, sie reichen sogar mehr als tausendundein Jahre zurück, und vielleicht haben tausendundein Märchenerzähler an ihnen geschrieben. Das weiß man aber nicht (noch nicht einmal Allah weiß es), denn sie haben keinen Autor, sondern nur eine Erzählerin: Es ist die kluge Scheherazade, sie hat um ihr Leben erzählt, und sie hat es gerettet, wie viele andere Leben auch. Scheherazade ist die Erzählerin der 1001 Nächte und die eigentliche Heldin, ihre List kann es mit der des Odysseus aufnehmen, und ihr Geschichtenrepertoire mit Homer. Wer aber war Scheherazade, und wie wurde sie so klug?
1001 Nacht – gezählte Geschichten

Doch bevor wir die viel zu wenig erzählte Geschichte von Scheherazade erzählen, müssen wir die Geschichte von 1001 Nacht erzählen. Sie ist der nötige Rahmen für Scheherazades eigene Geschichte, denn alle guten Geschichten haben einen Rahmen, wie 1001 Nacht – nein, wir verzetteln uns im Wirrwarr der Geschichten, das kommt, wenn man von der Erzählerin von Erzählungen erzählen will! (er-zählen, vielleicht hat es ja einen guten Sinn, dass die Geschichten auch ge-zählt sind?) Anfangs also waren es nur 1000 Nächte. Anfangs, das war im frühen 9. Jahrhundert in Syrien; von dort stammt das früheste erhaltene Manuskript (entdeckt wurde es erst 1948), wir kennen nicht seinen Autor, aber wir wissen, dass es Kitab Hadith Alf Layle hieß, Das Buch von den Märchen aus 1000 Nächten. Die Geschichten darin waren jedoch nicht nur arabischer Herkunft; die ältesten von ihnen stammen aus altindischen Epen, es waren Tierfabeln, und schon hier taucht eine junge weibliche Erzählerin auf. Dazu kamen etwas später persische Geschichten, nun stellt sich auch der Schah ein, der nach einer schlechten Erfahrung mit der Untreue der Frauen jeden Morgen seine Geliebte tötet, bis die eine kommt, die dem Morden ein Ende setzt, allein durch die Kraft ihrer – aber wir greifen voraus; Scheherazade ist noch nicht bereit für uns, sie muss ihre Kinder versorgen, drei Söhne sind es, und vielleicht denkt sie beim Stillen schon an die nächste Geschichte? Wir aber erzählen derweil die Geschichte der Geschichte der 1000 Nächte noch etwas weiter, die immer noch so heißen, auch wenn es noch gar nicht so viele sind. Es werden aber immer mehr, bis schließlich ein jüdischer Buchhändler aus Kairo gar erstmals die 1001 Nächte anpreist; wir sind nun schon im 12. Jahrhundert angekommen.
So wandern die Geschichten von Land zu Land und von Hand zu Hand, sie werden übersetzt, angereichert, verwandelt, vermehren sich wundersam aufs Neue, ja, sie scheinen sich von allein zu schreiben; oder ist es ein Dschinn in einem Tintenfass, der sie schreibt, wenn man sich versehentlich an der Nase kratzt und ein leeres Blatt Papier in der Hand hält? Immer strahlender glänzt ihr Licht im Osten, aus dem das Licht des Tages kommt – und auch Scheherazade wird immer deutlicher sichtbar, sie flicht noch Zöpfe in ihr langes schwarzes Haar, schlingt einen Strang um den anderen, verschlingt sie ineinander, so wie sie ihre Geschichten ineinander verschlungen hat –, und als die Geschichten zu Beginn des 18. Jahrhunderts endlich auch im Westen aufleuchten, verfällt ganz Europa ihrem Zauber. Natürlich hatte man auch eigene Erzählungen vorzuweisen; man hatte Homer, den alten blinden Sänger (aber ganz so sicher war man sich nicht, vielleicht hatten sich diese Geschichten auch von selbst geschrieben?); man hatte die heroischen Liebesgeschichten des Mittelalters mit ihren Rittern und den hohen Damen, aber das war alles – nichts im Vergleich zu diesem neuen Schatz mit seinen Dschinns und Sultanen und Räubern und Kaufleuten und sprechenden Tieren und fliegenden Teppichen! Es war eine Bibel des lebensklugen Erzählens; in ihm konnte man nicht nur Liebesgeschichten finden (einige davon ziemlich explicit)und Märchen, sondern auch Krimis und Horrorgeschichten, sogar Science Fiction war dabei, dazwischen Gedichte, Weisheitslehren, Tierfabeln, Gleichnisse.
Eine Schatztruhe des Erzählens

Aber genauso war es eine Schatzkiste des Erzählens selbst. Es hatte einen Rahmen um die tausend Binnengeschichten; denn alles, was lebt, ist eine Vielfalt und eine Einheit zugleich, eine gestaltete Oberfläche über einem chaotischen Untergrund. Geschichten gebaren Geschichten in Geschichten, erzählt von wechselnden Stimmen und Figuren, manche zuverlässig und treuherzig, manche verschlagen wie die Gestalten, von denen sie erzählten; denn kann man einem Erzähler jemals trauen, oder gar einer Erzählerin: Will sie uns nicht beschwören und verführen? Es erzählte auch nicht brav am Schnürchen der Zeit entlang, sondern kannte schon die Vorausdeutung und den Rückblick und die selbsterfüllende Prophezeiung; denn die Zeit vergeht nicht gleichmäßig beim Erzählen, sie macht große Sprünge und dehnt sich ins Unendliche, und manchmal verschlingt sie sich sogar selbst. Konnte man denn beim Erzählen vielleicht – das Erzählen erfinden, eine Kunst geboren aus der Not, der ultimativen Not – am Leben zu bleiben, indem man den Zuhörer so fesselte, dass er es nicht merkte, dass er vielmehr immer länger gefesselt bleiben wollte, und das Erzählen sollte niemals ein Ende nehmen, im Unterschied zum – Leben? Denn das war Scheherazades kluge Kunst, das war ihre Erfindung: Geschichten so zu erzählen, dass sie niemals aufhörten.
Woher aber nahm sie die Geschichten, tausend an der Zahl (nicht tausendeine)? Wie war sie so klug geworden, aber auch so mutig, dass sie sich darauf einließ, um ihr Leben zu erzählen? Können wir ihre Stimme noch hören, wie klingt sie wohl, wenn sie anhebt in der ersten Nacht und nicht weiß, ob dies ihre letzte Nacht sein wird – nein, Scheherazade lacht nur etwas spöttisch; wir sollen nicht wissen, wie ihre Stimme klingt, denn sie hat tausend Stimmen! Ihre Geschichte aber geht folgendermaßen:
Scheherazade erzählt um ihr Leben

Wir befinden uns am Hof eines persischen Schahs, wann und wo genau, tut nichts zur Sache, auf jeden Fall ist er reich und mächtig ohne Grenzen. Er hat einen geliebten Bruder, der über das Nachbarland herrscht, und eine ebenso geliebte Frau. Als der Schah sich jedoch eines Tages aufmacht, seinen Bruder zu besuchen, fällt ihm unterwegs ein, dass er das kostbare Gastgeschenk zuhause vergessen hat; kurzerhand dreht er um, reitet wieder zurück – und ertappt seine vermeintlich treue Ehegattin, ausgerechnet, in den Armen des schwarzen Kochs! Das wäre ja vielleicht noch zu verkraften gewesen, ein einzelner Akt weibliche Untreue, die beiden Schuldigen werden schnell in „vier Stücke gehauen“ – aber dann macht er, als er bei seinem Bruder angekommen ist, die Entdeckung, dass ihn dessen Frau genauso betrügt! Zwei sind kein Einzelfall mehr, sondern ein Beweis. Und so greift unser Schah zu einer extremen Lösung: Jede Nacht lässt er sich eine andere der Jungfrauen seines Landes schicken, um sie zu ehelichen, und am Morgen – enthauptet er sie. Nur so kann schließlich sichergestellt werden, dass sie ihm wirklich treu bleibt!
Doch irgendwann hat auch das größte und mächtigste Reich keine Jungfrauen mehr. Übrig ist nur noch eine, nein, eigentlich sind zwei übrig, denn sie sind Schwestern: Scheherazade, die Tochter des Veziers (die eigens ausgenommen worden war von der Regelung), und ihre Schwester Dunyazad. Und um dem Töten ein Ende zu machen, bietet Scheherazade an, den Schah in der nächsten Nacht zu ehelichen, auch angesichts der zu erwartenden Folgen. Ihr Vater ist entsetzt, er versucht sie mit allen Mitteln davon abzubringen, er erzählt ihr sogar eine Geschichte vom Ochsen und vom Esel, um sie zu überzeugen. Aber er ist ein schlechter Erzähler, und es ist eine schlechte Geschichte mit einer schlechten Moral, und Scheherazade weiß genau, was sie will – nämlich diese Nacht zum Schah, und sollte es ihre letzte sein! Vorher aber instruiert sie ihre Schwester noch: Komm, sagt sie, um Mitternacht, und bitte, dass ich zur Verkürzung der Stunden bis zum Morgengrauen noch eine Geschichte erzähle, unterhaltsam und erbaulich. Und so geschieht es, und der Schah ist hocherfreut, zum einen bekommt er noch eine Frau, zum anderen mag er wie jeder andere auch Geschichten, unterhaltsam und erbaulich, denn gerade bei Hofe und unter Despoten ist die Langeweile bekanntlich am größten, und der, der alles hat, hat am Ende eben nur noch – Langeweile und einen solch mächtigen Überdruss, dass er nicht einmal mehr durch Enthauptungen zu besiegen sind.
Und so fragt die insinuierte Schwester gehorsam um Mitternacht, erzähl uns doch eine Geschichte, liebe Scheherazade, unterhaltsam und erbaulich, bis der Morgen graut, und so beginnt Scheherazade ihre erste Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte vom Kaufmann und vom Geist. Es ist definitiv eine bessere Geschichte als die ihres Vaters; woher aber hat Scheherazade ihre Geschichte? Sie hat sie gesammelt. Denn es stellt sich heraus, dass Scheherazade nicht nur schön und jung und jungfräulich und ein wenig zu klug für ihr Alter ist sowie witzig und weise, so heißt es im Text, heiter und höflich. Nein, sie ist auch noch außerordentlich belesen, sie hat die Bücher und Annalen und Legenden früherer Könige gelesen und die Geschichten und Beispiele vergangener Menschen; ja man sagte, sie habe tausend Geschichtenbücher gesammelt.Die Werke der Dichter jedoch kannte sie auswendig. Und so erzählt sie die Geschichte vom Kaufmann und vom Geist, die Stunden rinnen dahin, und mittendrin, gerade als der Dschinn das Schwert hebt, um den Kaufmann zu enthaupten – erscheint die Sonne über dem Horizont, und die Fortsetzung muss vertagt werden. Scheherazade aber kündigt an, viele weitere, noch viel wunderbarere Geschichten erzählen zu können, und der Schah – nun, er geht seinen Tagesgeschäften nach, lässt aber zum allgemeinen Erstaunen das tägliche Enthaupten aus und findet sich abends wieder ein bei Scheherazade.
Scheherazade rettet ihre Kinder in der Nacht der Wahrheit
Und so geschieht es nun, tausend Nächte lang, denn so viele Geschichten hat Scheherazade gesammelt. Es sind wahre und wunderbare dabei, fantastische und weise, kurze und lange; sie erfindet den Cliffhanger und die spurenreiche Detektivgeschichte, sie lässt ihre Protagonisten zum Mond reisen und in die Tiefsee abtauchen, zaubert den Ghoul herbei und führt uns ins Hexenhaus – tausend Nächte sind lang, sehr lang, sie sind gerade lang genug um drei Kinder zu bekommen (wie mag sie erzählt haben in der Nacht der Geburt? – ach, wir ungläubigen Realistinnen!). Drei Söhne sind es natürlich, was traurig ist, weil doch die Frauen die besseren Geschichten erzählen, aber besser für den Schah und seinen muslimischen Männlichkeitswahn. Und dann kommt die tausendunderste Nacht, und Scheherazade erzählt nicht mehr, sondern sie bittet: nicht für sich, sondern für ihre Söhne bittet sie, der Schah möge ihr Leben verschonen um ihrer Söhne Willen, der sonst mutterlosen Waisen! Aber der Schah ist schon längst versöhnt, mit dem weiblichen Geschlecht wie mit dem eigenen Schicksal; so viel schlimmere Geschichten hat ihm Scheherazade erzählt, von untreuen Männern und untreuen Frauen, aber er hat eine reine, treue, fromme und keusche Frau gefunden, und in der tausendersten Nacht macht er sie zu seiner einzigen. Deshalb sind es 1001 Nächte: nach tausend Nächten der Geschichten die eine Nacht der Wahrheit.
Damit ist die Geschichte von Scheherazade und dem Schah aber noch nicht zu Ende. Auch der Bruder wird versorgt, mit der Schwester natürlich, und das Volk verköstigt in üppigen Festen und der treue Vezier belohnt, und künftig wird man zusammen leben und vereint herrschen, immer ein Tag im Wechsel (ist das nicht wahrhaft weise?), und des Glückes hat es kein Ende, wohl aber des Erzählens, denn irgendwann kommt der Tod. Damit hat zwar die Geschichte von Scheherazade und dem Schah ein Ende, nicht aber die Geschichte von 1001 Nacht: Denn die Erzählungen werden notiert und weitergegeben, Buch für Buch, und sie lehren die nachfolgenden Herrscher (Männer, natürlich), Weisheit und Gottesfurcht und dass man die Frauen erst ausreden lassen muss, bevor man sie köpft, und wenn es tausend Nächte dauert. Denn in der tausendersten Nacht wird man erkennen, dass man ohne die Frauen ein Schlächter geworden und geblieben wäre, der nichts von der Welt weiß und ihren alten und immer neuen Geschichten, unterhaltsam und erbaulich, sorgsam gesammelt, klug erzählt, wunderbar ausgeschmückt, eine Schatztruhe menschlicher Lebenserfahrung jenseits der Bücher der Wissenschaften und des Glaubens.
Weibliche Welt-Geschichten statt männlicher Weltgeschichte

1001 Nacht ist Weltliteratur, wenn jemals so etwas gab; und was wären wir alle ohne Scheherazade, die die Geschichten schon gesammelt hat, als sie noch nicht wusste, dass sie ihr Leben damit retten würde, in kluger Voraussicht? Die sie im Erzählen geformt hat, mit weiblicher List und weiblichem Zauber; und die nebenbei drei Söhne geboren hat und sie liebte? Männer haben seit jeher die große Weltgeschichte geschrieben und sie schreiben bis heute gern die Meistererzählungen von Krieg, Tod, ewiger Liebe und ewigem Verrat. Aber Scheherazade hat unserer aller Geschichten erzählt: Welt-Geschichten statt Weltgeschichte, und während man aus Letzterer noch nie etwas gelernt hat, könnte man aus ersteren klüger werden, denn sie sind unterhaltsam und erbaulich; besonders aber aus der letzten Nacht, der tausendundersten Nacht, in der das wahre Wunder geschieht und sich ein frauenmordender Despot der höheren Weisheit der Geschichten unterwirft und der Menschheit ein Fest bereitet, statt in einen neuen Krieg zu ziehen. Wo sind die Scheherazaden, wenn man sie wirklich braucht?
Textauszug:
Dann herrschte nach ihnen ein weiser Herrscher, der war gerecht, scharfsinnig und gebildet, und er liebte Erzählungen und Legenden, und besonders die, so berichten von den Taten der Herrscher und Sultane, und er fand im Schatz diese wunderbaren Geschichten und erstaunlichen Erzählungen, die in vorbenannten dreißig Bänden enthalten waren. Er las also von ihnen ein erstes Buch und ein zweites und ein drittes und so weiter bis zum letzten, und jedes Buch erstaunte und entzückte ihn immer mehr als das vorhergehende, bis er zum Ende kam. Dann bewunderte er, was er darin gelesen hatte an Schilderungen und seltenen Zügen und Anekdoten, an lehrreichen Beispielen und Erinnerungen, und er befahl den Leuten, sie abzuschreiben und zu verbreiten über alle Länder und Striche; und also lief ihr Ruhm durch die Welt, und die Menschen nannten sie: Die Fabeln und Wunder der tausend Nächte und der einen Nacht. Das ist alles, was uns überliefert wurde vom Ursprung dieses Buches, und Allah ist allwissend.
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